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Reise zur Sonne

Günese Yolculuk
Spielfilm von Yeşim Ustaoğlu
Türkei, Niederlande, Deutschland 1999, 104 Minuten, Original (türkisch u. kurdisch) mit dt. Untertitel


Inhalt

Der schüchterne Mehmet wird Zeuge, wie fanatisierte Fußballfans einen Autofahrer angreifen, weil er den Sieg der türkischen Nationalmannschaft nicht mit einem Hupkonzert begleitet. Der junge Mann mischt sich ein, bekommt einen Schlag ins Gesicht und flieht mit dem Autofahrer. In einem Versteck können die beiden ihren Verfolgern entkommen. In einer Kneipe lernen sie sich näher kennen: Mehmet ist erst vor ein paar Monaten aus Tire in der Westtürkei in die Großstadt gekommen und verdient seinen Unterhalt mit dem Aufspüren von Lecks in unterirdischen Wasserleitungen. Er ist in Arzu verliebt, die in einer Wäscherei arbeitet. Berzan, der Ältere, lebt schon seit zwei Jahren in Istanbul, nachdem sein Vater bei einer Razzia verhaftet wurde und nicht mehr zurückgekommen ist. In seiner osttürkischen Heimat Zorduc hat er seine Verlobte Sirvan zurücklassen müssen. Der Kurde beteiligt sich an Demonstrationen für seine inhaftierten Landsleute. Das entdeckt sein türkischer Freund zufällig durch eine Fernsehsendung.

Berzan verkauft illegal Musikkassetten auf dem Markt und überlässt Mehmet eine mit kurdischer Musik, die ihm gefallen hat. Das Geschenk und eine Waffe in der zurückgelassenen Tasche eines fremden Fahrgastes werden Mehmet zum Verhängnis, als er nach einem Treffen mit Arzu in der Straßenbahn in eine polizeiliche Fahndung gerät. Nach der Haftentlassung nimmt Berzan den völlig verstörten, nun auch arbeits- und wohnungslosen Freund mit sich, verschafft ihm Arbeit als Wächter und eine Unterkunft. Hier verbringt Arzu mit Mehmet eine gemeinsame Nacht, ehe das diffamierende X den vermeintlichen Kurden wieder vertreibt.

Die politischen Ereignisse eskalieren: Im Gefängnis stirbt der erste Hungerstreikende, und die Polizei schlägt die Demonstrationen mit brutaler Gewalt nieder. Berzan ist eins der Opfer. Als Arzu erreicht hat, dass die jungen Leute den toten Freund mitnehmen dürfen, kommen ihre von der Chefin alarmierten Eltern und holen das Mädchen ab. In einem gestohlenen Lieferwagen begibt sich der junge Mann allein mit dem Sarg auf die weite Fahrt gen Osten.

„Die großstädtische Moderne im ersten und die entvölkerten Landschaften im zweiten Teil des Films spiegeln das Doppelgesicht der Türkei. Die Atmosphäre der Verfolgung gegenüber den Kurden, aber auch die Erfahrung der Freundschaft und der ersten Liebe vermag der Film überzeugend und ohne propagandistische Verkürzungen darzustellen, indem er persönlichen Motiven und individualisierten Figuren Raum lässt. Der Respekt gegenüber dem Toten in der Tradition des Antigone-Stoffes beharrt auf einer der politischen Auseinandersetzung vorgeordneten Moral: Zukunft wird nur dort gewonnen, wo den Opfern des Terrors ihre Würde zurückgegeben wird.“
Film des Monats Juni 1999 der Evangelischen Filmarbeit (Auszug aus der Begründung der Jury)

Zur Gestaltung

Eigentlich hat Yeşim Ustaoğlu mit "Reise zur Sonne" nicht einen, sondern zwei sehr unterschiedliche Filme gedreht. Der erste enthält eine männliche und eine weibliche Entwicklungsgeschichte.

