Arbeitshilfe

Das koloniale Missverständnis

Le malentendu colonial
Dokumentarfilm von Jean-MarieTeno
Kamerun, Frankreich, Deutschland 2004, 76 Min.

Inhalt
Wuppertal liegt in Afrika! Der Film nimmt die Gedenkveranstaltungen zum Herero-Genozid 1904/ 1907, die 2004 auch von der Vereinigten Evangelischen Mission in Wuppertal durchgeführt wurden, zum Anlass, um die Verknüpfung von Mission und Kolonialismus in Afrika zu beleuchten.
Ausgangspunkt der filmischen Reise mit Stationen in Deutschland, Togo, Kamerun und Namibia ist Wuppertal. Dort wurde 1799 die Rheinische Mission („Elberfelder Mission“) ins Leben gerufen, die 1829 zum ersten Mal Missionare nach Südafrika aussandte. 1830 gründete der Missionar Leipold dort eine Missionsstation unter dem Namen „Wupperthal“. In einem Vortrag im Rahmen der Gedenkveranstaltungen in Wuppertal richtet der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia, Zephania Kameeta, einen Aufruf an die politische Führung Deutschlands, sich der historischen Verantwortung in Bezug auf Kolonisierung und Rassismus durch ein Schuldbekenntnis zu stellen.
Jean-Marie Teno nimmt diese politische Stellungnahme eines afrikanischen Kirchenleiters als Stein des Anstoßes, die Geschichte der Mission in Afrika, ihrer Verwicklung in die koloniale Administration und Mentalität der Zeit und der Auswirkungen auf die Befindlichkeit der lokalen Bevölkerung bis heute nachzugehen. Die Zuschauer werden anhand von Interviews mit Fachleuten, meist Historikern und Missionsarchivare, eingeführt in die zeitgeschichtliche Verortung dieser frühen deutschen Missionsinitiativen. Dabei wird deutlich, dass es sich nicht nur um eine Unternehmung handelte, bei der möglichst viele Afrikaner und Afrikanerinnen zum Christentum bekehrt werden sollten, sondern auch um die Geschichte einer Begegnung der Kulturen, die von Anfang an mit Missverständnissen belastet war.

Die deutschen Missionare waren – ganz zeittypisch – geprägt von der Vorstellung eines „dunklen Kontinents“, der von „Barbarei und Heidentum“ befreit werden müsse. Sie stammten vorwiegend aus pietistischen Kreisen, die von der Naherwartung Christi geprägt waren und vor diesem Hintergrund die Verkündigung des Evangeliums unter den „Heiden“ als Auftrag zur Rettung verlorener Seelen verstanden. In der Befragung von Zeitzeugen und Missionsforschern, beispielsweise des deutschstämmigen Archivars der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia und eines deutschen Pastors, klingt an, dass die Begegnung von Missionaren und indigener Bevölkerung auf der Grundlage einer Mission, die Christentum und europäische Zivilisation als Einheit versteht, nicht zu einer Begegnung auf Augenhöhe führen konnte. Das Bemühen der Missionare die Sprachen der autochthonen Bevölkerung zu lernen und zu erforschen, mit dem Ziel ihre Seele kennen zu lernen, musste, so die retrospektive Einsicht des deutschen Pastors in Namibia heute, scheitern: „Die Türen blieben zu!“
Als weitere Belege für diese gescheiterte Begegnung werden einige Exponate in Museen in Köln und Wuppertal vorgestellt. Darunter Teile eines Herero-Grabmals, die ein Missionar um 1900 nach Deutschland brachte, als vermeintliches Zeichen für den Bruch der Missionierten mit den alten religiösen Traditionen. Welche Aussagekraft kommt dem Dargestellten zu? Was sagen sie über die Beziehungen zwischen Afrikanern und Deutschen aus? Welchen tatsächlichen Austausch gab es zwischen Missionaren und Afrikanern über die Konversion und ihre Bedeutung? Diesen Fragen nachzugehen regt diese Filmpassage an. Jean-Marie Teno deutet in seinem Kommentar an, dass die guten Absichten der Missionare, durch die verheerenden Wirkungen ihrer „zivilisatorischen Mission“ auf die Entfaltung eines eigenständigen, afrikanischen Christentums, verdeckt werden.
Umso eindrücklicher ist die Entdeckung einer indigenen Missionsperiode, die in der Dokumentation am Beispiel Kameruns anschaulich gemacht wird. Der Präses der kamerunischen evangelischen Kirche, Pastor Isaac Kamta, erläutert vor dem Hintergrund seiner Forschungen, warum die einheimische Missionsgeschichte korrigiert werden muss. Als Begründer der protestantischen Mission in Kamerun galt lange Zeit der weiße, englische Missionar Alfred Saker. Kamta trägt vor, dass die Missionsgeschichtsschreibung den eigentlichen Impulsgeber für eine Verwurzelung des Evangeliums vor Ort jedoch verschwieg: den schwarzen Missionar Joseph Merrick – von dem es keine Fotografien gibt –, und dessen Assistent Saker bis 1849 war. Merrick gründete in Bimbia, im Südwesten des Landes, eine Anti-Sklavengesellschaft und förderte die Integration des Christentums in den lokalen Kontext. Nach dem Tod Joseph Merricks wurde Alfred Saker zum Missionar ernannt und fortan wurde der Versuch unternommen, alle Spuren seines Vorgängers zu verwischen. Zur Erinnerung an die erste christliche Mission durch einen Schwarzen in Kamerun hat die Gemeinde von Bimbia eine Kirche zu Ehren Joseph Merricks errichtet, die sie auch als Symbol für die Wiederherstellung der Geschichte versteht.
Nicht zuletzt dokumentiert diese Episode jenseits der historischen Fakten, auch eine inhaltliche Kontroverse zwischen einem integrativen Modell von Mission, das die lokale Kultur respektiert, und einem hierarchischen Modell, oder wie Isaac Kamta es formuliert, zwischen einem „Evangelium der Menschen, die von Gott geliebt werden, und einem Evangelium der Knechtschaft.“

