Spielfilm von Ousmane Sembène
Senegal 1992, 105 Minuten, Orginalversion (Französisch und Wolof) mit deutschen Untertiteln
Kurzinhalt
Pierre Henri Thioune, besser bekannt unter dem Namen Guelwaar, ist tot. Er war ein respektierter und angesehener Mann. Die Trauergemeinde kommt zusammen, doch dem Begräbnis stellen sich unerwartet Hindernisse entgegen: Guelwaars Leichnam ist verschwunden.
Wie sich bald herausstellt, gab es eine Verwechslung und Guelwaar ist bereits bestattet - jedoch nach muslimischem Ritus. Doch Guelwaar war Katholik. Also wird die Polizei gerufen; der Abgeordnete und der Präfekt werden in die Verhandlungen um die Exhumierung und Herausgabe der Leiche eingeschaltet. Doch die muslimische Familie, die Guelwaar vermeintlich als ihren Familienangehörigen bestattet hat, will von einer Verwechslung nichts wissen. Alles sei mit rechten Dingen zugegangen.
Eine Lösung ist nicht abzusehen. Und so beschließt die Trauergemeinde, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und bricht auf, 'ihren’ Leichnam zurückzuholen, um ihn ‘richtig’ zu bestatten.
Während sich diese Auseinandersetzung immer bedrohlicher zuspitzt, wird in Rückblenden die Vorgeschichte aufgeblättert: Guelwaar ist keines natürlichen Todes gestorben, sondern fiel einem Attentat zum Opfer. Immer wieder hat er die korrupten Behörden angeklagt, die Bevölkerung mit ihrer - vom Westen finanzierten - Nahrungsmittelhilfe im wahrsten Sinne des Wortes abzuspeisen.
Doch zugleich erhält das Ansehen des Volkshelden auch deutliche Risse. Seine Witwe beklagt ein Eheleben voller Vernachlässigung, falschem Stolz und Untreue...
Ausführliche Inhaltsangabe
Ein junger, stark gehbehinderter Mann, läuft eine Allee entlang. Als er sein Ziel erreicht hat - die tropische Dämmerung ist nur kurz - ist es schon dunkel geworden. Zu Hause angekommen, setzt sich Aloys erschöpft in einen Sessel. An der Wand hängt ein Herz-Jesu-Bild und daneben ein Portrait des Papstes. Seine Mutter begrüßt ihn aus dem Nebenzimmer.
Als sie das Zimmer betritt, legt Aloys den mitgebrachten Koffer auf den Tisch. Die Mutter, Nogoye Marie, weiß, was dies zu bedeuten hat, denn sie bricht schon in Klagen aus, noch ehe sie die Todesnachricht vernimmt: “Mutter, Vater ist eingeschlafen“. Sophie, die Schwester, eilt hinzu, umklammert vor Schmerz ihre Mutter und versucht sie zu trösten. Weinend fragt sie nach dem Verbleib von Barthélémy, dem zweiten Bruder.
Aloys überreicht seiner Mutter den Ehering des Vaters. Die Kamera fängt den Blick der Mutter auf den Ring ein, um dann mit einem Schwenk auf das an der Wand hängende Hochzeitsbild zurückzublenden, auf die lange zurückliegende Hochzeitsfeier. Die ebenso junge wie hübsche Braut steckt ihrem Mann den Ring an den Finger. Die beiden küssen sich. - Die Melodie eines kirchlichen Trauerliedes führt uns zurück in die Gegenwart. Eine Gruppe ganz in Weiß gekleideter Ministranten, gefolgt vom Priester, kommt auf die Kirche zu, aus der der Gesang zu hören ist. Trauergäste kondolieren der Witwe. Gor Mag, einer der Ältesten, bittet Abbé Léon, den Priester, dem Wunsch des Verstorbenen zu folgen und die Trauermesse in Latein zu lesen. Da tritt Aloys mit einer bestürzenden Nachricht auf Abbé Léon zu. Der Leichnam ist verschwunden und weder in der Leichenhalle noch im Krankenhaus zu finden. Sein Bruder Barthélémy sei bereits bei der Polizei, um mit deren Hilfe den Vorfall aufzuklären, damit die Bestattung noch an diesem Tag vonstatten gehen könne.
