Teaser
Der Duft der Sehnsucht

 地下。香,  / Underground Fragrance

Spielfilm von Pengfei
Frankreich, China 2015, 76 Min. OmU

Inhalt

Die Geschichte spielt im modernen Beijing (Peking). Yong Le, ein junger Arbeitsmigrant, lebt von der Entrümpelung von Häusern und Wohnungen, die für den Abbruch vorgesehen sind und neuen und modernen Häusern Platz machen müssen. Er verkauft die gebrauchten Möbel und Gebrauchsgegenstände, ohne damit viel zu verdienen. Die Familie zu Hause erwartet allerdings Unterstützung von ihm. Yong Le lebt - zusammen mit einer ungewissen und wahrscheinlich wechselnden Zahl von Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen - in einem verwinkelten ehemaligen Bunker ohne Tageslicht. Sein Raum ist notdürftig eingerichtet; es gibt wenig Privatheit. Den Waschraum und die Kochgelegenheit müssen sich die BewohnerInnen teilen.

Bei einem Räumvorgang in einem Abrissgebiet verunglückt Yong Le schwer. Er wird von dem Alten Jin, der zusammen mit seiner Frau als einer der Letzten in dem Gebiet wohnt, ins Krankenhaus gefahren. Dessen Hilfe ist nicht ganz uneigennützig - er braucht Yong Les Kleintransporter, um einen Generator zu transportieren. Da die Behörden ihm mittlerweile den Strom abgestellt haben, muss er sich anderweitig Energie besorgen.

Yong Le hat eine schwere Augenverletzung und sieht nichts mehr. Damit er sich in dem unübersichtlichen Bunker nicht verläuft, spannt er eine Schnur von seinem Zimmer in den Waschraum, an der er sich entlang tasten kann.

Im Waschraum begegnet er Xiao Yun, auch sie Wanderarbeiterin. Sie verdient ihr Geld als Tänzerin in einem schäbigen Nachtclub, sichtbar mit großem Unbehagen. Ihr Traum ist eine Stelle irgendwo in einem sauberen Büro. Auch sie bewohnt einen kleinen Raum in dem Bunker, den sie - um ihn ein wenig wohnlicher zu machen - mit Werbeplakaten tapeziert. Sie ist die einzige, die Yong Le und sein Problem mit den Augen überhaupt wahrnimmt. Sie bringt ihm Essen und einen sprechenden Wecker, tröpfelt Medizin in die Augen und erneuert den Verband. Bei einem Gespräch mit dem Chef des Nachtclubs bezeichnet sie Yong Le als ihren Freund - vielleicht weil sie ihn wirklich als solchen betrachtet, vielleicht weil sie erwartet, damit dem Tanz vor den Männeraugen zu entgehen.

Ihre Situation wird für sie unerträglich, als der einigermaßen geheilte Yong Le mit einem Bekannten zufällig den Nachtclub aufsucht, in dem sie arbeitet. Da er sie bisher aufgrund der Augenverletzung nicht gesehen hat, ist das Erkennen und Erschrecken nur auf ihrer Seite.

Als der Bunker bei einem schweren Gewitter mit Wasser vollläuft und die BewohnerInnen in großer Panik nach draußen drängen, will Yong Le Xiao Yun retten und stellt bei dieser Gelegenheit fest, dass sie aus dem Bunker ausgezogen ist.  

Xiao Yun verlässt schließlich Beijing und arbeitet außerhalb oder am Rande der Stadt in dem Call-Center einer Versicherungsfirma. Ihr Versuch, Yong Le zum Abschied anzurufen, scheitert. Seine Suche nach ihr ebenfalls. Da er nicht weiß, wie sie aussieht, ist sein einziger Anhaltspunkt ein zurückgelassenes Deodorant, zu dem er die passende Frau sucht. Vergeblich.

