„Viel zu groß, viel zu dünn, viel zu dunkelhäutig!“ – als Mädchen entsprach Bibi Russell ganz und gar nicht dem herrschenden Schönheitsideal in ihrer Heimat Bangladesch. Doch gerade diese Qualitäten sollten ihr zu einer internationalen Karriere verhelfen – als Top-Model auf den Lauf-stegen berühmter westlicher Mode-Designer. Und dies ist nur einer der vielen Widersprüche, mit denen Bibi Russell ihren Lebenslauf beschreibt. Zum Studium nach London gekommen, machte sie schnell Karriere. Doch nach 20 Jahren hatte sie genug davon. Rechtzeitig und aus freien Stücken gelang ihr der Absprung zu einer zweiten und ganz anderen Karriere. Sie kehrt nach Bangladesch zurück und beginnt, eigene Mode-Kollektionen zu entwerfen. Dabei läßt sie sich von Mustern und Künsten ihrer Heimat inspirieren, und sie verwendet ausschließlich Stoffe, die von einheimischen Webern in Handarbeit gefertigt werden. Die Devise von der sich Bibi Russell dabei leiten läßt: „Fashion for development“ - „Mode für Entwicklung“. Denn in Bangladesch, einem Land das für seine kunstvollen und einzigartigen Webereien einst weltberühmt war, lebt heute ein Großteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Und ein Webstuhl kann die Existenz einer ganzen Familie sichern und auch den Kindern den Schulbesuch ermöglichen. Doch Bibi Russell geht es nicht nur um die Schaffung einer materiellen Existenzgrundlage für die Armen, sondern es geht ihr auch um die Rückgewinnung von Selbstvertrauen und die Wiederentdeckung eigener Werte – für jeden Einzelnen, wie für die kollektive Kultur und Tradition des Landes. Mit ihrer Beharrlichkeit ist es Bibi Russell auch gelungen, daß die London Fashion Week erstmals nicht mit einer englischen, sondern mit ihrer neuen Kollektion aus Bangladesch eröffnet hat – genäht auf sechs uralten Singer-Nähmaschinen in Dkaka. Dies bedeutet ihr weit mehr als ein persönlicher Triumph, denn in Bangladesch ließen die englischen Kolonialherren den Webern einst die Finger abhacken, um die Textilproduktion des Landes zu ruinieren. Bibi Russell erinnert an diese Ereignisse, aber sie blickt nicht im Groll zurück. England ist ihr zur zweiten Heimat geworden und hat ihre Mode- und Designer-Karriere erst möglich gemacht. Widersprüche und Gegensätze haben ihr Leben schon früh bestimmt und sie hat gelernt damit umzugehen – mit Reichtum und Armut, Abhängigkeit und Emanzipation, Anfeindung und Freundschaft, Tradition und Innovation, Westen und Osten. Deshalb bewegt sie sich in der Glitzerwelt des Modegeschäfts auch so selbstsicher wie in den Dörfern Bangladeschs, wo sie heute die meiste Zeit verbringt. Sie lebt ein neues, emanzipiertes Frauenbild in einem Land, wo dies keineswegs selbstverständlich ist.
Das Model und die Armen. Bibi Russell - Der Engel von Bangladesh
1999
Regie
Cristina Ferro-Seitz
Altersempfehlung
ab 16 Jahren
Länge
29 Minuten
Format
VHS
Genre
Sprachfassung
OmU