Schauplatzwechsel: Das Büro eines Polizeireviers. Barthélémy, groß, stattlich und ersichtlich sehr gut gekleidet, läßt durch sein Auftreten erkennen, daß er den Chef zu sprechen wünscht. Dem Polizeioffizier, dem er nach kurzem Warten Bericht erstattet, ist sein Vater - Pierre Henri Thioune, genannt Guelwaar - bestens bekannt. Er weiß auch um den auf den Vormittag angesetzten Bestattungstermin. Mit einer scheinbar nebensächlichen Frage - er bittet darum, kurz den Generalsekretär des Präsidenten anrufen zu dürfen - weist Barthélémy auf seine gesellschaftliche Stellung hin, bzw. droht unverhohlen mit seinen ‘guten Beziehungen’. Der Polizeioffizier Gora reagiert darauf korrekt; seine Antwort verhehlt aber nicht seine innerliche Empörung: er weist Barthélémy darauf hin, ihm ein solches Telefonat ausschließlich für ein privates Gespräch gestatten zu können. Die Untersuchung des Vorfalles mit seinem toten Vater obliege allein ihm.
Gemeinsam brechen Gora und Barthélémy nun auf, um den verschwundenen Leichnam zu finden. Dank Goras professionellem Vorgehen - nebenbei äußert er auch den Verdacht, die Leiche könnte an Fetischisten verkauft worden sein - wird schnell klar, dass es bei der Auslieferung des Toten zu einer Verwechslung gekommen ist: Pierre Henri Thiounes Leiche wurde mit jener von Meyssa Ciss verwechselt und von dessen
Verwandten bereits in deren Heimatdorf überführt und dort bereits am Vorabend nach muslimischem Ritus bestattet.
Nun verkomplizieren sich die Ereignisse auf mehreren Ebenen. Gora sieht sich vor das Problem gestellt, die Verwandten von Meyssa Ciss davon zu überzeugen, dass es eine Verwechslung gegeben hat und sie nicht diesen sondern Guelwaar bestattet haben, weshalb sie einer Exhumierung zustimmen sollen. Und die Trauergemeinde Guelwaars, die mit Schrecken auf die nicht länger zu verheimlichende Nachricht reagiert hatte, muss abwarten, was Gora und Barthélémy erreichen.
Der Fortgang der Dinge lässt nun in dem bis dahin gezeichneten Bild einer intakten, wenn auch in Trauer und Schmerz vereinten Familie, schnell erste Risse erkennen. Und den ersten leisen Andeutungen folgen bald gröbere Pinselstriche: Hélène, Sophies Freundin, die aus Dakar mit angereist ist, sorgt mit ihrer durchsichtigen schwarzen Bluse, unter der ihre Brüste zu sehen sind, für Verwirrung unter den Männern. Abbé Léon kann die geheuchelte Entrüstung nicht länger ignorieren, weshalb er die junge Frau zur Seite bittet, um sie auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen.
Hélène nutzt diese Gelegenheit, ihr Herz zu erleichtern: Wie Sophie arbeitet sie als Prostituierte in Dakar. Und wie jene durch ihre Arbeit das Studium von Barthélémy in Europa ermöglicht hatte, wo dieser nun eine gute Stelle hat, sei auch ihre Familie ganz auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen. Und - so beschließt sie ihren Bericht nicht ohne Stolz - sie hat dem Vater auch eine Pilgerfahrt zum Papst-Besuch ermöglicht, von woher ihr dieser die Kette mit dem gesegneten Goldkreuz mitgebracht habe, das sie immer trage. Abbé Léon verbirgt sein Erstaunen und reagiert souverän, indem er Hélène nur darum bittet, sich nach Abschluss ihres Gesprächs anders zu kleiden.