Im zweiten Erzählstrang geht es um den Alten Jin und seine Frau. Die beiden sollen ihr Haus irgendwo am Rand von Beijing verkaufen, um einem weiteren Neubau Platz zu machen. Der Alte Jin ist an dem Verkauf interessiert, zum einen ist die  Wohnsituation unerträglich – die beiden wohnen in einer Trümmerlandschaft - zum anderen träumt er von einer modernen Wohnung in einem der glitzernden Hochhäuser. Die Baumaschinen rücken immer näher und die Bewohner der anderen Häuser sind offenbar bereits umgesiedelt. Nur Jin hält noch aus, um den Preis für sein Haus in die Höhe zu treiben. Die Verhandlungen mit dem Investor bei einem Bankett, für das der letzte Hahn seiner Frau geopfert wird, scheinen erfolgreich. Yong Le kommt schließlich mit seinem Transporter und kauft dem Alten Jin seine Möbel ab. Bei einer letzten Mahlzeit in dem völlig leer geräumten Haus muss Jin allerdings mitteilen, dass der Investor nun doch kein Interesse an dem Baugrund hat und das sehnlich und dringend erwartete Geld nicht kommen wird. Sein Traum ist geplatzt.

Würdigung und Kritik

Der Film ist eine Momentaufnahme aus dem modernen China, das sich innerhalb nur einer Generation vom Entwicklungsland in eine moderne Großmacht gewandelt hat. Der Film nimmt allerdings nicht die Perspektive ein, die sich die Herrschenden in Beijing wünschen: aseptisch auf blank geputzte Fassaden gerichtet, hinter denen gut gekleidete Menschen sauberer, gut bezahlter Arbeit nachgehen und nach getaner Arbeit fröhlich zu ihren Familien in schöne Häuser heimkehren.

Der Film kontrastiert vielmehr das moderne und glitzernde Beijing, das auch in vielen Berichten über das aufstrebende China in Deutschland gezeigt wird, mit dem, wie die Marginalisierten und Zukurzgekommenen die Stadt erleben. Die Protagonisten des Films leben am Rand und sie leben im Dunkeln.

In den Bunker, in dem Yong Le und Xiao Yun jeweils ihren Verschlag haben, fällt kein Tageslicht. An einigen Stellen kann man noch nicht einmal aufrecht gehen. Dass Yong Le auch noch zeitweilig erblindet, steigert diese Dunkelheit. Auch bei dem Alten Jin und seiner Frau ist es dunkel, da die Behörden den Strom abgestellt haben. Aber sie alle streben nach oben und ins Helle. Die Bewegung nach oben wird in dem Film in verschiedenen Treppenszenen plastisch: Wenn Jin und seine Frau eine mögliche Wohnung in einem noch im Rohbau befindlichen Hochhaus besichtigen, oder wenn Xiao Yun zusammen mit den anderen Bewerberinnen um eine Verkäuferinnen-Stelle eine malerische Wendeltreppe nach oben schreitet.

Eine Treppe spielt allerdings auch eine Rolle, wenn es nach unten geht. Xiao Yun muss ihre High Heels ausziehen, um die steile Treppe in den Bunker sicher hinunterzugelangen. Dramatisch wird es, als die Wassermassen über die Treppe nach unten stürzen.

Die sich langsam anbahnende Liebesgeschichte zwischen Xiao Yun und Yong Le wird sehr diskret erzählt. Xiao Yun ist die einzige im Bunker, die überhaupt wahrnimmt, dass ihr junger Nachbar Hilfe braucht. Sie drängt sich nicht auf, sondern tut - ohne Worte - was in der Notsituation eben getan werden muss.

In dem Film wird insgesamt erstaunlich wenig gesprochen. Es sind vor allem Telefonate, die die Kommunikation vorantreiben. Mit ihren Smartphones nehmen auch die Marginalisierten am modernen Leben teil. Die SMS-Nachrichten, die Xiao Yun dem verletzten Yong Le vorliest, sind für die beiden der erste Gesprächsanlass. Auch die Geschichte des Alten Jin wird vor allem durch Telefonate vorangetrieben.

Der Film zeigt eindrücklich die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen in der Großstadt. Unter den Bewohnern und Bewohnerinnen in dem Bunker gibt es keine Solidarität, kaum gegenseitige Wahrnehmung. Sie drängen sich grußlos aneinander vorbei und leben nebeneinander her. Alle sind mit dem jeweils eigenen Lebenskampf beschäftigt, der eskaliert, als es gilt, den überschwemmten Kellerräumen zu entgehen und Yong Le, der auf der Suche nach Xiao Yun in die „falsche“ Richtung geht, rüde angerempelt wird.

