Kurzspielfilm von Aboozar Amini
Afghanistan, Niederlande, Großbritannien 2015, 25 Minuten, OmU
Inhalt
Der etwa neunjährige Ali und sein jüngerer Bruder Mohammad sind mit ihren Eltern als afghanische Flüchtlinge gerade erst in der Türkei angekommen. Kaum der türkischen Sprache mächtig, erlebt Ali seinen ersten Schultag, während sich die Eltern in der angemieteten Wohnung notdürftig einrichten. Wie Alis Onkel plant auch die Familie, später über Bulgarien weiter nach Mitteleuropa zu gelangen. Die beiden Kinder bewundern den Onkel für seinen Mut und stellen sich vor, wie er sich tapfer gegenüber den in Bulgarien lebenden Wölfen verteidigt. Unterdessen erfährt die ganze Familie durch die Fernsehnachrichten, dass eine riesige Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien in Ostanatolien angekommen ist, von denen aber nur wenige in einem Lager leben.
Um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen und etwas Geld für die bevorstehende Weiterreise zu sparen, ziehen die Brüder jeweils nach der Schule und dem Mittagessen gemeinsam los, um sich als Schuhputzer zu betätigen. Mohammad macht die Leute lautstark auf das Serviceangebot aufmerksam, während Ali am Rande eines Straßencafés die Schuhe auf Hochglanz bringt. Eines Tages taucht ein anderer Junge mit einem Schuhputzkasten auf, den Ali mit einer Drohgebärde vorerst vertreiben kann. Doch am nächsten Tag sieht der Vater zufällig, dass der Standplatz seiner Söhne bereits besetzt ist. Ohne zu zögern machen sich die Brüder auf den Weg, um den Eindringlich zu vertreiben. Sie überfallen ihn von hinten, schlagen ihn nieder und zerstören sein Handwerkszeug. Nach dieser Tat haben die beiden Gewissensbisse und schieben sich gegenseitig die Schuld für die angewandte Gewalt zu. Am nächsten Morgen kommt ein neuer Schüler in Alis Klasse. Yassin kommt wie Ali aus einem fremden Land. Ali erkennt in dem syrischen Jungen den vermeintlichen Eindringling wieder, den er mit seinem Bruder zusammengeschlagen hat.
Würdigung und Kritik
Aboozar Amini, der Autor und Regisseur dieses Kurzspielfilms, wurde 1985 in Bamiyan, Afghanistan geboren. Als kleines Kind kam er mit seinen Eltern in die Niederlande. Sein Studium an der Kunstakademie Rietveld beendete er 2010 mit dem Film „KabulTheranKabul“, der in Holland gleich einen Preis gewann. Anschließend begann er ein Magisterstudium in Regie und Ästhetischer Filmsprache an der London Film School, das er 2015 mit „Angelus Novus“ abschloss. Dieser Film hatte seine Premiere auf dem Internationalen Filmfestival in Rotterdam und gewann weltweit mehrere Preise. 2016 drehte er schließlich „Where is Kurdistan?“ In allen seinen Filmen spielen seine afghanischen Wurzeln eine große Rolle. Er ist einer der wenigen Filmemacher, die nach ihrer Ausbildung im Westen nach Afghanistan zurückkehrten, um dort eine junge Generation von Filmschaffenden zu unterstützen. Er lebt daher abwechselnd in Amsterdam und Kabul.
In seinem Kurzspielfilm erzählt Amini auf den ersten Blick eine einfache, chronologisch aufgebaute Geschichte, die allgemein und leicht verständlich ist und nicht vieler Erklärungen bedarf. Wie gut Amini sein Handwerk beherrscht – er nahm auch den Schnitt selbst vor – erkennt man eher intuitiv oder dann bei genauerer Betrachtung. Denn der ersten Interpretationsebene lassen sich noch eine politische, moralische und schließlich auch (geschichts-)philosophische Ebene hinzufügen (siehe Themen). Diese verschiedenen Ebenen sind nicht hierarchisch zu verstehen. Sie sind unmittelbar miteinander verwoben und lassen den Film auf diese Weise immer komplexer erscheinen. Das lässt sich gut mit einem Rhizom vergleichen, einem Wurzelwerk, bei dem alles miteinander in Beziehung steht. Die das Rhizom umschließende Erde entspricht in diesem bildhaften Vergleich der filmischen Umsetzung, also der äußerst gelungenen Wahl der filmischen Mittel von der Kameraführung und der Montage bis zum Ton und der Musik.