 „Das koloniale Missverständnis“ drückt sich auch in der offenen Legitimierung der Kolonialherrschaft durch Verantwortliche der Rheinischen Mission aus, so zum Beispiel  Friedrich Fabri, der mit seiner Schrift „Bedarf Deutschland der Kolonien?“ ein befürwortendes Kompendium für die kolonialen Absichten Deutschlands verfasst hatte. 
In diesem Spannungsfeld von Mission und Kolonialismus kam den Missionaren, so Jean-Marie Tenos Schlussfolgerung, eine ihnen fest zugeschriebene Rolle zu. Sie waren aus der Sicht der Kolonisatoren für die Ausbeutung der Afrikaner und Afrikanerinnen unentbehrlich, denn durch die „zivilisatorische Mission“ konnte ihre Entwürdigung und Degradierung zu reinen Arbeitskräften zusätzlich begründet werden.
Aber auch im Zusammenhang mit der willkürlichen Teilung des afrikanischen Kontinents auf der Berliner Konferenz der Kolonialmächte 1884/ 1885 erkannten die Administratoren schnell den Nutzen der Missionare, die durch ihre Kenntnisse der lokalen Sprachen helfen konnten, Kontakt zur Einheimischen Bevölkerung aufzubauen. Im Film wird hiermit ein weiteres Kapitel des kolonialen Missverständnisses aufgeschlagen. Der kamerunische Politologe Kumia Ndumbe III interpretiert den Versuch der Europäer, sich Afrika ohne afrikanische Beteiligung untereinander aufzuteilen, als einen kollektiven Angriff Europas auf Afrika mit dem Ziel es zu dominieren. Diesem gemeinschaftlichen Angriff von außen war die afrikanische Bevölkerung nicht gewachsen, da sie den Landerwerb, den die Deutschen und andere Kolonialmächte zur Sicherung von Rohstoffen vorantrieben, nicht als solchen verstanden.

Paulin Oloukpona Yinnon von der Universität in Lomé, Togo, macht deutlich, wie sich die Parteien missverstanden. Während im Europa des 19. Jahrhunderts privater Landbesitz und seine Veräußerung existent waren, kannten afrikanische Völker lediglich einen Klan- oder Familienbesitz, dessen Nutzung über den Klanchef reglementiert war. Das Land gehörte prinzipiell den Ahnen, letztlich Gott, und konnte nicht verkauft werden.  Mit den Schutzverträgen der deutschen Kolonialherren und ihrer Repräsentanten, wie zum Beispiel Gustav Nachtigall, die im Auftrag der deutschen Regierung Land von afrikanischen Klanchefs – teilweise auch ohne deren Genehmigung – in den heutigen Ländern Togo, Kamerun, Namibia und  Tansania „erwarben“, handelte es sich in lokaler Sicht lediglich um einen Verkauf im symbolischen Sinn, der nur die Nutzrechte an dem Territorium beinhaltete.

„Nach der Berliner Konferenz hörte Afrika auf Afrika zu sein!“, beklagt Kange Ewane aus Kamerun die Folgen der aus der Einheit von Missionaren und Kolonisatoren hervorgegangenen „zivilisatorischen Bildung“. Er verweist darauf, dass die Missionare ganz bewusst als Boten der Zivilisation in das koloniale Projekt in Afrika eingebunden worden waren. In dem „Licht der Zivilisation“ und in dem „Licht des Evangeliums“ sieht er, wie sein Kollege Ndumbe, ein und denselben Auftrag, der dazu geführt habe, dass –  und dies ist die eigentliche Tragik der Geschichte – der europäische Zivilisationsbegriff von Afrikanern und Afrikanerinnen, bis heute internalisiert worden sei. Die eigenständige afrikanische Identität sei auf diese Weise als minderwertig zurückgedrängt worden.
Dass die koloniale Eroberung tief greifende innere Krisen und Verletzungen ausgelöst hat, dokumentiert der Film in einer weiteren Episode, die sich mit dem Herero-Krieg in Namibia auseinandersetzt. 1904 organisiert Samuel Maharero den Widerstand der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht, dem ein jahrelanger, blutiger Krieg folgte. Die ambivalente Haltung der Missionare zu dieser kriegerischen Auseinandersetzung wird an dem rheinischen Missionar August Kuhlmann deutlich, der sich zwar um „seine Hereros“ sorgte und ein schnelles Ende des Krieges befürwortete, sich aber doch zur Loyalität gegenüber der Kolonialmacht verpflichtet fühlte.