Die Vereinzelung zeigt sich aber auch in der Bewerbungsszene von Xiao Yun. Die zahlreichen Bewerberinnen stehen wortlos nebeneinander auf dem Gang. Kein Austausch, kein Gruß, kein Lächeln. Auch Yong Les Suche nach Xiao Yun ist wortlos – er folgt einer jungen Frau, die das gleiche Deodorant kauft wie Xiao Yun. Er spricht sie allerdings nicht an. So fügt sich auch diese Szene, die nicht ganz der Komik entbehrt, in die gedämpfte Stimmung des Films ein.

Pengfei idealisiert seine Protagonisten nicht und hat mit dem Alten Jin eine durchaus schillernde Figur geschaffen. Jin will am „chinesischen Traum“ partizipieren und versucht (offenbar schon seit einigen Jahren), den Preis für sein Haus immer höher zu treiben. Er will nicht einfach irgendeine Wohnung, sondern eine besonders schöne Wohnung in einem der neu errichteten Häuser. Er hat keine Mühe damit, seinen angestammten Wohnsitz mit dem Hühnerhof, dem Hausaltar und dem Baum vor dem Haus zu verlassen.

In Jins Kampf um Teilhabe am modernen China bricht an einigen Stellen das „alte China“ ein – als nach längerem Stromausfall der Strom plötzlich wiederkommt, dröhnt aus dem Radio ein markiger Revolutionssong und seine Verhandlungen mit dem Investor versucht er mit Liedern aus einer Peking-Oper auf den rechten Weg zu bringen. Beides wirkt wie ein humorvoller und ironischer Kommentar zu dem letztlich erfolglosen verbissenen Kampf um materiellen Reichtum.

Seine Frau, die sich vor allem um die Gesundheit ihres Ehemanns sorgt, ist gewissermaßen „Geisel“ seiner Zockerei. Für sie sind die Tiere und das Gebet vor dem Altar wichtig. Sie hat jedoch keine Wahl und steht schließlich gemeinsam mit ihrem Mann buchstäblich vor den Trümmern seines Traums.

Im chinesischen Originaltitel ist ein dicker Punkt zwischen „Untergrund“ und „Duft“:  地下。香, der in der englischen Übersetzung verlorenging (während im deutschen Titel eine freie Übertragung gewählt wurde). Mit diesem Punkt wirkt der Titel wie ein ironischer, vielleicht auch liebevoller Kommentar zu der Geschichte von Xiao Yun und Yong Le. Auf der einen Seite Schäbigkeit, Perspektivlosigkeit, Überlebenskampf und Traurigkeit, auf der anderen Seite Lebendigkeit, Empathie, leise Zärtlichkeit und Zielstrebigkeit.

Der Film lenkt den Blick auf die sonst meist nicht erzählte Geschichte der Marginalisierten in Ostchina. Er schaut nicht analysierend auf sie herunter, sondern nimmt ihre Perspektive ein.

Im Bunker ist es dunkel und unwirtlich, aber genau dort entwickelt sich eine kleine, diskret erzählte Liebesgeschichte mit Genre-Anleihen beim Melodram. Es gibt kein happy end, es gibt kein tragisches Ende. Die beiden Liebenden verlieren sich einfach wieder in der Großstadt.

Der Film erfordert einen sehr konzentrierten Blick, da die beiden Erzählstränge parallel erzählt werden und sich nur an wenigen Stellen berühren. Zudem wird der zweite Handlungsstrang, die Geschichte des Ehepaars Jin, hauptsächlich durch Telefonate vorangetrieben, bei denen man noch dazu immer nur den Part des Alten Jin sieht und hört - weshalb der Gesprächsinhalt insgesamt immer nur indirekt zu erschließen ist.

Hintergrundinformationen

Der Regisseur weist in einem Interview darauf hin, dass die Protagonisten des Films ihren jeweiligen „chinesischen Traum“ leben[1]. Die Rede vom „chinesischen Traum“ hat der derzeitige chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping in den politischen Diskurs gebracht und ihn seither gewissermaßen zu einer Art Regierungsdevise gemacht. Er sagte 2014:
„Nur wenn alle Mitglieder unserer Partei ihre Kompetenz ständig erhöhen, können wir die Ziele „Zweimal hundert Jahre“ realisieren, nämlich hundert Jahre nach der Gründung der KP Chinas (2021) eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand umfassend zu vollenden und hundert Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China (2049) den Aufbau eines modernen sozialistischen Landes, das reich, stark, demokratisch, zivilisiert und harmonisch ist, zu verwirklichen. Und dann kann der Chinesische Traum von der großen nationalen Renaissance in Erfüllung gehen.“

Man muss Pengfei keine Gegnerschaft zur offiziellen chinesischen Politik unterstellen. Der Film weist allerdings diskret darauf hin, dass es neben Xi Jinpings großem Traum die vielen Träume der einfachen Menschen gibt, die sehr viel bescheidener sind und deren Erfüllung durch die offizielle Politik nicht immer erleichtert wird.