Die Eingangssequenz und das Schlussbild stecken den Rahmen ab, in dem sich die ganze Geschichte abspielt. Zu Beginn rennt Ali auf einer belebten Straßen in Zeitlupe auf die Kamera bzw. den Betrachter zu. Er möchte seinem aus dem Off erzählten Albtraum, in dem seine Mutter in einem Tunnel plötzlich verschwunden ist, entkommen. Die Szene vermittelt trotz der traumatischen Erlebnisse auf der Flucht etwas Zuversicht. Das Schlussbild hingegen zeigt die beiden Brüder mitten in der Nacht, die Straße ist menschenleer und sie entfernen sich immer weiter von der Kamera, ohne offenbar ein klares Ziel vor Augen zu haben.
Die Kamera erzählt weitgehend, aber nicht ausschließlich aus der Perspektive der Kinder. Zumindest spielen die Erwachsenen kaum eine Rolle, in der sie als eigenständige Persönlichkeiten mit ihren Motivationen und ihren Gefühlen über ihre reine Funktion hinaus erkennbar wären. Der Lehrer wird seiner Aufgabe als Wissensvermittler gerecht, die Mutter der Brüder ist für den Haushalt zuständig und lediglich der Vater, der zum Gelderwerb offenbar mit einem Handkarren Waren transportiert, greift kurz unmittelbar in das Geschehen ein, als er seine Söhne auffordert, den Platz vor dem Straßencafé zu verteidigen. Je nach Situation nimmt die Kamera unterschiedliche Positionen ein. Mal zeigt sie das Geschehen in starren Einstellungen auf dem Stativ oder in kurzen Zwischenschnitten über den Alltag in der Stadt in fast schon dokumentarischer Weise. Oder sie konzentriert sich ganz auf einige Bilddetails, die stellvertretend für das Ganze stehen und eine weitergehende Bedeutung gewinnen sollen. In anderen Szenen wird die Kamera zur subjektiven Handkamera, die den Protagonisten durch die Straßen folgt, oder sie visualisiert die Gefühlslage der Brüder, insbesondere von Ali zu Beginn des Film und als er neu in die Klasse kommt. Der Originalton ist in dieser Szene zugunsten eines dumpfen Geräuschpegels ausgeblendet und Alis Mitschüler sind teilweise völlig unscharf zu sehen, was Alis Orientierungslosigkeit und seinen Schock unterstreicht. Schließlich übernimmt die Kamera noch eine weitere Perspektive, indem sie das Geschehen mehrfach aus der Vogelperspektive filmt und die Rolle eines „überirdischen“ Beobachters einnimmt. Diesen könnte man ähnlich wie in dem Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders auch als Engel bezeichnen.
Der Bildausschnitt (Cadrage) konzentriert sich immer nur auf das Wesentliche. Geschickt werden manchmal die Protagonisten vor einem symbolkräftigen Bildhintergrund gefilmt. Wie bei jedem gut durchdachten, gefilmten und montierten Film ist jedes Bilddetail, jede Kameraperspektive und jeder Hintergrund, zumal wenn er so unmittelbar und unübersehbar ins Auge fällt, in die Interpretation einer Szene einzubeziehen. Dementsprechend gewinnt auch die Szene einen wichtigen Bedeutungszuwachs, in der die Brüder nach dem tätlichen Übergriff gegen den fremden Jungen nach Hause gehen. Sie laufen an einer stark beschädigten Hauswand vorbei mit zwei glaslosen Fenstern, hinter denen Mauersteine aufgehäuft sind. Diese Einstellung lässt sich als Symbol für Enge und Hoffnungslosigkeit interpretieren, alles erscheint für die Brüder in diesem Moment vergittert und zugemauert. Da die Brüder von links nach rechts, also in die Zukunft gehen – auch dies ein gängiger Topos in der filmsprachlichen Analyse – lässt sich diese Bildaussage auf die unbestimmte Zukunft erweitern, wobei das Ende des Films dies noch einmal unterstreicht. Mohammads Sitzposition vor einer unverputzten Mauerwand eine Filmminute später und das von der Bildmitte an den Rand platzierte Spiel der Brüder mit bräunlich gefärbten Laubresten unterstreichen diese Eindrücke ebenfalls.