Fällt damit schon ein ganz anderes Licht auf den weltmännisch und mit leichter Herablassung auftretenden Barthélémy, bzw. Guelwaars Familie, so soll es dabei nicht bleiben. In einem Monolog vor dem auf dem Ehebett ausgebreiteten schwarzen Anzug Guelwaars - dieser repräsentiert den Toten, weil der gemeinte Ehemann nicht einmal als Leiche für diese Konfrontation zur Verfügung steht - brechen all die seelischen Qualen aus Nogoye Marie heraus, die sie als Mutter und Ehefrau in all den Jahren zu erdulden hatte. Es ist dies eine der dichtesten Sequenzen des ganzen Filmes. Hier werden nicht nur die familiären, sondern auch die gesellschaftlichen Widersprüche klar benannt. Hier offenbart sich die herrschende Doppelmoral, die sie so lange hatte schweigen lassen, aber nun hält sie ihren persönlichen Schmerz, für den Guelwaar nie wirklich Verständnis aufgebracht hat, nicht länger zurück. Denn anders als ihr angesehener Mann hat sie es nie verstanden, die familiären Probleme politisch zu überhöhen bzw. als gesellschaftlich bedingt zu erklären. Ihre Bilanz der dreißigjährigen Ehe ist durchweg bitter: Die Heldentat ihres Mannes hat ihr wenig genutzt. Von ihren sieben Kindern sind vier gestorben. Ihr Sohn Aloys ist behindert und ihr deshalb eine Last, statt einer Hilfe im Alter. Barthélémy hingegen lebt in Frankreich, und was die Tochter Sophie angeht, so ist es für die Mutter unvorstellbar, deren Einladung zu folgen und zu ihr nach Dakar zu ziehen.
Und während wir als Zuschauer mit diesem Wissen den unterschwelligen Zweikampf zwischen Barthélémy und dem Polizeioffizier Gora schon mit ganz anderen Augen verfolgen, enthüllen sich im Dorf des ‘falschen’ Toten Meyssa Ciss ganz ähnliche Zustände wie im Hause Guelwaars: Der Bruder des Toten, Mor Ciss, weigert sich strikt, einer Exhumierung zuzustimmen. Zum einen schließt er eine Verwechslung kategorisch aus und zum andern ist die Vorstellung, sie könnten einen Christen, also einen ‘Ungläubigen’, nach muslimischem Ritus bestattet haben, so unvorstellbar, dass man lieber zu der religiös verbrämten Erklärung Zuflucht sucht, damit sei Guelwaar doch ohnehin und ganz gewiß für die Ewigkeit gerettet - was die Christen verständlicherweise in Rage versetzt, können sie die in dieser Aussage mitschwingende Herabsetzung ihrer Religion doch gar nicht überhören.
Doch damit nicht genug, sind auch im Hause Ciss die familiären Konflikte beträchtlich - und versuchen sich die Männer mit ganz ähnlichen Lösungsversuchen zu behelfen, besser gesagt, den Konflikten aus dem Weg zu gehen. So hatte Mor Ciss, der Bruder des Toten, offenbar nicht nur ein Verhältnis, sondern auch einige Kinder mit dessen zweiter Frau. Nun ist er darum bemüht - zunächst versucht er es mit Schmeicheleien und als diese nichts helfen mit Drohungen - die junge Witwe zu einer Heirat mit ihm zu bewegen. Doch sie reagiert ganz anders als Nogoye Marie. Ihr Gegenüber lebt. Und nun ist die Zeit der Abrechnung gekommen, nach der sie - zur Schande der Familie ihres Mannes - die ihre Witwenschaft und Trauer symbolisierenden Gewänder ablegen, und die Familie verlassen wird, um zu ihrer eigenen zurückzukehren. Auch die erste, ältere Frau von Mor Ciss, die über alles im Bilde war, aber wie Guelwaars Frau mit stillem Dulden reagiert hatte, wird sie von dieser Entscheidung nicht mehr abhalten können.
Baye Aly, Dorfältester, Volksvertreter und zugleich Vorsitzender der lokalen Bauerngenossenschaft, versucht anfangs, Gora bei seiner Arbeit zu unterstützen. Nachdem aber Gora von Mor Ciss von seinem Gehöft verwiesen worden ist, und mit der Ankündigung, wieder zu kommen, das Dorf verlassen hat, drohen Mor Ciss und seine Verwandten, die Unterschlagung von Lebensmitteln anzuzeigen, wenn Baye Aly nicht ihre Darstellung der Dinge unterstütze.