Hierin ist die Entwicklung in China durchaus mit der von Amerika vergleichbar - auch der „American Dream“ hat einen enormen Sog ausgeübt. Und auch dort wurden vor allem die Geschichten der Erfolgreichen erzählt und nur selten die der vielen Gestrandeten.

„Der Duft der Sehnsucht“ behandelt vor allem zwei Themen/Aspekte:

Die Situation von Wanderarbeitern in China (speziell in der Großstadt Beijing) und

den ungebrochenen Bauboom und Immobilienhype in den ostchinesischen Großstädten und damit zusammenhängend die Vertreibung und Umsiedlung vieler Menschen, von denen sich die wenigsten die teuren neuen Wohnungen leisten können.

Mit diesen beiden Aspekten hängt ein drittes Thema zusammen: Der Film zeigt die Vereinzelung und Vereinsamung seiner Protagonisten in der Großstadt.

Wanderarbeit in China

Die Wanderarbeiter in dem Film leben in einem alten Bunker. Man erfährt nicht, wie viele es sind. Einige nennen ihre Herkunftsregionen. Genannt werden zum Beispiel Anhui und Sichuan. Beides sind ärmere Provinzen im Westen. Die Volkszählung 2010 hat die Wanderbevölkerung auf 275 Millionen geschätzt.[2] Es handelt sich allerdings tatsächlich um eine Schätzung, da viele Wanderarbeiter nirgends regulär gemeldet sind.

Wanderarbeiter sind Menschen, die fern ihrer Heimatorte einer Erwerbsarbeit nachgehen. Offiziell gemeldet bleiben sie in ihrem Herkunftsort. Dort stehen ihnen öffentliche Dienste wie Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung oder der Zugang zu Bildung zu, nicht jedoch am selbst gewählten Arbeitsort.

Die Situation der Wanderarbeiter ist nicht überall gleich. Manche schaffen den Aufstieg und partizipieren an der guten Wirtschaftsentwicklung. Was ihnen der Staat oder die Stadt aufgrund des Wanderarbeiterstatus vorenthält, können sie leicht mit dem verdienten Geld bezahlen.

Vor allem im Südosten Chinas, im Perlflussdelta, sind die Wanderarbeiter nach wie vor willkommene billige Arbeitskräfte in der Elektronikindustrie und haben dort die Chance zumindest auf einen Wohnheimplatz und ein Einkommen, das es ihnen bei einem bescheidenen Lebensstil erlaubt, die auf dem Land zurückgelassene Familie zu unterstützen.

Wo es diese Elektronikindustrie nicht gibt, sind die Wanderarbeiter auf sich selbst gestellt. Viele arbeiten auf dem Bau oder schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Frauen arbeiten als Haushaltshilfen oder Kindermädchen. Wenn es schlimm kommt, landen sie in der Prostitution - die Protagonistin Xiao scheint nicht weit davon entfernt.

Die Wanderarbeiter können sich keine richtigen Wohnungen leisten und leben in Notunterkünften - in dem Film ist es ein aufgelassener Bunker aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen China und der Sowjetunion. Viele Bauarbeiter leben unter einfachsten Bedingungen in den zu errichtenden Gebäuden und ziehen weiter, sobald die Gebäude an die Bauherren übergeben werden. Ihre Kinder - sofern sie nicht bei den Großeltern oder Verwandten auf dem Land zurückgelassen werden - können nicht in die Schule und bleiben häufig sich selbst überlassen, wenn die Eltern bei der Arbeit sind. Der Film zeigt beispielhaft einige dieser Kinder, die sich an Yong Les Schnur zu schaffen machen.

Wenn Wanderarbeiter Glück haben und über die nötige Schulbildung verfügen, besteht die Chance auf einen sauberen, gut bezahlten Bürojob und ein Leben in der Stadt. Die politische Stabilität in China beruht nicht zuletzt darauf, dass es immer wieder einige nach oben schaffen und damit für die vielen die Hoffnung auf Aufstieg bestehen bleibt - für die meisten bleibt es allerdings bei dieser Hoffnung.