Von dieser Phase deutscher Kolonialgeschichte gibt es kaum anschauliche Spuren in Deutschland. Eine Ausnahme bildet das Denkmal zur Erinnerung an die getöteten deutschen Kolonialsoldaten in Berlin. Irritierend und entlarvend zugleich ist die Tatsache, dass ein vergleichbares Monument für die Opfer auf Seiten der Herero nicht existiert. Diese Betroffenheit setzt sich fort, wenn man dem Historiker Joachim Zeller zuhört, den Teno zu Wort kommen lässt. Er klärt auf, dass die eigentliche Schlacht mit der militärischen Niederlage der Herero bereits im Jahr 1904 beendet war. Dennoch ging der Krieg weiter. Mit einem Vernichtungsbefehl im Oktober 1904 begann die genozidale Phase, in der bewusst keine Gefangenen gemacht, sondern innerhalb von drei Monaten auf Männer, Frauen und Kinder geschossen werden sollte. Bis zu 10.000 Menschen kamen auf der Flucht in die Wüste ums Leben. Zeitgleich wurden im Verlauf des Krieges so genannte “Konzentrationslager“ errichtet, in der Hereros unabhängig von ihrer Kriegsbeteiligung gefangen genommen und unter unwürdigen Bedingungen zur  Zwangsarbeit angehalten wurden. Als August Kuhlmann die Zustände in den Lagern sah, beendete er seine Zusammenarbeit mit dem verantwortlichen deutschen Gouverneur und verweigerte die Auslieferung von Herero dorthin.
Die zwiespältige Positionierung der Missionare wird noch einmal verdeutlicht an Personen der Zeitgeschichte, wie Paul Rohrbach, der sich gegen den Herero-Krieg aussprach, da es das Leben und die Arbeitskraft der Afrikaner gefährde, die für die kolonialen Zwecke gebraucht werden. Die Missionare spielen dabei eine zentrale Rolle, denn sie sollen ihren Arbeitswillen fördern und religiös begründen. Auch der ehemalige Präses der Rheinischen Mission Heinrich Vedder versorgt die gefangenen Herero zwar im Lager von Swakopmund, unterstützt die Kolonialherrschaft aber als notwendige „Kulturmission“, solange sie menschliche Dimensionen bewahre. Vedder, der dem Nationalsozialismus nahe stand, wurde 1950 als Befürworter der so genannten getrennten Entwicklung des Apartheid-Regimes Senator für Eingeborenenangelegenheiten in Südafrika.

Vor dem Hintergrund dieser Biographie, in der sich missionarischer Auftrag und koloniale Interessen verweben, macht der Film deutlich, dass die Wurzeln des Apartheidsystems in der Kolonialzeit liegen und sich die Geschichte der kolonialen Unterdrückung, Gewalt und Ausgrenzung nach dem Ersten Weltkrieg auch in Namibia weiter fortgesetzt hat. Es wird so auch verständlich, warum viele schwarze Namibianer die Kirche der weißen Missionare verlassen haben. Kolonialismus, Rassismus und Apartheid hatten auch in den Kirchen Einzug gehalten, gegen die sich schwarze Lutheraner in Namibia abgrenzten und so zu einer eigenständigen, befreiungstheologischen Position fanden, in der es keinen Raum für eine Manipulation des Wortes Gottes mehr gab.
Bischof Zephania Kameeta steht für diese neue afrikanische Kirche, die den Anti-Apartheidskampf in Namibia angeführt hat und damit strikt gegen eine koloniale Vereinnahmung des Christentums steht. Jean-Marie Teno weist in diesem Zusammenhang auch auf die Veränderungen in der Struktur der Vereinigten Evangelischen Mission hin, die sich nunmehr als ökumenisches Missionswerk versteht, in dem sich die neuen partnerschaftlichen Beziehungen zwischen ehemaligen Missionaren und Missionierten dokumentieren sollen.

Die Dokumentation greift zum Schluss noch einmal den politischen Aufruf Kameetas auf. Deutschland müsse als Zeichen seiner Reue für das begangene Unrecht der Kolonialzeit am (ökonomischen) Aufbau eines neuen Namibias mitwirken. Er setzt damit auf die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Völkern, die durch erlittenes und erzeugtes Unrecht sowie Unterdrückung getrennt waren.
Nicht alle afrikanischen Intellektuellen teilen diese Versöhnungsbereitschaft. Kange Ewane stellt heraus, dass wirtschaftliche und politische Maßnahmen allein keine Lösung der Probleme des postkolonialen Afrikas bewirken können. „Die Afrikaner leben ohne Seelen“, analysiert er die eigentliche Herausforderung, „das ist das größte Drama Afrikas!“. Aus seiner Sicht ist ein innerer Prozess der Heilung und Aussöhnung mit den Traumata aus Kolonialismus und Rassismus Voraussetzung dafür, dass Afrikaner sich mit Europäern versöhnen können.

Skeptisch beurteilt auch Jean-Marie Teno in seinem Fazit die Wiederherstellung afrikanischer Kulturen und des Rechts auf Eigenständigkeit Afrikas im Zeitalter der Globalisierung. Er hegt den Verdacht, dass Deutschland angesichts seiner heute praktizierten Entwicklungspolitik, die Abhängigkeiten fortschreibt, und sich vermutlich nie von seiner kolonialen Mentalität gelöst habe.
 

Zum historischen Kontext und zur Aktualität des Films
Im Zeitalter der Globalisierung mit Tendenzen zu einer wirtschaftlichen und politischen Vereinheitlichung erscheint eine filmische Auseinandersetzung mit dem Thema des Kolonialismus und der Missionsgeschichte auf den ersten Blick anachronistisch. Seine Aktualität und Brisanz erfährt der Film weniger durch eher traditionelle Stilmittel wie Interview- und Archivsequenzen, als vielmehr durch die kognitive Bearbeitung des Themas.
Kolonialismus und Mission sind historisch nicht ad acta gelegt, sondern prägen bis heute die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Afrikanern und Europäern. Emanzipation, kulturelle Eigenständigkeit, Menschenwürde und politische Autonomie sind die zentralen Problemfelder, die auch gegenwärtig die Diskussionen um eine globalisierte Welt und die mit ihr einhergehenden Gegen- und Verwerfungsprozesse bestimmen. Der Film kann für diese Zusammenhänge als Fallbeispiel gesehen werden.
Die drei Jahrzehnte währende deutsche Kolonialgeschichte in Afrika hatte weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung der Geschichte von vier afrikanischen Ländern (Kamerun, Togo, Tansania und Namibia) und der jeweiligen Prozesse der Nationenbildung in der postkolonialen Ära.