Barthélémy, der erst nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückkehrt, kann die Trauernden immerhin damit trösten, dass die Leiche gefunden sei. Damit ist wenigstens der Befürchtung die Grundlage entzogen, der Leichnam Guelwaars könne an Fetischisten verkauft und von jenen für Opferzwecke missbraucht worden sein - eine Vorstellung die Christen und Moslems gleich unerträglich ist. Als Nogoye Marie hört, was geschehen ist, reagiert sie weit gelassener als die anderen. Sie betont, sie habe nichts gegen die Moslems, seien doch viele ihrer Jugendfreundinnen Muslime gewesen und sie kenne auch den Imam jenes Dorfes persönlich. Richtig trauern aber könne sie nur, wenn Guelwaar umgebettet und auf einem christlichen Friedhof bestattet wäre. Dann könne sie ihn an Allerheiligen auf dem Friedhof besuchen und nach ihrem eigenen Tode dort neben ihm begraben werden. Morgen früh, so ihre mit Bestimmtheit vorgetragene Anweisung, zögen sie deshalb gemeinsam in das Dorf Baye Aly, um Guelwaars Leichnam zu holen. Abbé Léon bittet sie um Begleitung. Als die Trauergemeinde am nächsten
Morgen in Baye Aly ankommt, möchten einige sofort auf den Friedhof, während andere dazu raten, zunächst den Imam zu informieren und ihn offiziell um die Erlaubnis zur Exhumierung zu ersuchen. Dies geschieht und die Delegation trifft im Dorf auf Gora, der ebenfalls schon gekommen ist, und das nun folgende Gespräch moderiert. Er, der, wie sich später herausstellt, selbst Moslem ist, bezieht sich auf das für die Muslime verbindliche Gesetz der Scharia, das in einem solchen Falle ausdrücklich eine Graböffnung erlaube. Doch die gegenseitigen Unterstellungen lassen schnell die Wogen hochschlagen. Dem um Vermittlung bemühten Gora wird vorgeworfen, er habe sich von „den Ungläubigen“ kaufen lassen.
Und bald stürzen aus dem Hintergrund einige mit Knüppeln bewaffnete Männer hervor, um die Christen zu attackieren. Abbé Léon wird dabei am Kopf verletzt. Gora sieht sich dazu genötigt, einen Warnschuss aus seiner Pistole abzugeben, und er droht damit, jeden niederzuschießen, der einen weiteren Angriffsversuch wage. Daraufhin befiehlt er den Rückzug, den er mit der Pistole im Anschlag sichert. Aus der Menge ertönen Rufe, „einen Ungläubigen zu töten, ist eine gute Tat.“
Doch Gora gelingt es mit seinen bewaffneten Männern, die beiden Gruppen auseinanderzuhalten. Noch bevor der zwischenzeitlich informierte Abgeordnete und der Präfekt eintreffen, kommt der Imam auf die Christen zu, um sich zunächst für das Verhalten seiner Glaubensbrüder zu entschuldigen und dann mit Abbé Léon bzw. den Ältesten über das weitere Vorgehen zu beraten. Aus dem dabei geführten Gespräch - bzw. weiteren eingeschnittenen Rückblenden - lassen sich dann Stück für Stück die genaueren Umstände von Guelwaars Tod rekonstruieren: Im Auftrag der Ältesten hatte Guelwaar eine Rede bei einer Veranstaltung gehalten, bei der den Vertretern europäischer Institutionen für die gewährte Nahrungs- bzw. Entwicklungshilfe gedankt werden sollte. Zum Entsetzen der senegalesischen Repräsentanten hatte er dabei eine scharfe Rede gehalten, in der er die seit 30 Jahren andauernde Abhängigkeit von fremder Nahrungsmittelhilfe angeprangert hatte. Die Rede gipfelte in den Worten: „Wir, das Volk, stumm und ohne Würde, wir tanzen vor diesen Spenden: Welche Erniedrigung!“ Die Aufregung ist beträchtlich, und noch während Guelwaar spricht, befiehlt der Abgeordnete seinen Leuten, diesen Mann zum Schweigen zu bringen. - Dies wird so effektiv erledigt, dass Guelwaar einige Tage später an den Folgen der ihm zugefügten Schläge stirbt.