Die offiziellen Arbeitslosenzahlen in China liegen bei ca. 4%. Unabhängige Analysten schätzen sie auf das Doppelte. Letztlich ist weder die eine noch die andere Zahl zuverlässig, da weder die Menschen auf dem informellen Arbeitsmarkt berücksichtigt werden, der vor allem aufgrund der vielen Wanderarbeiter in den ostchinesischen Städten sehr groß ist, noch die verbreitete verdeckte Arbeitslosigkeit auf dem Land.

Der Film erzählt nichts über die Heimatregionen der beiden Hauptprotagonisten. Man erfährt nur, dass Yong Les Familie auf Geld wartet.

Wanderarbeit ist in den meisten Fällen ein Armutsphänomen. Viele junge Menschen finden in den ländlichen Regionen kein Auskommen und müssen sich anderswo Arbeit suchen, um sich selbst und die Familie zu versorgen. Landflucht ist nicht nur ein chinesisches Phänomen, sondern weit verbreitet. Überall auf der Welt nimmt die Verstädterung zu. In China allerdings besonders rasant: 2008 (im Jahr der Olympiade) wohnten in Beijing 12 Millionen Menschen. Heute sind es über 22 Millionen.[3]

Die nackten Zahlen sagen dabei wenig darüber aus, was Landflucht und Migration für die betroffenen Menschen bedeuten - sowohl für die Migrierenden als auch für die Zurückgebliebenen: Auflösung gewachsener Strukturen und Familienbande, Aufgeben sozialer und emotionaler Sicherheit, monatelange Trennung, Entwurzelung, nicht oder schwer erfüllbare Erwartungen etc. Sie sagen auch nichts darüber aus, wie sich fehlende soziale Sicherungssysteme im Alltag auswirken: Für Yong Le gibt es nach seinem Unfall weder ein staatliches Fürsorgesystem noch ein emotionales und soziales Auffangnetz, das ihm helfen würde, den Alltag zu bewältigen. In der Realität gibt es nur wenige Liebesgeschichten wie im Film.

Die Wanderarbeiter stehen unter dem Druck der Herkunftsfamilie, die in der Regel hohe materielle Erwartungen hegt und keine Vorstellungen von dem Überlebenskampf in den ostchinesischen Städten hat. Und viele - im Film ist es vor allem Xiao Yun - haben an sich selbst die Erwartung, an dem guten Leben in der Stadt zu partizipieren und stehen damit in einem permanenten Konkurrenz- und Überlebenskampf.

Die Schere zwischen arm und reich in China ist groß. International wird das Verhältnis von arm und reich mit dem sogenannten Gini-Koeffizient angegeben. Je weniger Ungleichheit es gibt, desto niedriger ist er (er läge bei null, wenn alle gleich viel haben und bei 1, wenn einer alles und die anderen nichts haben). Der Gini-Koeffizient liegt in China aktuell bei 0,465[4]. Zum Vergleich: In Deutschland liegt er bei 0,291. Das Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, UN-Habitat, definiert 0,4 als „internationale Alarmgrenze“.

Eines der Hauptprobleme Chinas ist weiterhin das immense Gefälle zwischen Stadt und Land. Landbewohner haben nach den offiziellen Daten ein verfügbares Einkommen von im Schnitt 9.778 Yuan[5] erreicht, das der Stadtbewohner liegt im Schnitt bei 27.430 Yuan[6]. Der Frage, wie das damit in Einklang zu bringen ist, dass China nach wie vor von einer Kommunistischen Partei regiert wird, wird von den politisch Verantwortlichen bewusst oder unbewusst umgangen, indem formelhaft von dem „Sozialismus chinesischer Prägung“ gesprochen wird.

Der Immobilienboom

Der Film zeigt anschaulich, wie die moderne Großstadt immer weiter ausgreift. Die modernen Hochhäuser rücken den Dörfern am Stadtrand immer näher, deren Struktur aufgrund der Abrissarbeiten kaum noch zu erkennen ist.

Häufig werden die Menschen in den alten Wohnquartieren oder in den Dörfern am Stadtrand mit rigiden Methoden aus ihren Häusern vertrieben. Dass dem Ehepaar Jin der Strom abgedreht wird, ist im Vergleich zu vielen Vertreibungsgeschichten eine eher harmlose Schikane. Die Menschen können sich die teuren innerstädtischen Wohnungen nicht leisten und werden an den Stadtrand umgesiedelt – oft in Häuser, die noch nicht fertig oder schlecht an den öffentlichen Verkehr angebunden sind. Sie sind von dort stundenlang zu ihren Arbeitsplätzen unterwegs, sofern sie Arbeit haben.