Die deutsche Kolonialpolitik hatte mit der Errichtung von sogenannten „Schutzgebieten“ die Vorstellung suggeriert, dass die afrikanischen Territorien und die dort beheimatete Bevölkerung lediglich vor inneren und äußeren Angriffen beschützt werden sollte. In der Realität dienten die Kolonien als Rohstofflieferanten für Europa, und die lokale Bevölkerung wurde zur Erschließung dieser Produkte benötigt. Zur Errichtung dieses Systems der Ausbeutung war es notwendig, Infrastrukturen und eine Verwaltung anzulegen, die den Transport der Güter und den Einsatz der Arbeitskräfte ermöglichte.
Eine wesentliche Rolle spielten die deutschen Kaufleute, die sich mit ihren Faktoreien an den Küsten – vorwiegend Westafrikas – ansiedelten und für einen regen Handel sorgten, bei dem Branntwein, Waffen, Stoffe und Schmuck gegen die Erzeugnisse der im Landesinneren angelegten Plantagen, wie zum Beispiel Palmöl, Palmkerne, Baumwolle, Mais, Kakao, Kaffee, eingeführt wurden.

Der Kaufmann J.K. Vietor gehörte mit seiner Faktorei zu den einfussreichsten Protagonisten des Kolonialhandels an der westafrikanischen Küste. Zugleich war er mit der Norddeutschen Missionsgesellschaft verbunden, die seit 1847 in dem deutschen Mandatsgebiet Togo Missionsstationen gegründet hatte. Er vertrat eine humane Behandlung der Kolonisierten, allerdings in den festgelegten Parametern der „zivilisatorischen Mission“ und zum Nutzen der deutschen Kolonialmacht: „Man kann die Eingeborenen unserer Schutzgebiete am wirksamsten zur kulturellen Entwickelung (sic) unserer Kolonien heranziehen, wenn man ihnen ihren Grund und Boden und ihre persönliche Freiheit belässt...“ (J.K. Vietor, Negerpolitik. In: Das Reich, Nr. 128, 2.6. 1908). Die enge Kooperation von Kolonialherren, Kaufleuten und Missionaren, die sich in dem Ziel der Zivilisierung der autochthonen Bevölkerung einig waren, war Garant für die wirtschaftliche Ausbeutung der Länder.
In allen deutschen Kolonien in Afrika gab es Widerstände gegen die koloniale Administration, die teilweise durch Einzelne und spontan, teilweise kollektiv organisiert waren.  In Namibia kommt es 1904 zu einer Erhebung der Herero gegen die Deutschen, die in einen Krieg mündete, der sich bis 1908 erstreckte. Obwohl die Herero militärisch bereits im Herbst 1904 besiegt waren, setzten die deutschen Kolonialherren den Krieg fort, der zur Vernichtung des Volkes führen sollte und dessen Gewalt sich in der Ermordung, der Vertreibung und Gefangennahme von tausenden Frauen, Männern und Kindern manifestierte. Mit der Errichtung von Lagern, in denen die Gefangenen zur Arbeit gezwungen waren, wurde ein neues Kapitel in der Kolonialgeschichte eröffnet, das ideologisch – sowohl politisch, als auch religiös – legitimiert wurde mit der Notwendigkeit der Eindämmung von Unruhen zum Schaden der Kolonie.
Nach dem Ersten Weltkrieg geriet die deutsche Kolonie Süd-Westafrika unter südafrikanisches Mandat. Mit diesem administrativen Wechsel nach 1920 war die Geschichte der Unterdrückung der Afrikaner und Afrikanerinnen keineswegs beendet. Die Einführung der Apartheid-Ideologie der „getrennten Entwicklung“ sorgte dafür, dass sich Rassismus, und damit der Ausschluss von politischer und ökonomischer Partizipation fortsetzten.

Die Stärke des Films liegt vor allem darin, dass es ihm gelingt, Tiefenschichten der Begegnung von Angehörigen fremder Kulturen aufzudecken. Die kritischen Fragen zur Verflechtung von Mission und Kolonisation werden zwar historisch reflektiert, beschränken sich aber nicht auf eine geschichtliche Dokumentation vergangener Ereignisse. „Das koloniale Missverständnis“ konfrontiert die Zuschauer mit der Traumatisierung, die durch die Kolonisation, und in ihrem Verbund oftmals die Mission, ausgelöst worden ist. Neben der faktischen Gewalt, die von den Kolonialherren ausgeübt wurde, gehören der Verlust politischer und wirtschaftlicher Autonomie, aber auch die kulturelle Entfremdung und die Internalisierung einer vermeintlichen Minderwertigkeit zu den folgenreichsten Auswirkungen dieser Epoche in Afrika.

Die Aktualität des Films zeigt sich insbesondere angesichts der Diskussion um das Verhältnis der unabhängigen Länder Afrikas zu ihren ehemaligen Kolonialländern. Frankreich hat jüngst eine Debatte über die „positive Rolle der Kolonien“ für das nationale Bewusstsein geführt. Dabei sind sensible Felder der Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialländern berührt worden, die auch manchen gegenwärtigen Problemen zugrunde liegen. So sind die Revolten in den Pariser Banlieues von den Nachkommen der ehemals Kolonisierten aus dem Maghreb ausgegangen, die als französische Staatsbürger ihre diskriminierende soziale Marginalisierung in der Gesellschaft anprangerten. Zu erinnern ist auch an die anciens combattants, afrikanische Soldaten aus den französischen Kolonien, die für den Krieg in Algerien rekrutiert worden waren. Sie kämpften für Frankreich und opferten ihr Leben, aber erhielten  keine staatsbürgerliche Anerkennung.     