Während der Abgeordnete und der Präfekt nun darum bemüht sind, den politischen Skandal zu vertuschen, findet der im Gefolge der Ereignisse entstandene Konflikt um die Verwechslung der Toten auf der ‘mittleren Ebene’ seine Lösung, weil einige Besonnene den Scharfmachern auf beiden Seiten widersprechen, sie Verantwortung übernehmen und sich auf die Gegenseite zubewegen: Nachdem Gor Mag, dem Imam die Umstände von Guelwaars Tod erzählt und dabei selbstkritisch auch sein aus Feigheit motiviertes Schweigen nicht ausgespart hatte, antwortet dieser, „Gor Mag, ich habe deine Worte gehört und verstehe was du meinst“. Daraufhin erhebt sich Imam Biram, und geht zu seinen Glaubensbrüdern, um ihnen mitzuteilen, er selbst werde nun das Grab öffnen. Als ihm daraufhin wiederum ein Mitglied der Familie Ciss vorwirft, er sei ‘gekauft’, wirft einer der Umstehenden ein, nicht der Imam, sondern die Familie Ciss seien die eigentlichen Betrüger.
Nachdem auch der Abgeordnete Fall einen Versuch unternimmt, die Christen wegzuschicken, weil ihr Toter hier nicht bestattet sei, und sie im übrigen den Islam als traditionelle Religion zu achten hätten, fällt ihm Barthélémy spontan mit dem ironischen Hinweis ins Wort, weder der Islam noch das Christentum - zu dem er sich bekennt - kämen von den Ufern des Senegal oder des Limpopo. Beide Religionen hätten im Senegal deshalb wenig mit Tradition zu tun. Solch direkten Widerspruch ist der Abgeordnete Fall offensichtlich nicht gewohnt. Mehr als erstaunt fragt er Barthélémy deshalb wer er denn sei. Und weil er ihn dabei duzt, verzichtet auch Barthélémy bei seiner Rückfrage auf das höfliche Sie. Ganz perplex antwortet dieser „Ich bin der Abgeordnete“. Und erst jetzt antwortet Barthélémy: „Und ich bin Senegalese“.
Der Präfekt macht dem Abgeordneten klar, dass der Skandal um Guelwaars Tod auf keinen Fall Opposition und Presse beschäftigen dürfe, weshalb die Exhumierung stattfinden müsse. Der Abgeordnete befiehlt also, diese vorzunehmen.
Imam Biram nimmt daraufhin selbst die Graböffnung vor. Abgeordneter, Präfekt, Dorfvorsteher, Gora und Mor Ciss werden hinzugeholt, um als Zeugen zu bestätigen, dass in der Tat Guelwaar hier bestattet wurde. In einer kurzen Ansprache an die Bewohner von Bay Aly beschuldigt der Abgeordnete nun Mor Ciss, dieser habe um ein Haar einen Religionskrieg im Senegal entfacht, den er, der Abgeordnete, aber soeben verhindert habe. Auch habe er Zucker und Mehl, Öl und Reis für die Bauern mitgebracht, die er jetzt im Dorf verteilen wolle.