Themen und Hintergrundinformationen
a) Die Filmhandlung (Ebene 1)
Diese erste Interpretationsebene ist in sich abgeschlossen und auch für Kinder gut verständlich, die noch nicht über das gesellschaftspolitische Hintergrundwissen für den Film verfügen. Teilweise lässt sich die Geschichte zweier Brüder, die fest zusammenhalten, ihren Beitrag für das Überleben der Familie leisten wollen – selbst wenn sie für das Polieren von einem Paar Schuhe nur eine türkische Lira (ca. 25 Cent) verdienen – und darüber hinaus ihren eigenen Traum von einer sicheren Zukunft verfolgen, auch auf andere Situationen übertragen. Darüber hinaus verfügen heute etliche Kinder bei uns über eigene oder überlieferte Migrationserfahrungen und können sich daher gut in die jungen Protagonisten einfühlen, die ihre Heimat verlassen mussten und sich plötzlich in einer fremden Umgebung und in einer fremden Sprache zurechtfinden müssen. Und auch die Situation, nach einem Umzug der Eltern in eine neue Klasse zu kommen oder vielleicht eine Klasse wiederholen zu müssen, ist alles andere als ein extremer Einzelfall. Der Film hebt sogar bewusst auf solche Erfahrungen ab, indem er den Neuzugang in einer Klasse gleich zwei Mal inszeniert, wobei es sich bei den „Neuen“ jeweils um Kinder aus einem fremden Land handelt. Neben dem empathischen Verständnis für solche Kinder bietet der Film daher auch einen guten Ansatzpunkt, um über die mit Hilfe des Films herstellbare Distanz unvoreingenommen darüber zu diskutieren, wie man solchen Kindern am besten helfen kann, selbst wenn oder gerade weil der Film das in keiner Weise zum Thema macht. Selbstverständlich gehören auch die tätlichen Übergriffe der Brüder gegen Yassin bzw. Konfliktlösungsmodelle mit und ohne Gewalt zu den Themen, die bereits in der Grundschule aufgegriffen werden sollten.
b) Der politische Hintergrund (Ebene 2)
Die politischen Hintergründe und die Einordnung des Films in eine bestimmte historische Situation erschließen sich dagegen nur einem kundigen Zuschauer, zumal sie in Bezug auf die Türkei und Syrien nur vage angedeutet werden. Die Situation in Afghanistan, der Kampf gegen die Taliban und die insgesamt instabile Lage des Staates, die sicher zur Flucht der Familie in die Türkei beigetragen haben, werden sogar komplett ausgeblendet. Sie sind letztlich nicht unabdingbar für ein Grundverständnis des Films, gestatten bei entsprechendem Vorwissen allerdings eine differenziertere Sicht der Dinge.
Logischerweise konnte der 2014 produzierte und Anfang 2015 erstmals öffentlich gezeigte Film die in Richtung Diktatur weisenden Vorgänge in der Türkei und die sich in den Folgemonaten verschärfende Entwicklung im Umgang mit hunderttausenden von Flüchtlingen vor allem aus Syrien allenfalls ahnen. Zu jener Zeit waren die Grenzen nach Europa noch nicht so streng abgeschottet und mit Grenzzäunen versehen wie heute. Vielen Flüchtlingen gelang es damals noch, über die sogenannte Balkanroute nach Mitteleuropa und bis nach Deutschland zu kommen. Ungefährlich war diese Route, die offenbar der Onkel der Brüder mit Hilfe von Schleppern eingeschlagen hat und die nun auch die Familie von Ali und Mohammad plant, zu keiner Zeit, zumal man sich auch damals schon auf Gedeih und Verderb Schleppern und Schleusern anvertrauen musste. Was die Eltern genau vorhaben und welche Kontakte sie knüpfen, erfahren die Kinder nicht, allenfalls hinter verschlossenen Vorhängen wird getuschelt und beraten. Stattdessen gibt der Film ihre naiv-unschuldige Sicht der Dinge wieder, wobei die Brüder fest davon überzeugt sind, dass die größten Gefahren auf dieser Reise nicht von der Polizei, sondern von den Wölfen in Bulgarien ausgehen. Da der Film diesbezüglich keinerlei Hinweise gibt, bleibt es im Bereich der Spekulation, ob die Kinder ihre traumatischen Fluchterfahrungen von Afghanistan bis in die Türkei auf diese Weise zum Ausdruck bringen und auf eine ihnen wenigstens ansatzweise noch „begreifbare“ Gefahr konzentrieren oder ob sie tatsächlich keine Übergriffe seitens der Polizei miterlebt haben.