In Deutschland gibt es eine sehr zögernde Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit, die in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals verblasst ist oder in verklärenden Reminiszenzen vorkommt. Hin und wieder, wie zum Beispiel bei der Enthüllung eines Denkmals des Kaufmanns Schimmelmann in Hamburg, der auf seinen Ländereien in den Antillen Schwarze ausbeutete, wird das Thema über die Medien einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Es bleibt zu wünschen, dass der Film dazu beiträgt, dass die strukturellen Verbindungslinien zwischen Kolonialismus, Postkolonialismus, kulturelle Entfremdung, Rassismus und Gewalt stärker ins Bewusstsein gehoben werden als bisher. Dies ist umso bedeutender als ähnliche Strukturen in anderen Kontexten, auch außerhalb Afrikas, bis heute nachzuzeichnen sind, in denen die Entwürdigung, die Stigmatisierung von Menschen als minderwertig und die politische Entrechtung zu blutigen Genoziden geführt haben. Daraus ergibt sich für die internationale Gemeinschaft eine bleibende Verantwortung, Bedingungen für eine humanere Gesellschaft zu schaffen.


Mission und Kolonisation in Afrika
Der Film favorisiert eine Lesart der Kolonial- und Missionsgeschichte Afrikas: die der Destruktivität und des bleibenden kulturellen Missverständnisses.
Der imperialistische Zugriff Europas auf den afrikanischen Kontinent hat eine tiefgreifende Krise lokaler Identitäten ausgelöst. Nicht nur das Land und seine Reichtümer, sondern auch die Menschen und ihre Selbstwahrnehmung wurden im Zuge der Kolonisierung erobert. Im Mittelpunkt des kolonialen Interesses stand das ökonomische Interesse der Ausbeutung der Arbeitskraft der lokalen Bevölkerung im Dienst und zum Wohl Deutschlands. Dass die christlichen Missionare Teil des kolonialen Geflechts waren, indem sie einerseits diese Interessen legitimierten, andererseits die Verkündigung des Evangeliums mit einem „zivilisatorischen Auftrag“ verbanden, ist belegt.

Jean-Marie Téno liegt mit seiner Dokumentation, zu Recht, viel an dem Nachweis dieses Zusammenhangs und seiner Auswirkungen, und so kommt eine Differenzierung der teilweise durchaus unterschiedlichen Motive und Anliegen von Kolonisatoren und Missionaren, wie sie etwa Lamin Sanneh formuliert hat, weniger zum Tragen. Sanneh hat überzeugend dargestellt, dass mit dem Christentum nicht nur eine Entfremdung und eine Zerstörung lokaler Kulturen eingesetzt hat, sondern oftmals durch die Verkündigung der Geschichte Jesu ein enormes Emanzipationspotential eröffnet wurde. Besonders auf der individuellen Ebene der religiösen Erfahrung haben viele Afrikaner und Afrikanerinnen in dem Evangelium auch einen Impuls für Freiheitsrechte, Anerkennung eigenständiger Würde unabhängig von einer Gemeinschaftsbindung entdeckt und erfahren. Das Christentum stellte vor allem für aus dem gesellschaftlichen Leben Ausgegrenzte und Stigmatisierte eine hohe Anziehungskraft dar.
Das koloniale Missverständnis ist äußerst komplex. Einerseits hat es zu einer fortgesetzten politischen, ökonomischen, kulturellen und kirchlich-institutionellen Abhängigkeit, andererseits zu einem Emanzipationsschub geführt. Am Fallbeispiel Namibias, den auch der Film beleuchtet, kann dies verdeutlicht werden.

Der Rheinischen Missionsgesellschaft lag während der deutschen Kolonialherrschaft und der anschließenden südafrikanischen Mandatsherrschaft über Namibia viel an einer politischen und religiösen Konsolidierung. Ihr missionarisches Wirken hatte eine doppelte Zielrichtung. Es sollte eine christlich geprägte Bevölkerung – Weiße und Afrikaner – fördern und zugleich das koloniale Verwaltungssystem stützen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Missionare in den Widerstandsbewegungen der Afrikaner seit dem Herero-Aufstand 1904 eine Gefährdung der Einheit von christlichem Glauben und  Kolonialismus sahen. Den Hoffnungen der einheimischen Bevölkerung auf politische und  religiöse Unabhängigkeit maßen sie lediglich eine destruktive Funktion bei, die dem göttlichen Plan der Führung des Landes durch die Weißen widerspräche.

Aber die lokalen Emanzipationsbewegungen ließen sich nicht vollkommen unterdrücken. Sie machten immer wieder, insbesondere nach 1920, deutlich, dass es keinen Widerspruch zwischen christlichem Selbstverständnis und politischem Engagement gibt. Der Widerstand der Herero gegenüber den Missionaren setzte sich fort und mündete in die Entlarvung der missionarischen Vorstellung, die Rolle der Afrikaner als Untergebene fortzuschreiben: „Ihr Lehrer seid Schuld daran, dass wir heute erledigt sind; nicht nur besitzlos habt ihr uns gemacht, sondern auch rechtlos. Für uns ist Gottes Wort ein Unglück gewesen. Früher waren wir die Besitzenden, und heute sind´s die Weißen.“(Archivalie der VEM 1922, zitiert nach: L. Engel, 1977: 133).
Die nunmehr eigenständige Evangelisch-Lutherische Kirche von Namibia steht in einer befreiungstheologischen Tradition, die das Eintreten für politische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als Teil ihres missionarischen Auftrages sieht. Sie hat somit auch einen wichtigen Beitrag zur Nationenbildung nach der Unabhängigkeit des Landes geleistet. Zusätzliche Aktualität erfährt die Korrektur des Missionsverständnisses auch angesichts des bevorstehenden 100-jährigen Jahrestages der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, auf der vornehmlich weiße Repräsentanten westlicher Kirchen an die Missionierung der Welt innerhalb einer Generation dachten

Der Film endet, wo es christentumsgeschichtlich spannend wird, und wirft die Frage auf, wie afrikanische Christen mit dem Erbe der Kolonialisten und Missionare umgehen können, so dass eine neue Gesellschaft und Kirchen entstehen, in der Würde und Respekt der eigenen Kulturen in Verbindung mit der Botschaft des Evangeliums Geltung finden können.