Und während Guelwaars Leichnam, in die Tücher der trauernden Frauen gehüllt, über den Zaun des Friedhofs gereicht wird, um auf einen Eselkarren geladen und abtransportiert zu werden, versichern sich der Älteste Gor Mag und der Imam ihres gegenseitigen Respekts. Auf Gor Mags Dank, „Dein Verhalten ehrt alle Menschen!“ entgegnet dieser: „Wenn der Geier die Leiche deines Feindes frisst, sag, er frisst dich. Verjag ihn.“
Auf dem Rückweg in die Stadt kommt den Trauernden der Lieferwagen mit den Lebensmittelspenden des Abgeordneten Fall entgegen. Wütend stoppen die Jugendlichen den LKW, und beginnen damit, Mehl, Zucker und Reis auf die Straße zu schütten. Weder die Ermahnung Abbé Léons, noch des Ältesten können sie davon abhalten. Und die um Unterstützung gebetene Witwe, Nogoye Marie, antwortet, nicht das Tun der Jugendlichen, sondern was sie mit Guelwaar hätten geschehen lassen, sei der eigentliche Frevel. Und damit blendet der Film abschließend noch einmal zurück auf jene Rede Guelwaars, in der er die Entgegennahme der Nahrungsmittelhilfe als Bettelei angeprangert und als deren unmittelbare Folge den Verlust von Stolz und Würde diagnostiziert hatte. Die darauf folgende Schlusseinstellung des Filmes zeigt in einer von hinten aufgenommenen Totalen den Leichenzug über die Lebensmittel fahren, während die roten Abspanntitel nicht mit der Aufzählung der Mitwirkenden sondern mit dem Satz beginnen: „Eine afrikanische Legende des 21. Jahrhunderts.“
Kritik
Mit Guelwaar hat Ousmane Sembène erneut seine Meisterschaft unter Beweis gestellt, das Kino als „Abendschule für das Volk“ zu nutzen, d.h. ein im besten Sinne volkstümliches Kino zu realisieren, welches zu unterhalten weiß, dem aber darüber nicht die Probleme aus dem Blick entschwinden, denen sich die Zuschauer alltäglich gegenübergestellt sehen. Zu diesem Zweck lässt Sembène nicht Helden über Bösewichter siegen - wie dies häufig im Hollywood-Kino der Fall ist - sondern seine komplex angelegten Figuren vereinigen in sich sowohl ‘richtiges’ wie ‘falsches Bewusstsein’. Hier steht und sieht sich Sembène auch selbst in der Tradition Brechtscher Lehrstücke, und er macht auch kein Geheimnis daraus, wem seine Sympathien jeweils gelten. So scheint auch der durch sein mutiges Auftreten sehr sympathische Gora keine ganz reine Weste zu haben, während umgekehrt sein Antipode, der anfangs arrogant und wichtigtuerisch auftretende Barthélémy („Ich bin Europäer“ / „was für ein Afrika!“) zunehmend an Kontur gewinnt, um sich schließlich - nicht zuletzt dank der gezielten Provokationen Goras - in der Auseinandersetzung mit dem Abgeordneten Fall doch zu seiner Identität als Senegalese zu bekennen. Gerade in der allmählichen Wandlung Barthélémys, die als Prozess zunehmender Bewusstwerdung angelegt ist, lassen sich einige jener Probleme nachzeichnen, die Sembène zufolge von besonderer Relevanz für die Zukunft Afrikas sind und die in den Dialogen mit Gora auch ausdrücklich aufgegriffen werden: die Abwanderung der gut ausgebildeten Elite nach Europa; die Ignoranz der Herrschenden gegenüber den Interessen und Problemen der einfachen Bauern; die Korruption im großen Stile, aber auch jene kleineren Gefälligkeiten und Zuwendungen, die Loyalität sichern sollen; fehlendes Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte („quelle Afrique!“) und daraus resultierende Minderwertigkeitsgefühle; die Korruption im großen Stil etc. (s.u. Didaktische Hinweise)
Dabei ist der Ton zwischen Gora und Barthélémy durchaus scharf. Auf den Vorwurf, „Sie wollen die Fundamentalisten an die Macht bringen“ kontert Gora mit dem Hinweis, Barthélémy habe es deshalb so eilig mit der Beisetzung, weil er wieder nach Frankreich abreisen wolle. Dieser entgegnet Gora, ob er denn wisse, dass die Unterschlagungen von Lebensmittelspenden und Krediten einen Umfang angenommen hätten, die mittlerweile die Auslandsschulden des Landes weit überstiegen, und dass dieses Geld auf europäischen Konten lagere bzw. in dortige Immobilien investiert sei. - Darauf stellt Gora eine Frage, die zunächst unbeantwortet bleibt: „Auf welcher Seite stehen sie?“
Didaktische Hinweise
Da auch dann wenig Verständnisprobleme zu erwarten sind, wenn das Publikum keine speziellen Kenntnisse von und über Afrika hat, bedarf der Film keiner umfangreichen Einführung. Sinnvoll ist eine kurze Information über die Person Sembènes bzw. den westafrikanischen Staat Senegal als ein Land, das nach Jahrhunderten französischer Kolonialherrschaft 1960, d.h. im Vergleich zu anderen afrikanischen Staaten relativ früh unabhängig wurde und das, trotz der großen sozialen Probleme, doch als verhältnismäßig demokratisch gilt. Vor dem Hintergrund der Handlung ist auch ein Hinweis auf die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung sinnvoll: ca. 85% Muslime, ca. 5% Christen; ca. 10% Animisten.