Damals gehörte die Türkei zu den sich Europa zugehörig fühlenden Ländern, die mit Abstand die meisten Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen Osten und aus Mittelasien sowie aus dem vom Bürgerkrieg geschüttelten Syrien aufgenommen hatten. Dieser Umstand wird häufig außer Acht gelassen, wenn es um deutsche Befürchtungen geht, die Türkei beziehungsweise der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan könne das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union kündigen und damit erneut einen unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen aus dem Interimsaufenthaltsland Türkei provozieren. In der Schulstunde im Film bringt der Lehrer seinen Schülern in der Grundschule noch bei, dass die Türkei eine „Brücke zwischen Asien und Europa“ ist. Am Ende bezieht er sich auf den legendären Gründer des türkischen Staates Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk (Vater der Türken), der für einen modernen säkularen Staat eintrat, eine Errungenschaft, die durch die jetzigen Machthaber wieder rückgängig gemacht werden soll.
Mit der namentlich genannten Wahl des Handlungsortes im Film, der im Prinzip auch an anderen Orten in der Türkei oder gar in einem anderen Anrainerstaat spielen könnte, deutet der Film ein weiteres gesellschaftspolitisches Thema an, das zwar nie unmittelbar zur Sprache kommt, aber bei der 4. Ebene unter Einbeziehung des Filmtitels an Bedeutung gewinnt. Der Film spielt in der ostanatolischen Stadt Batman in der Südost-Türkei nördlich des Flusses Tigris, etwa 100 Kilometer nördlich von Syrien. Es handelt sich hier um das Einzugsgebiet der kurdischen Bevölkerung. Die Kurden wünschen sich schon lange einen eigenen Staat, geraten immer wieder in gewalttätige Konflikte mit der türkischen Regierung und befinden sich auch im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien oft zwischen allen Fronten. Das bedeutet zugleich, dass die Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan in der ihr noch völlig fremden Umgebung plötzlich und ohne eigenes Zutun oder gar Verschulden in innerstaatliche Konflikte – zwischen der türkischen und der kurdischen Bevölkerung – verwickelt ist. Diese gewinnen noch dadurch an Brisanz, indem viele der Flüchtlinge aus Syrien ebenfalls kurdischstämmig sind.
Glossar
Atatürk
Die Türkei ist seit ihrer Gründung im Jahr 1923 als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches laizistisch und kemalistisch ausgerichtet. Die damals von Mustafa Kemal Pascha ausgerufene Republik erlebte unter seiner Führung tiefgreifende Reformen im politischen und gesellschaftlichen Bereich, wobei die Rechtssysteme europäischer Länder als Vorbild dienten. Die Leitlinien seiner Politik sind unter dem Begriff Kemalismus zusammengefasst. Sie ruhen auf sechs Grundpfeilern: „Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Laizismus, also die Trennung zwischen Religion und Staat, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Nationalismus als Wendung gegen ein multiethnisches und religiöses Staatskonzept osmanischen Zuschnitts und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Kemalismus)
Atatürk schaffte das Sultanat, das Kalifat und die Scharia ab, führte u. a. die Koedukation, die Gleichstellung von Mann und Frau und das Frauenwahlrecht ein. Außerdem ließ er das Familiennamensgesetz verabschieden, was ihm den Namen Atatürk (Vater der Türken) einbrachte. Unter dem 12. Präsidenten der Republik, Recep Tayyip Erdoğan, werden schrittweise viele dieser Errungenschaften aufgeweicht oder rückgängig gemacht.
Balkanroute
Der im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Europa 2015 verwendete Begriff bezeichnet Routen zwischen dem Nahen Osten und Europa über den Balkan, die sowohl von Flüchtlingen als auch für den Drogenschmuggel genutzt werden. Unterschieden werden die Westbalkanroute – auch Östliche Mittelmeerroute genannt – über den inneren Balkan von Griechenland über Mazedonien und Serbien sowie die Ostbalkanroute von der Türkei über Bulgarien und Rumänien nach Serbien. Von Serbien aus führte die Route weiter entweder über Kroatien und Slowenien nach Österreich und Italien oder (vor der Grenzschließung) über Ungarn nach Österreich. Zu Beginn der ‚Flüchtlingskrise 2011 wurde die Ostbalkanroute noch bevorzugt. Durch den griechischen Grenzzaun zur Türkei 2012 und den bulgarisch-türkischen Grenzzaun 2014 wurde sie dichtgemacht. (Daher auch die Probleme des Onkels von Ali und Mohammad).