 

Didaktische Hinweise zum Einsatz des Films
Der Film eignet sich für den Einsatz in der Oberstufe allgemeinbildender Schulen, in missions- und ökumenewissenschaftlichen Lehrveranstaltungen, in der Erwachsenenbildung und in Weiterbildungsprogrammen kirchlicher und entwicklungsbezogener Bildungsarbeit.
„Das koloniale Missverständnis“ bietet die Möglichkeit, in erster Linie das Thema der Mission und Kolonisation in historischer wie in gegenwartsbezogener Perspektive visuell anschaulich zu machen. Der Film kann auch für die Bearbeitung weiterer Themenkomplexe wie interkulturelle Kommunikation, Globalisierung und allgemeine Geschichte Afrikas und Europas herangezogen werden. Interessante Einsichten stellt das Medium auch  für die Analyse der Visualisierung des Themas Mission und Kolonialismus selbst bereit,  die zum Beispiel im Zusammenhang einer Einheit über kulturelle Selbst- und Fremdwahrnehmung oder der Missionsfotografie instruktiv sind.

Die DVD-Version enthält als Bonusmaterial 19 Reproduktionen von, auch im Film verwendeten, Fotografien, die einen besonderen Blick auf die „paternalistische Wahrnehmung des Fremden“ im Kontext von Kolonisation und Mission im heutigen Namibia bieten. Zu diesem Themenkomplex der Missionsfotografie haben Christaud Geary und Paul Jenkins zahlreiche Publikationen verfasst (siehe unten: Literaturhinweise), die einsichtig machen, auf welche Weise die Medien „koloniale Missverständnisse“ dokumentiert, produziert und befördert haben.

Jean-Marie Ténos filmische Dokumentation greift verschiedene Stränge im Gesamtzusammenhang des Themas auf, die auf einer reflektorischen Ebene, durch die Kommentare afrikanischer und europäischer Intellektueller und Fachleute gespiegelt werden. Dramaturgisch ist der Film dabei nicht nur visuell und geografisch auf einen Perspektivenwechsel hin angelegt, sondern er vermittelt zugleich auch einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge um koloniale Unterdrückung und Gewalt einerseits, um Ideologisierung des Religiösen und der Nichtachtung lokaler Inkulturationsversuche, nämlich den der Grenzen kulturellen Verstehens.
Für den Einsatz des Films ist daher eine sorgfältige didaktische Planung ratsam, um diese Stränge differenziert zur Geltung zu bringen. Es sollte insbesondere genügend Zeit eingeplant werden, um die Grundlagen der deutschen Missions- und Kolonialgeschichte im zeitgeschichtlichen Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts zu vermitteln (Siehe unten: Literaturhinweise). Dabei wird es darauf ankommen, die wechselseitigen Abhängigkeiten, aber auch die unterschiedlichen Motiv- und Plausibilitätslagen zu verdeutlichen.
Eine mögliche Unterrichtseinheit, in die die Dokumentation einzubetten wäre, könnte folgende Elemente und Phasen umfassen:
I           Kolonialgeschichte Deutschlands in Afrika mit Schwerpunkt Namibia
            A. Die imperialistische Ideologie und die Eroberung fremder Territorien
            B. Die Wahrnehmung des Fremden
            C. Die Besetzung des Landes

II          Missionsgeschichte Afrikas:
            A. Die Entstehung protestantischer Missionsinitiativen Ende des 19.
            Jahrhunderts (Missionsgesellschaften etc.) und ihre Motive
            B. Der lokale Respons auf die Mission
            C. Inkulturation und eigenständige Missions- und Christentumsgeschichte

III         Afrikanische Christentumsgeschichte und Ökumene
            A. Einheimische Kulturen und die Verwurzelung des Evangeliums
            B. Die Stellungnahme der eigenständigen afrikanischen Kirchen zu
            Kolonialismus und Mission
            C. Gewalt, Gewaltüberwindung und Versöhnung als aktuelle ökumenische
            Themen vor dem Hintergrund eines neuen Missions- und
            Kulturenverständisses

Als eigenständige Sequenz könnten die Kolonial- und Missionsfotographien dienen, von denen 19 meist undatierte, vorwiegend historische Aufnahmen als Bonusmaterial auf der DVD zur Verfügung stehen.
IV        Kolonial- und Missionsfotographie
            A. Offizielle Sammlungen:
            Auftragsfotographien zur Darstellung der Kolonial- und Missionsarbeit in
            Publikationen
            Aufnahmen 1-3 (Hererogefangene und Zwangsarbeiter im Dienst der
            Deutschen Kolonisatoren) und  6-10 (Kolonialaufnahmen von Hereros, 9:
            General Lothar von Trotha) sowie
            Aufnahmen 11-12 (Missionsstation Wupperthal; rheinischer Missionar Hugo
            Hahn);  15 (Missionsstation der Rheinischen Missionsgesellschaft
            Wupperthal in Südafrika) und 18-19 (Herero nach dem Gottesdienst;
            Feldherero-Frauen)
            B. Offene Sammlungen:
            Freie Aufnahmen von Missionaren zur Begegnung mit den Fremden
            Aufnahmen 13 (hungernde Herero)  und 16-17 (Chief Samuel Maharero;
            Missionar Bönnighaus bei Sprachforschungen
            C. Die vergessenen interkulturellen Dialoge:
            Missions- und Kolonialberichte im Vergleich mit Fotographien