Mit Berzans Tod endet das Protokoll einer Männerfreundschaft, die durch die politischen Umstände nicht die eigentlich angestrebte gegenseitige Offenheit erreicht. Zugleich verschwindet Arzu aus dem Film. Nach der letzten stummen Umarmung der Liebenden ist ihre Beziehung kein Thema mehr (sie wäre auch ohne ständigen politischen Einfluss von der restriktiven Umgebung beargwöhnt worden). Im zweiten "Film" geht es nur noch darum, ob Mehmet sein Ziel Zorduc tatsächlich erreicht. Nach dem Abschied von Berzans Leiche bleibt auch das weitere Schicksal des jungen Mannes ungewiss.

Mit dem vorurteilslos beobachtenden Blick der Dokumentarfilmerin hat die Regisseurin die Geschichte der Freunde und die "love story" in eine sorgfältig arrangierte Milieuschilderung eingebettet. Häufig sind Aufnahmen von Passanten und Zuschauern eingeblendet. Dadurch wirken auch die (Amateur-)Schauspieler wie Protagonisten einer Dokumentation. Sie sprechen nur wenig. Umso mehr verraten ihre Gesten und Bewegungen, etwa Mehmets Apathie und Arzus Entschlossenheit. Die sich anbahnende Nähe freundschaftlicher Beziehungen erfasst Kieslowskis ehemaliger Kameramann Jacek Petricki häufig durch angeschnittene Halbnah- und Großaufnahmen. Treten die Hauptpersonen mit Außenstehenden in Verbindung, geht die Kamera auf Distanz. Das Medium Fernsehen, das vor allem Mehmet fasziniert, erlaubt der Regisseurin überdies, politische Schwarzweiß-Dokumentaraufnahmen dreimal mit Spielfilmszenen zu verknüpfen und zwar so eng, dass nur noch die Farbe die Unterschiede verrät. Die Kenntnis der politischen Situation in der Türkei setzt Yeşim Ustaoğlu dabei weitgehend voraus.

Die Bilder des Filmgeschehens sind anfangs ungewöhnlich schnell geschnitten. Im zweiten Teil ist die Handlung auf wenige Personen beschränkt und der Bildschnitt nicht mehr so hektisch. Das Prinzip, inhaltliche Aussagen auf das Notwendigste zu reduzieren, fordert den Betrachter zum genauen Hinsehen und Hinhören auf. Der Sinn bestimmter Sequenzen ergibt sich oft erst im Nachhinein. Auch die Musik ist sehr sparsam und akzentuierend einsetzt. Türkische und kurdische Lieder sind allerdings für ein deutsches Publikum kaum zu unterscheiden.

Der zweite Teil greift die Eingangssequenz noch einmal auf und macht sie erst hier verständlich: Im Spiegelbild des Tümpels bei Berzans Wohnung ist Mehmet zu sehen, der Sarg und Sargdeckel auf dem Transporter verstaut. Das nun einsetzende Road-Movie vertraut der Atmosphäre ruhiger Totalen. Die postkartenschönen Ansichten des Landes, vorzugsweise im Licht der auf- oder untergehenden Sonne aufgenommen, könnten einem Werbefilm entstammen. Zugleich wird der Betrachter jedoch mit einer Welt konfrontiert, in der Krieg gegen "Terroristen" nicht mehr von der Polizei, sondern von Soldaten und Panzern geführt wird.

Begegnungen beginnen mehrfach mit zwei knappen Fragen: Woher stammst du? Wohin willst du? Die ebenso kargen Antworten deuten Tragödien an, so wenn Mehmet von einer offenbar vertriebenen kurdischen Familie erfährt, dass sie nach Istanbul unterwegs ist mit dem alten Großvater, der kein Wort Türkisch versteht. Andere Episoden sprechen nur durch Bilder, z.B. wenn Mehmet in ein zerschossenes menschenleeres Dorf kommt und nach kurzem Blick in ein Haus gleich wieder die Tür schließt. Etwas im Dämmerlicht kaum Erkennbares hat dort gelegen, wahrscheinlich eine Leiche.

Mit solchen mehr vagen und dennoch unübersehbaren Andeutungen beschreibt Yeşim Ustaoğlu die tatsächliche Situation und kann trotzdem leugnen, sie habe einen politischen Film beabsichtigt. Sie sei "Künstlerin, nicht die richtige Person, um Lösungen anzubieten oder auch nur darüber nachzudenken". Tatsächlich fällt das Wort "Kurde" kein einziges Mal.