Flüchtlinge in der Türkei
Angesichts der rasanten politischen Entwicklungen ist die Situation der Flüchtlinge in der Türkei, die dort übrigens nur „temporären Schutz“ genießen, nicht mehr als eine Momentaufnahme. Die Diakonie Katastrophenhilfe konstatiert auf ihrer Website: „Durch die anhaltenden Konflikte in Syrien und im Irak sind inzwischen mehr als 2,7 Millionen Menschen in die Türkei geflohen. Damit ist die Türkei das Land, das aktuell die meisten Vertriebenen aus Syrien und dem Irak aufgenommen hat. Vor allem die Flüchtlinge, die mehrheitlich außerhalb der Camps leben, haben einen schweren Alltag und leiden unter Lebensmittelknappheit, Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Hinzu kommen traumatische Erinnerungen an Flucht und Vertreibung, die sie seelisch belasten. (…) So liegt das durchschnittliche Monatseinkommen für eine Familie bei etwa 113 Euro. Demnach lebt die Mehrheit der Flüchtlinge unter der Armutsgrenze. Rund die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder und die meisten von ihnen leiden unter teils schweren Traumata. Diyarbakir und Batman beherbergen im Vergleich zu anderen Städten im Südosten der Türkei die meisten Menschen, die zu einer ethnischen Minderheit gehören.“
http://www.diakonie-katastrophenhilfe.de/hilfe-weltweit/uebersicht-aller-projekte/syrien-irak/syrien-irak/lage-der-fluechtlinge/tuerkei.html
Der dramatische Anstieg der Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren allein für die Türkei ist der Website der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zu entnehmen. Sie zitiert u. a. einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch aus dem Jahr 2015, demzufolge mehr als 400.000 syrische Flüchtlingskinder nicht zur Schule gehen.
„Die ersten syrischen Flüchtlinge trafen im April 2011 in der an Syrien grenzenden Provinz Hatay ein. Bis Ende 2011 wurden in der Türkei 8.000 syrische Flüchtlinge registriert, bis April 2012 waren es rund 25.000 und Ende 2012 lebten 170.912 registrierte syrische Flüchtlinge im Land. 2013 nahm die Fluchtzuwanderung aus Syrien deutlich zu. Die türkischen Behörden registrierten monatlich durchschnittlich 40.000 Neuankömmlinge. Bis Ende 2013 hatten 560.129 syrische Flüchtlinge in der Türkei Schutz gesucht. Infolge der Besatzung zahlreicher Gebiete im Norden Syriens durch die Terrororganisation Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS) nahm die Zahl syrischer Flüchtlinge in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 drastisch zu; die Türkei registrierte monatlich rund 70.000 Neuankömmlinge. Bis Ende 2014 stieg die Zahl registrierter syrischer Flüchtlinge in der Türkei auf 1.552.839. Bis Ende 2015 kletterte sie weiter und erreichte rund 2,7 Millionen.“
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/229963/situation-syrischer-fluechtlinge
Kurdistan
Das historische Siedlungsgebiet des kurdischen Volkes erstreckt sich über vier Staaten in Vorderasien: die Türkei, Irak, Iran und Syrien. Einen eigenen Staat haben die Kurden bisher nicht bekommen, was neben handfesten Wirtschaftsinteressen auch am Widerstand der einzelnen Staaten scheiterte. Beispielsweise liegen die größten Erdölvorkommen Syriens in den kurdisch besiedelten Gebieten im Nordosten. Fast ein Viertel der kurdischen Gebiete in den vier Ländern liegt in der Türkei. Einem Dossier der bpb zufolge hat sich die Lage der Kurden „2015 insgesamt verschlechtert. In der Türkei und im Iran sind die Konflikte erneut eskaliert. Im Irak kam es verstärkt zu internen Streitigkeiten. In Syrien ist die Situation durch das Auftreten weiterer Konfliktparteien noch komplizierter geworden.“ Ausführliche Information unter:
http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54641/kurdenkonflikt
c) Die Frage der Moral (Ebene 3)