In dem Film haben sich der Alte Jin und seine Frau damit abgefunden, dass sie ihr altes Haus aufgeben müssen. Die Situation ist zu unwirtlich geworden. Dem Alten Jin geht es vor allem darum, einen angemessenen Preis für sein Haus und seinen Grund zu bekommen, um sich eine gute Wohnung in Beijing kaufen zu können. Am Anfang des Films sieht man ihn mit seiner Frau bei einer Wohnungsbesichtigung. Er will hoch hinaus. Die Zahlen, mit denen er hantiert, sind gigantisch, aber nicht unrealistisch. Er spricht davon, dass der Quadratmeterpreis in Beijing selbst am Rande der Stadt bei 50.000,- Yuan liegt. Jüngere Zahlen besagen, dass der Durchschnittsquadratmeterpreis in Beijing und Shanghai bei ca. 11.000,- € liegt (das entspricht über 80.000,- Yuan). Die ostchinesischen Städte gehören damit zu den teuersten auf der Welt.

Und der Boom geht weiter:

„Für die chinesische Mittelschicht ist kein Vermögen so wichtig wie der Kauf von Wohnungen. Immobilien machen in der Volksrepublik mehr als 70 Prozent des Privatvermögens aus. Zugleich stehen landesweit Millionen Wohnungen leer….“ [7]

Die Analysen des Immobilienmarktes in China sind widersprüchlich. Sie schwanken zwischen der Erwartung einer weiteren Steigerung der Preise einerseits und der Annahme einer gigantischen Blase, die irgendwann mit fatalen Folgen für die Gesamtwirtschaft platzen wird, auf der anderen Seite.

Es mag eine Überinterpretation des Scheiterns des Alten Jin sein, dem sein langes Zuwarten und Spekulieren schließlich auf die Füße fällt: Die Behörden von Beijing haben mittlerweile entschieden, die Einwohnerzahl der Stadt nicht über 23 Millionen steigen zu lassen. Diese Entscheidung hat Auswirkungen auf den Immobilienmarkt der Stadt. Der Alte Jin könnte deshalb Opfer sowohl seiner eigenen Gier als auch der Stadtpolitik sein.

Didaktische Anregungen / Vorschläge für ein Filmgespräch

Der Film ist vor allem für den Einsatz in der Sekundarstufe 2 und in der Erwachsenenbildung geeignet. Selbstverständlich kann der Film in erster Linie dann eingesetzt werden, wenn es um die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in China geht. Er illustriert allerdings auch Themen wie Verstädterung, Vereinzelung von Menschen in modernen Gesellschaften, Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft etc.

Folgende Fragestellungen bieten sich bei der Arbeit mit dem Film an:

  • Vom „Chinesischen Traum“ zu chinesischen Träumen.
    Die vier Protagonisten des Films (Yong Le, Xiao Yun, der Alte Jin und seine Frau) haben explizit oder implizit alle Lebensziele, die über den Tag hinausgehen. Beschreiben Sie auf der Grundlage der einzelnen Geschichten die Träume dieser vier Menschen.
  • Allein unter vielen.
    Es ist kein chinesisches Spezifikum, dass Menschen in der Großstadt unter Einsamkeit und Vereinzelung leiden. Das wird auch in Deutschland beklagt. Die Situation von Neuankömmlingen, die zudem in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben und das Stadtleben nicht gewöhnt sind, ist allerdings besonders brisant. Der Film lenkt den Blick vor allem auf Yong Le und Xiao Yun.
  • Wie zeigt der Film die Einsamkeit dieser beiden?
    Interaktion ohne Worte.
    Der Film kommt mit erstaunlich wenig sprachlicher Kommunikation aus. Manche Stimme im Bunker kommt aus dem Off – man hört jemanden reden, weiß aber nicht, woher die Stimme kommt und wem die Aussagen gelten. Beschreiben Sie die Kommunikation bzw. Nichtkommunikation der Menschen. Wo und wie findet trotzdem Verständigung statt?
  • Xiao Yun und Jins Frau.
    Die Menschen gehen unterschiedlich mit ihrer prekären Situation um. Frauen anders als Männer. Vergleichen Sie das Agieren von Xiao Yun und Jins Frau. Berücksichtigen Sie dabei auch die Szenen in dem Nachtclub.
  • Underground # Fragrance:
    Yong Le bekommt in seiner Not nach dem Unfall nur Unterstützung von Xiao Yun. Ansonsten ist das Leben im Bunker geprägt von Gleichgültigkeit. Beobachten Sie das Miteinander und Nebeneinander der Menschen im Bunker und ordnen sie das Verhalten den beiden Begriffen des (Oiriginal- bzw. englischen) Titels zu: 地下 / Underground (Untergrund) - 香 / Fragrance (Duft).
  • Das moderne China - die moderne Großstadt.
    Auf den ersten Blick handelt es sich bei Underground Fragrance nicht um einen „politischen“ Film im engeren Sinne. Allerdings sind die Protagonisten Opfer und Leidtragende der Politik. Arbeiten Sie heraus, wo die vier Hauptpersonen von der (verfehlten) Politik betroffen sind. Wo steht diese Politik der Verwirklichung ihrer Träume im Weg.
  • Arm und reich.
    Die vier Protagonisten des Films sind an verschiedenen Stellen mit dem sozialen Gefälle in der chinesischen Großstadt konfrontiert. Wie macht der Film dieses Gefälle deutlich? Was könnte die UN-Habitat beim Gini-Koeffizienten mit „internationale Alarmgrenze“ meinen?
  • Das offizielle China.
    Aus der wegweisenden Parteitagsrede des Partei- und Staatschefs Xi Jinping am 18.10.2017:
    „Die ganze Partei muss die Lösung von Schlüsselproblemen bei der Überwindung der Armut intensiv voranbringen und gewährleisten, dass die gesamte Bevölkerung beim gemeinsamen Aufbau und Genuss noch mehr das Gefühl der Teilhabe an den Früchten hat. Die ganze Partei muss die allseitige Entwicklung der Menschen und den gemeinsamen Wohlstand der gesamten Bevölkerung voranbringen. Es gilt, China zu einem sicheren Land aufzubauen, die Verwaltung der Gesellschaft zu verstärken und zu erneuern, die Harmonie und Stabilität der Gesellschaft zu wahren sowie zu gewährleisten, dass der Staat auf Dauer eine stabile und friedliche gesellschaftliche Ordnung aufrechterhält und das Volk in Frieden lebt und mit Freude arbeitet.“[8]
    Entwerfen Sie auf der Grundlage der Eindrücke aus dem Film eine Erwiderung für die Parteitagsdelegierten. (Da weder Wanderarbeiter noch vertriebene StadtbewohnerInnen eine Stimme haben, wird diese Gegenrede nicht wirklich gehalten werden.)
  • China und Deutschland.
    Die meisten Medien in Deutschland vermitteln ein Bild von China, das von wirtschaftlichem Aufstieg, Innovation, schneller Digitalisierung etc. geprägt ist. China wird zunehmend als Konkurrent der deutschen und europäischen Wirtschaft gesehen. Diese Darstellung hat durchaus ihre Berechtigung. Der Film zeigt jedoch andere Aspekte des chinesischen Alltags. Entwerfen Sie einen Artikel/Fernsehbericht/Blog und berichten Sie über den Alltag der vielen, die am wirtschaftlichen Aufstieg in China und an der verbreiteten Glitzerwelt nicht teilhaben.

Stimmen über den Film

„‚Der Duft der Sehnsucht‘ ist ebenso ein Werk von sozialem Realismus wie von fast surrealem Formalismus, über Menschen, die unter dem Gewicht der chinesischen Gesellschaft ganz nach unten gedrückt wurden, über ihre Träume und ihre Beziehungen. Seine großen Themen weiß dieser Film in den kleinsten, ruhigsten und intimsten Momenten zu finden: wie ein Feuerzeug bewegt, wie eine Mahlzeit geteilt oder wie ein Glas mit Medizin verabreicht wird. (…) Wer ein verbindendes Element zwischen der Zielstrebigkeit der Filme von Tsai Ming-liang, der präzisen Kunst von Hou Hsiao-Hsien und dem lebendigen sozialen Bewusstsein von Jia Zhan-ke sucht, der findet es vielleicht hier in diesem tief beeindruckenden und bewegenden Debüt“. (Jessica Kiang, zitiert nach Variety.com)