Der ehemalige Archivar der Basler Mission, Paul Jenkins, hat auf die Bedeutung der Fotographien aus dieser Epoche als „weniger-kontrollierte Quellen“ (less-controlled sources) der historischen Forschung verwiesen, die neuen Einsichten über Kulturbegegnung zwischen Missionaren und Missionierten liefern können. Es geht dabei vor allem um die Wahrnehmung von Perspektiven, in der die Missionare die einheimische Bevölkerung sahen und die Beziehung, in der sie sich selbst zu ihnen sahen.  Wichtige Erkenntnisse darüber, wie Menschen sich dem Christentum näherten, wie es zu Konversionen kam, welche politischen und sozialen Loyalitätskonflikte dies auslöste, oder wie einzelne Missionare zu kulturellen Überläufern wurden, indem sie sich in die lokale Kultur und Sozialorganisation integrierten, können aus diesen Materialien erhoben werden.


Die Filme von Jean-Marie Teno im Kontext einer interkulturellen Diskussion
Der kamerunische Regisseur Jean-Marie Teno emigrierte 1978 nach Frankreich und studierte dort audiovisuelle Kommunikation. Er hat sich seitdem mit einer eigenen Filmproduktions- und Vertriebsfirma in Paris selbstständig gemacht. 1999 hat Jean-Marie Teno zusammen mit anderen Kollegen die Organisation afrikanischer Filmemacher „guilde africaine“ gegründet.

Téno gehört einer Generation von afrikanischen Intellektuellen an, die durch die Erfahrung der eigenen Migration einen neuen Blick auf die Zustände des afrikanischen Kontinents werfen. Diese Auswanderung wird durch das Fehlen von finanziellen Mitteln und Infrastrukturen gefördert und schafft zugleich auch eine neue Sichtweise des Filmautors auf seine Heimat: „Der Status der afrikanischen Filmproduzenten ist äußerst prekär, da man emigrieren muss, um von einem `zu Hause´ sprechen zu können. So als ob man gezwungen sei, sich seiner Wurzeln zu beschneiden, in die Fremde zu gehen, um von seiner Heimat zu sprechen.“ (Aus: Interview von Anthony Dufraisse mit J.-M. Teno am 3.10.2001; Übersetzung aus dem Französischen v.d.Verf.).
Sein vornehmliches Interesse als Dokumentarist gilt dem Postkolonialismus, insbesondere in seinen Auswirkungen für die lokale Bevölkerung, der kulturellen Entfremdung, des Machtmissbrauchs und der Korruption. Er versteht dabei seine Rolle als aufklärender, kritischer und unangepasster Filmemacher, der die Finger in die Wunden eines zugleich hoffnungsvollen und zerissenen Afrikas legt: „Ich habe das Bedürfnis, auch auf Kosten eigener Vorteile, radikale Werke zu zeigen. Ich möchte etwas vortragen, was nicht fremdbestimmt ist.“ (ebd.)
Bereits in seinem international vielfach beachteten und preisgekrönten Film „Afrique, je te plumerai“ - „Die Macht der Wörter“ (1992) legt Teno dar, dass das Hauptproblem Afrikas eine Art „mentale Kolonisierung“ sei. Am Beispiel des Erziehungswesens in Kamerun dokumentiert er, wie die Inhalte und Strukturen des Lernens von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich vorgegeben werden. Durch dieses System wird eine fortgesetzte Abhängigkeit von Europa geschaffen und die eigene Identität, die Geschichte, die Traditionen und Werte geraten zunehmend in den Hintergrund: „Man entledigt Afrika seines Gedächtnisses. Manche Afrikaner wissen nicht mehr, woher sie kommen. (... ) Es gibt großen Handlungsbedarf im Bereich der Bildung, darüber, was wir waren und was wir erlitten haben.“ (ebd.).
In seinem bisher einzigen Spielfilm „Clando“ geht es um die Geschichte eines kamerunischen Computerfachmanns, der aus politischen Gründen verhaftet und gefoltert wird und schließlich nach Europa flieht. In diesem Film gelingt es Teno das Thema einer korrumpierten politischen Elite, die ihre Macht missbraucht, zu veranschaulichen und mit einer persönlichen Geschichte der Migration zu verknüpfen. Der Blick Ténos auf die Zustände im postkolonialen Afrika bleibt kritisch, zugleich aber auch konstruktiv, wenn er seinen Protagonisten Sogbui in sein Land zurückkehren lässt mit der Absicht, die Verhältnisse zu verändern.

Jean-Marie Tenos Filme sind in Afrika verortet, weisen aber weit über diesen Kontext hinaus. Es geht dem Filmemacher stets um einen globalen Zusammenhang der von ihm bearbeiteten Themen von Entwicklung und Moderne. So auch in „Vacances au pays“ - „Ferien in der Heimat“ (2000), in dem er die Fehlentwicklungen in modernen afrikanischen Gesellschaften kritisch dokumentiert. Dabei arbeitet er präzise die Ambivalenzen eines Afrikas heraus, dessen Bevölkerung einerseits auf die eigenen Traditionen stolz ist und mit ihnen in eine wirtschaftlich prosperierende Zukunft gehen möchte, und andererseits die folgenreichen Zerstörungen eines sich Europa an-gleichenden Konsumverhaltens.