Diese Frage stellt sich im Film gleich zweimal und nicht erst mit den Übergriffen der Brüder gegen Yassin. Obwohl selbst gerade erst als Flüchtlinge in die Türkei gekommen, betrachtet sich die Familie oder zumindest das Geschwisterpaar offensichtlich dem Land schon mehr zugehörig als die Neuankömmlinge aus Syrien. Der eigene Platz, und sei er noch so unscheinbar und nichtig, wird um jeden Preis verteidigt. Ähnliches lässt sich bei den diversen Flüchtlingsbewegungen beobachten, wobei die gerade einmal ansatzweise Integrierten sich gegenüber den Neuankömmlingen besonders stark abgrenzen. Sie werden als direkte Konkurrenten in ihrer ohnehin ökonomisch marginalisierten Position wahrgenommen, denn sie sind Konkurrenten um Arbeitsplätze, Wohnungen und vieles mehr. Wie sehr sich der Regisseur solchen Verhaltensweisen bewusst ist, zeigt die Szene, als zuerst der Vater mit den Kindern und später die ganze Familie vor dem Fernseher sitzt, der Nachrichten vom Flüchtlingsstrom aus Syrien zeigt. Die Brüder liegen nahe vor dem Gerät und fertigen die Zeichnung eines Wolfes an. Sie befinden sich völlig in ihrer eigenen Vorstellungswelt, in der sie schon vor der Nachrichtensendung waren und die sie offenbar dauerhaft beschäftigt.
Da ist es kein Wunder, dass die Brüder sich – nicht zuletzt auf Anraten des Vaters – im Recht sehen, ihren Platz vor dem Straßencafé als zuerst Dagewesene zu verteidigen. Sie greifen Yassin unmittelbar aus dem Hinterhalt und ohne Vorwarnung an und zerstören dabei auch seinen Schuhputzkasten, der diesem zur Existenzsicherung dient. Auf die Idee, den fremden Jungen erst einmal zur Rede zu stellen oder ihn wie am Vortag mit einer Drohgebärde zu verjagen, kommen sie nicht. Auch aus ihrer Sicht war das im Nachhinein offenbar ein klarer Regelverstoß. Inwieweit dieser durch ihre Alltagserfahrungen über den Einsatz von Gewalt als vorherrschendes Konfliktlösungsmodell mit verursacht sein könnte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Eindeutig zeigt der Film dagegen, dass sie über ihre Tat erschrocken sind und ein schlechtes Gewissen haben. Gegenseitig geben sie sich die Schuld, nur wegen des Bruders zur Gewalt gegriffen zu haben. Die Begegnung mit Yassin im Klassenzimmer lässt letztlich offen, ob die Erkenntnis der Schuld zu einem neuen Verständnis führt, Ali und Yassin vielleicht sogar Freunde werden, oder schlimmstenfalls eine Spirale der Gewalt in Gang kommt, in der sich beide weiter bekämpfen.
d) Geschichtsphilosophische Betrachtung (Ebene 4)
Spätestens an dieser Stelle muss der lateinische Filmtitel „Angelus Novus“, der akademisch und abstrakt klingt und der einfachen Filmhandlung zu widersprechen scheint, in die Überlegungen zum Film einfließen: In mehr als 80 seiner Werke hat der deutsch-schweizerische Maler und Grafiker Paul Klee (1879-1940) Engelgestalten gemalt. Ein zwei Jahre nach Beendigung des Ersten Weltkriegs 1920 entstandenes Werk nannte er „Angelus Novus“. Er schenkte es seinem Freund, dem deutschen Philosophen Walter Benjamin (1892-1940), der es bei seiner eigenen Emigration immer bei sich trug und der nach einer missglückten Flucht vor den Nazis über die Pyrenäen in aussichtsloser Lage Selbstmord begangen haben soll. Nach langen Umwegen befindet sich die Zeichnung seit 1989 im Israel-Museum in Jerusalem. In den Jahren vor seinem Tod hatte Benjamin seine erst postum veröffentlichten geschichtsphilosophischen Thesen entwickelt, wobei er sich in der neunten These konkret auf die von ihm so hoch geschätzte Zeichnung von Paul Klee stützte. Benjamin sah in dem aquarellierten Kunstwerk den Engel der Geschichte. Dieser blickt auf die Vergangenheit zurück und möchte die Verwüstungen heilen, aber er wird vom Sturm in die Zukunft geweht. Für Benjamin ist die Geschichte eine ewige Wiederkehr von Katastrophen und der Engel vor allem ein Botschafter des Unheils. Gleichwohl steht der Engel auch für den Glauben auf Erlösung, dass es eines Tages vielleicht doch möglich sein könnte, das desaströse Kontinuum der Geschichte zu unterbrechen und aufzulösen.