„Peking mit seinen Wolkenkratzern, Autobahnen, Werbeplakaten und Managern in Schlips und Kragen: das alles sehen wir in dem Film „Der Duft der Sehnsucht“ nur von ferne oder eher von unten. Das Debüt des chinesischen Regisseurs Pengfei führt uns in den Untergrund der gigantischen Stadt und in eine verborgene Welt, die uns die andere Seite des ‚chinesischen Traums‘ zeigt, mit ihren Bulldozern, zerfallenen Häusern und Ruinen. Er folgt drei Personen und einer neuen Liebe, die schon dem Untergang geweiht ist.“ (Vittoria Scarpa, zitiert nach cineuropa.org)

Die Akteure

Regisseur

Der Regisseur Pengfei wurde in eine Pekinger Künstlerfamilie geboren. Sowohl sein Großvater als auch seine Mutter arbeiteten in der Peking-Oper. So bekam er von klein auf einen Zugang zu traditioneller chinesischer Kunst und Kultur. Pengfei studierte in Frankreich am „Institut International de L’Image et du Son“. „Der Duft der Sehnsucht“ (Underground Fragrance) ist sein erster Spielfilm.

SchauspielerInnen

Ying Ze, die Darstellerin von Xiao Yun ist Co-Produzentin des Films. Sie hat sowohl einen Abschluss der London School of Economics und der Royal Academy of Dramatic Art. Zurück in China gründete sie die Produktionsfirma Mishka Production. In „Der Duft der Sehnsucht“ spielt sie erstmals eine Hauptrolle.

Luo Wenjie (Yongle) ist Schauspieler und Model. „Der Duft der Sehnsucht“ ist sein Debutfilm.

Zhao Fuyu (Alter Jin). Schauspieler und Mitglied der „Association of Chinese Filmmakers“. Er hat verschiedene Preise gewonnen.

Li Xiaohui (Frau des Alten Jin) ist Opernsängerin (Pekingoper). Sie ist die Mutter des Regisseurs Pengfei.

Literatur und Links

  • Doris Fischer/Christoph Müller-Hofstede (Hrsg.): Länderbericht China. Bundeszentrale für politische Bildung 2014.
  • Frank Sieren: Zukunft China! Wie die Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert. München 2018.
  • Theo Sommer: China First. Die Welt auf dem Weg ins Chinesische Jahrhundert. Hamburg 2019.
  • Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. München 2018.
  • https://www.eu-china.net (Asienhaus Köln)
  • https://www.merics.org/de (Mercator Institute for China Studies, Berlin)

Filmhinweise

  • UFO in her Eyes
    Regie: Xiaolu Guo. Deutschland, China 2011, 110 Min., Spielfilm, OmU
    Bezug DVD: www.ezef.de
  • Shanghai Shimen Road
    Regie: Haolun Shu. China, Hongkong, NL 2010, 85 Min., Spielfilm, OmU
    Bezug DVD: www.ezef.de
  • Die Kämpfer des Dorfes Qiugang
    Regie Ruby Yang. China, USA 2010, 40 Min., Spielfilm, OmU

Autorin: Barbara Riek
Redaktion: Bernd Wolpert

[1] “I want to describe how the behavior and feelings of these individuals develop

in a context where everyone creates his own version of the “Chinese Dream””.

[2] Thomas Scharping: Bevölkerungspolitik und demografische Entwicklung: Alte Probleme, neue Perspektiven. In: Doris Fischer (Hrsg.): Länderbericht China. Bundeszentrale für politische Bildung, 2014, S. 91.
Theo Sommer nennt in seinem Buch „China First“ von 2018 die Zahl von 280 Mio. – allerdings ohne Quellenangabe.  

[3] https://www.oav.de/iap-12017/artikel-1017.html

[4] https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/china-node/-/200468

[5] Derzeit beträgt der Wechselkurs 1€ = ca. 7,5 Yuan.

[6] https://oxiblog.de/weniger-arme-mehr-ungleichheit-china-und-daten-zur-sozialen-entwicklung-der-oxi-ueberblick/

[7] www.zeit.de/wirtschaft/2019-03/handelsstreit-china-privatanleger-peking-wirtschaftswachstum/seite-2

[8] http://docs.dpaq.de/12860-rede_xi_jinping_19._parteitag_parteikongress_1_.pdf

Teaser