Zum Drehbuch wurde sie nach ihren eigenen Worten durch Zeitungsberichte über markierte, niedergebrannte und evakuierte Orte im Südosten der Türkei angeregt. Dazu seien ihre Beobachtungen als Filmemacherin und Architektin in den Slums gekommen. Der Film zeige "Menschen, die in der Fremde ihr Glück suchen". Mehmets Perspektive, aus der die Filmgeschichte erzählt werde, entspreche ihrer eigenen Sicht.

Yeşim Ustaoğlu hat bei der Berlinale 1999 aber auch eingeräumt, dass sie einem ahnungslosen und unzureichend informierten Publikum "die Augen öffnen" wollte. Bei der Verleihung des Berliner Friedensfilmpreises hat die Jury bestätigt, es sei ihr dabei gelungen, "sich den völkerrechtlichen Konflikten in der Türkei zu nähern, ohne ideologisch Stellung zu nehmen".

Zur Diskussion und zum politischen Hintergrund des Films

Zwei Themen springen bei der Betrachtung des Films ins Auge:

  • die Chancen von Solidarität und Freundschaft in einer repressiven Gesellschaft;
  • die Folgen der türkischen Politik für die nationale Identität insbesondere der jungen Generation.

Beide Themen sind nicht losgelöst vom politischen Kontext zu erörtern. Nach den Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich war den Kurden im Vertrag von Sèvres ein eigener Staat in Aussicht gestellt worden. Im Vertrag von Lausanne 1923 wurden diese Versprechungen jedoch revidiert. Beim Versuch, eine einheitliche Nation zu schaffen, wandte sich der Gründer der Republik, Kemal Atatürk, gegen Autonomiebestrebungen seiner kurdischen Mitkämpfer mit dem bis heute wiederholten Satz: "Nur Türken leben im Vaterland Türkei". Kurdisch, eine dem persischen Farsi verwandte Sprache, wurde zuerst als Amtssprache, nach mehreren Aufständen schließlich ganz verboten. Ihr privater Gebrauch wird seit dem Sprachengesetz 1991 nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Folter ist seit 1838 verboten, wird jedoch trotzdem angewandt. Im Kampf gegen die kurdische Widerstandsbewegung PKK hat die türkische Regierung seit Mitte der 80er Jahre über verschiedene Provinzen den Ausnahmezustand verhängt. Mehr als 4000 Dörfer sollen seither zerstört, die Bevölkerung vertrieben worden sein. Die Zahl der Opfer wird mit 30 000 bis 40 000 angegeben. Türkisches Militär und PKK werfen sich gegenseitig "Terrorismus" vor. - Hungerstreiks gab es in den türkischen Gefängnissen vom Sommer 1997 an als Protest gegen die Prozess- und Haftbedingungen.

Solidarität im Umgang mit Freunden, aber auch gegenüber unbekannten Menschen durchzieht den Film wie ein roter Faden. Im Kontrast dazu wirken Menschen, die sich der Hilfsbereitschaft verweigern, weil sie "keinen Ärger haben" wollen, z.B. Mehmets Zimmergefährten und sein erster Arbeitgeber, wie seelische Krüppel. Staatliche Ausgrenzung setzt Solidarität außer Kraft, indem sie Unschuldige stigmatisiert und straffreier anonymer Verfolgung preisgibt. Das rote "X" an den Türen erinnert deutsche Zuschauer an das "J" und den gelben Stern für Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Doch anders als dort ist die Ablehnung hier nicht total: Der ausgestoßene Junge, der nachts frierend in der Gosse hockt, wird noch von einer mitleidigen Hure angesprochen, auch wenn sie vor allem auf sein Fernsehgerät spekuliert. Der vom Hilfesuchenden Bedrängte gar - wie der Leichenwärter und der Portier - lässt sich, wenn auch nicht völlig selbstlos, breitschlagen. In einer Gesellschaft, die ohne gegenseitige Hilfe gar nicht überleben könnte, erscheint Bestechlichkeit in einem anderen Licht.