Walter Benjamins Geschichtsphilosophische These IX
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1974, S. 691 f.
Der Film „Angelus Novus“ bezieht sich unmittelbar auf dieses pessimistisch angehauchte Geschichtsbild von Benjamin. Es geht um die Vergangenheit – Krieg, Flucht und Vertreibung als immer wiederkehrendem Chaos, die Gegenwart als Sturm – die Unsicherheit und der Versuche eines Neuanfang der Familie in wildbewegten Zeiten – und die Zukunft als mögliche Wiederkehr des Gleichen, aber auch mit einem kleinen Funken Hoffnung. Dahingehend lässt sich auch das oben abgebildete Schlussbild des Films interpretieren.
Paul Klee und Walter Benjamin hatten ihre Werke vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geschaffen. Regisseur Aboozar Amini kam mit seiner Familie als Flüchtling in die Niederlande und beobachtet daher die Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten mit einem besonders wachen Auge. Trotz der Wahl seines Filmtitels bedeutet das jedoch nicht, dass er die Ansichten Benjamins vorbehaltslos teilt. Einige bereits genannten Beispiele aus dem Film deuten darauf hin, insbesondere Teile der Bildsprache, die Szene mit den Fernsehnachrichten, der plötzliche Gewaltausbruch der ansonsten sehr liebenswerten und umeinander besorgten Brüder und das offene Ende, in dem sich die Brüder mitten in der Nacht von der Kamera entfernen (siehe auch Kapitel zur filmischen Umsetzung). Stoff für gute (und wichtige) Diskussionen bietet der Film daher auch in dieser Hinsicht.
Didaktische Hinweise
Dieser Kurzspielfilm erhebt nicht den Anspruch, politische und gesellschaftliche Hintergründe bis ins Detail zu liefern. Wie bereits erwähnt, lässt sich mit dem Film bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten mit Kindern arbeiten, die etwa im Alter von Ali sind. Das betrifft insbesondere die Gefühle, fremd in ein neues Land oder auch nur in eine neue Klasse zu kommen und den Umgang mit Gewalt bei auftretenden Konflikten aus dem persönlichen Lebensumfeld. Er kann daher bereits für Kinder ab etwa 10 Jahren empfohlen werden. Hinweise auf den Filmtitel müssen sich dann vorwiegend auf die reine Sachebene beziehen, es sei denn, man arbeitet mit einer – beispielsweise im Internet auf Wikipedia verfügbaren – Kopie der Zeichnung von Paul Klee, wobei die Kinder ihre Eindrücke und Gefühle zum Ausdruck bringen können.
Mit Jugendlichen und vor allem in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen lassen sich die angerissenen Themen ausführlicher und differenzierter besprechen. Hier können die gesellschaftspolitischen Implikationen entweder als bereits bekannt vorausgesetzt werden oder sie sind in relativ knapper Form vermittelbar.
Beim Einsatz und in der Arbeit mit dem Film stehen die folgenden Aspekte und Fragestellungen im Mittelpunkt, die von der Moderation aufgegriffen werden können:
- Sensibilisierung und Empathie für die Situation von Flüchtlingen aus Krisenregionen unter besonderer Berücksichtigung von Fluchterfahrungen und daraus resultierenden Ängsten.
- Suche nach neuen Lebensperspektiven in einem fremden Land speziell aus der Sicht von Kindern mit Migrationserfahrung.
- Integrationsbemühungen des Lehrers vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
- Die Wahrnehmung von und die Reaktion auf „Eindringlinge“ in den eigenen Lebensbereich.
- (Scheinbar) unangemessene Reaktionen und Verhaltensweisen und der Versuch, Konflikte mit Gewalt zu lösen (Woher kommen die Vorbilder?)
- Veränderungen in der Flüchtlingspolitik (insbesondere von Deutschland, Europa und in der Türkei)
- Offener Schluss (Wie geht es insbesondere mit Ali und Yassin weiter?)