Teno liegt viel daran zu zeigen, dass die gegenwärtigen Probleme des Kontinents weit in die (koloniale) Vergangenheit zurückreichen: „Die Debatte über den Neokolonialismus, über den Sklavenhandel, über den Rassismus ist in vollem Gange. Man kann den gegenwärtigen Rassismus nicht bewerten und verstehen, wenn man seine Quellen im Dunkeln lässt, unter denen der Kolonialismus zu nennen ist.“ (ebd.)
Die Bewältigung der eigenen Geschichte gehört für Teno zu den wichtigsten politischen Aufgaben in Afrika auf dem Weg zu einer kulturellen und ökonomischen Autonomie. Er versteht sich in diesem Prozess als ein kritischer Begleiter, der auch in den Traditionen und in aktuellen Gesellschaftsstrukturen Anlass zum Wandel sieht. Seine Dokumentarfilme „Chef“ (1999) und „ La gifle et la caresse“ (1987) belegen dies eindrücklich. Wenngleich er das (europäische) Entwicklungskonzept als illusorisch und als Ausdruck neuer Anhängigkeiten betrachtet, gibt er mit seinem filmischen Oeuvre, nicht zuletzt durch den vorliegenden Film, immer wieder anregende Reflexionen für eine universale Relevanz der Problematik.

 

Literaturhinweise zur Missions- und Kolonialgeschichte

  • Torsten Altena: Das Menschenbild deutscher Missionare im kolonialen Zeitalter am Beispiel Afrikas – eine historische Perspektive. Zeitschrift für Mission, 1-2/ 2006: 62-79.
  • Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Die europäisch-überseeische Begegnung. München, 1976.
  • Lothar Engel: Kolonialismus und Nationalismus im deutschen Protestantismus in Namibia 1907-1945. Bern/ Frankfurt, 1976.
  • Peter Martin. Schwarze, Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewusstsein der Deutschen. Hamburg, 2001.
  • Carl Mirbt: Mission und Kolonialpolitik in den deutschen Schutzgebieten. Tübingen, 1910.
  • Werner Ustorf (Hg.): Mission im Kontext. Beiträge zur Sozialgeschichte der Norddeutschen Missionsgesellschaft. im 19. Jahrhundert. Bremen, 1986.
  • Ders.: Die Missionsmethode Franz Michael Zahns und der Aufbau kirchlicher Strukturen in Westafrika. Eine missionsgeschichtliche Untersuchung. Erlangen, 1989.
  • Lamin Sanneh: Encountering the West: Christianity  and the Global  Cultural Process: the African Dimension. London, 1993.
  • Ders.: Translating the Message. The Missionary Impact on Culture. Maryknoll, N.Y., 1989.
  • Paul Jenkins: The Earliest Generation of Missionary Photographers in West Africa and the Portrayal of Indigenous People and Culture. History in Africa 20 (1993): 89-118.
  • Horst Gründer: Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Paderborn, 1982.
  • Ders.: Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn, 1985.
  • Wilfried Wagner: Missionare als Photographen. Zeitschrift für Kulturaustausch 1990, 40: 466-474.
  • Christaud Geary: Impressions of the African Past: Interpreting Ethnographic Photographs from Cameroon. Visual Anthropology 1990, 3: 289-315.
  • Chinua Achebe, Okonkwo oder das Alte stürzt; edition suhrkam Bd. 1138, Frankfurt 1983

 

Zur interkulturellen und ökumenischen Diskussion

  • Lothar Bauerochse. Learning to Live Together. Interchurch partnerships as ecumenical communities of Learning. Geneva, 2001.
  • Thomas Beck et al. (Hg.): Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung. Festschrift anlässlich der Gründung der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte 1999 in Bamberg. Stuttgart, 1999.
  • Stefan Brüne et al. (Hg.): Africa and Europe: Relations of Two Continents in Transition. Münster/ Hamburg, 1994. Darin: Rolf Hofmeier: German-African Relations: Present and Future, 71-86.
  • Sybille Fritsch-Oppermann (Hg.): Die Hermeneutik des Fremden. Die afrikanische Literatur als Anfrage an unsere Geschichte mit Kolonisation und Mission. Rehburg-Loccum, 1994 (=Loccumer Protokolle 1992, 59).
  • Axelle Kabou: Weder arm noch ohnmächtig. Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Helfer. Basel, 1993.
  • Efiong Utuk: From New York to Ibadan. The Impact of African Questions on the Making of Ecumenical Mission Mandates, 1900-1958. New York, 1991.

 

Medienhinweise
Ferien in der Heimat
Ein Film von Jean-Marie Teno, Kamerun, Frankreich, Deutschland 2000
75 Min., Dokumentarfilm (Bezug DVD: EZEF)

Chef!
Ein Film von Jean-Marie Teno, Kamerun, Frankreich 1999
61 Min., Dokumentarfilm

Liebe zum Imperium
Ein Film von Peter Heller, Deutschland 1978
60 Min., Dokumentarfilm (Im Archiv von EZEF)

Die Hottentotten Venus - Das Leben der der Sarah Baartman
Ein Film von Zola Masko, Südafrika, Frankreich 1998
53 Min., Dokumentarfilm (Im Archiv von EZEF)


Literatur zum afrikanischen Film

  • African Cultures, Visual Arts, and the Museum. Sights/ Sites of Creativity and Conflict. Hg. von Tobias Döring (Matatu. Journal for African Culture and Society, 25-26, Amsterdam/ New York, 2002.
  • Sembène Ousmane: Filmmakers and African Culture. Africa 1977, 71: 39-41.
  • Melissa Thackway: Future Past: Integrating Orality into Francophone West African Film. Matatu.2002/ 25-26: 229-242.
     


Autorin: Dr. Amélé Adamavi-Aho Ekué
Dezember 2006