Spontane Solidarität ist das einzige Band, das selbst ‘Feinde‘ wie Soldaten bzw. Polizisten und Zivilisten noch miteinander verbindet. Sie überbrückt selbst Unterschiede durch Herkunft und Religion. Das gilt auch für Frauen: In der Auseinandersetzung mit verständnislosen Erwachsenen gewinnt die in Deutschland geborene Arzu in ihrer Arbeitskollegin Semra, einer durch ihr Kopftuch als traditionell ausgewiesenen jungen Frau, eine stille treue Helferin.

Als Fundament der Solidarität mit den Lebenden und mit den Toten erweist sich die Religion. Eine wichtige Etappe seiner Reise mit dem Sarg bewältigt Mehmet nur, weil eine alte Frau ihren widerstrebenden Mann an seine Pflicht als Moslem erinnert. Der mitgeführte Sarg verleiht Mehmet einen gewissen Schutz und ein Anrecht auf Hilfe, das auch von der militärischen Obrigkeit respektiert wird. Diese archaische Pietät ist Ausdruck einer um Humanität ringenden Gesellschaft, die die Würde des Einzelnen zumindest im Tod achtet, selbst wenn sein Leben nicht viel gilt.

Der Film "Reise zur Sonne" deckt schließlich das Dilemma eines Staatswesens auf, das über dem unversöhnlichen Kampf gegen politische Gegner die eigene Bevölkerung verliert. Yeşim Ustaoğlu macht am Beispiel eines völlig unbedarften Jungen und eines verliebten Mädchens nachvollziehbar, wie Ungerechtigkeit und Terror Widerstand herausfordern. Der Film rät nicht zum aktiven Kampf - Berzan äußert sich gegenüber einer Sympathisantin pessimistisch: "Sie kriegen uns alle!" Mehmets gewaltloses Handeln (das sich mit dem Wechsel der Haarfarbe unmittelbar nach Berzans Tod ankündigt) ist meilenweit entfernt von dem seines kurdischen Freundes, aber sehr wirksam, weil es nicht zu greifen ist.

In einer Schlüsselszene des Films zerbricht darüber das heiligste Gut der modernen Türkei, die nationale Identität. Eben noch hat sich der junge Mann gegenüber dem als Anhalter mitgenommenen Polizisten als ‘Mehmet Kara aus Tire‘ zu erkennen gegeben. Als er aber nach der nächtlichen Begegnung mit drohend aufgebauten Panzern im Zug weiterfährt, nennt er gegenüber einem Landsmann, einem jungen (und über seinen Einsatz unglücklichen) Wehrpflichtigen, Zorduc seine Heimat. Dabei erwähnt er einen Freund namens Mehmet aus Tire wie ein Relikt aus der Vergangenheit.

Der Filmschluss mag pathetisch erscheinen: Mehmets lächelnd entspanntes Gesicht, mit dem er am Stausee dem unter der Abendsonne versinkenden Sarg nachschaut, steht, aller Ungewissheiten zum Trotz, für das Prinzip Hoffnung. Dass der Filmtitel an das internationale Gewerkschaftslied erinnert, "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!", ist kein Zufall.

Zur Regisseurin

Yeşim Ustaoğlu wurde am 18. November 1960 in Sarikamis in der Osttürkei geboren. Nach ihrem Architekturstudiums und einem Aufbaustudium über Gebäude-Restauration an der Universität Yildiz arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Film- und Kunstmagazine und als Leiterin von Video-Workshops. 1984 stellte sie ihren ersten Kurzfilm "To Catch a Moment" vor. Es folgten "Magnafantagna“ (1987), "Duet" (1990) und "Hotel" (1992). Ihr erster Spielfilm "The Trace" (IZ) wurde 1994 als bester türkischer Film auf dem Internationalen Filmfestival von Istanbul ausgezeichnet. "Reise zur Sonne" (Günese Yolculuk) ist ihr zweiter Spielfilm.

Autorin: Dr. Dorothea Schmitt-Hollstein
April 2000

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