- Pessimistische und optimistische Geschichtsauffassungen (Abfolge von Katastrophen oder Weiterentwicklung der Menschheit?)
- Gilt es nach Benjamin nur noch „zu retten, was gescheitert ist“?
Jedes Filmkunstwerk möchte nicht nur als thematischer Aufhänger dienen. Die Dramaturgie, die Umsetzung der Themen und der Geschichte in eine ästhetische Form mit Hilfe der filmsprachlichen Mittel dürfen bei einer Auseinandersetzung mit den Inhalten nicht unter den Tisch fallen. Als Anregung dazu wurde ein Arbeitsblatt entwickelt, das dabei helfen soll, sich auch über die verwendeten Motive, die außergewöhnliche Kameraarbeit und die Cadrage des Films Gedanken zu machen. Manchmal ist es sogar von Vorteil, sich über einzelne Bilder den Themen eines Films zu nähern, da in diesem Fall die Auseinandersetzung mit dem Film nicht ausschließlich auf sprachlicher Ebene erfolgt. Erfahrungen haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche oft erstaunliche Antworten und Bemerkungen zur Machart eines Films finden und den Erwachsenen darin nicht selten deutlich überlegen sind.
Anknüpfungspunkte des Films für den Unterricht bieten sich im Rahmen der Fächer Deutsch, Sach- und Sozialkunde, Geografie, Ethik/Religion. Auch für Geschichte und Philosophie (Walter Benjamin) sowie für Kunst und Medienerziehung (Paul Klee, Filmsprache) ist der Film gut geeignet. In der Erwachsenenbildung werden die Schwerpunkte mehr auf den moralischen Fragestellungen und dem vermittelten Geschichtsbild liegen.
Literatur- und Medienhinweise, Links (Auswahl)
Englischsprachige Website der Produktionsfirma Muyi Film:
http://www.muyifilm.com/?avada_portfolio=angelus-novus
Zu Walter Benjamin und Paul Klees Zeichnung Angelus Novus
Walter Benjamin: Gesammelte Werke, herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991
Johann Konrad Eberlein: Ein verhängnisvoller Engel. Paul Klees Bild ‘Angelus Novus’ und Walter Benjamins Interpretationen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juli 1991
Jonas Engelmann, Thomas Schröder: Vom Ende der Geschichte her – Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen, Ventil Verlag 2017
Ralf Konersmann: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1991
Astrid Nettling: Walter Benjamins Engel der Geschichte. „Ein Sturm weht vom Paradiese her“, Deutschlandfunk vom 10.02.2016 http://www.deutschlandfunk.de/walter-benjamins-engel-der-geschichte-ein-sturm-weht-vom.2540.de.html?dram:article_id=345151
Christian Thomas: Der Engel der Geschichte. Paul Klees „Die Engel“: Der Rundgang durch die Ausstellung im Essener Folkwang Museum ist auch eine kleine Reise durch die Geschichte einer Ikone. Frankfurter Rundschau vom 30.03.2013 http://www.fr.de/kultur/kunst-der-engel-der-geschichte-a-716122
Wikipedia-Eintrag zu Angelus Novus https://de.wikipedia.org/wiki/Angelus_Novus
Ausgewählte Websites zum Thema Migration
Website des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit Sitz in Nürnberg http://www.bamf.de
Website der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex http://frontex.europa.eu/
Website des Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum mit umfangreichen Informationen und Kurzbesprechungen zum Thema Migration im Film http://www.migration-im-film.de
Website der UNO-Flüchtlingshilfe https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html
Filmhinweise:
Die Piroge (La pirogue)
Moussa Touré. Frankreich, Senegal 2012, Spielfilm, 87 Min., OmU
Bezug DVD: EZEF
In Our Country
Louisa Wagener. Deutschland 2016, Kurzspielilm, 30 Min.
Bezug DVD: EZEF
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ – Filme zum Thema Migration
Themen-DVD mit 8 kurzen Spiel- und Dokumentarfilmen verschiedener RegisseurInnen
Produktion: EZEF, Deutschland 2014, Gesamtlaufzeit ca. 180 Min.
Bezug DVD: EZEF
Reise der Hoffnung
Xaver Koller. Schweiz, Türkei 1990, Spielfilm, 100 Min., OmU
Verleih DVD: EZEF
Autor Booklet: Holger Twele
Redaktion: Bernd Wolpert (verantwortlich), Heide Tebbich