Um das an die Vorführung anschließende Filmgespräch zu strukturieren, können ggf. schon einige Zuschauer vor der Vorführung darum gebeten werden, ganz besonders auf einzelne Charaktere und deren Entwicklung zu achten (dies lässt sich jedoch bei ausreichender Gruppengröße auch problemlos im Anschluss an den Film zusammentragen).
Weil der Film die Umstände von Guelwaars Tod nicht streng chronologisch erzählt, sondern sie in Form assoziativer Erinnerungen aufblättert, die als Rückblenden eingeschoben werden, ist es ein möglicher Gesprächseinstieg, die chronologische Rekonstruktion der Ereignisse gemeinsam vorzunehmen. Auch die Aufforderung an die Gesprächsteilnehmer, verschiedene Handlungsebenen zu benennen und sie für eine genauere Analyse kurz zu charakterisieren, lenkt das Gespräch schnell auf die wichtigsten Aspekte des Filmes:
- Die Beziehung zwischen den Eheleuten Guelwaar und Nogoye Marie; allgemeiner: das Verhältnis zwischen Männern und Frauen
- Die Konflikte in der Familie Guelwaars
- Worin unterscheidet sich das Verhalten der Witwen in ihrer Reaktion auf den Tod ihrer Männer? Welcher Wandel ist im Blick auf die Generationen erkennbar?
- Guelwaars Zivilcourage und die Feigheit seiner Gefährten
- Welche Bedeutung haben Religion und Politik für das Leben der Menschen?
- Wie verhalten sich die religiösen Autoritäten - Imam und Priester - im Vergleich zu den politischen - Dorfältester, Gouverneur, Abgeordneter - ?
- Durch welche Phänomene wird die ‘große Politik’ gekennzeichnet?
- Welche Rolle spielt die Korruption auf den verschiedenen Ebenen? Wie funktioniert und was bewirkt sie? (gegenseitiges Misstrauen; wechselseitige Abhängigkeit; es ent-stehen wechselseitige Loyaltiäten, aber die soziale Beziehungen werden auch vergiftet.)
Des weiteren werden im Film sowohl implizit wie explizit einige Thesen formuliert, die sich gut als Ausgangspunkt für ein Streitgespräch eignen. Die Zuschauer können z.B. in einem Rollenspiel Stellung dazu beziehen:
- Der Dialog Nogoye Maries mit Guelwaar über die ‘Arbeit’ der Tochter als Prostituierte. (Guelwaar: „Lieber sehe ich sie als Nutte, als dass sie bettelt.“)
- Dieses Wechselverhältnis von (vermeintlich) bürgerlicher Ehrbarkeit und (unwürdiger) Abhängigkeit wird erneut aufgegriffen im Dialog Barthélémys mit Abbé Pierre (Barthélémy: „Es kann keine Tugend geben im Elend!“)
- Wie und warum wird die Nahrungs- bzw. Entwicklungshilfe aus dem Norden kritisiert? Welche Voraussetzungen werden an eine sinnvolle Entwicklungshilfe geknüpft? Wie ist diese Einschätzung Sembènes zu bewerten? Deckt sie sich mit der bei uns gängigen Kritik an der Entwicklungshilfe oder worin liegen fundamentale Unterschiede? (Zu diesem wichtigen Themenkomplex kann sowohl das u.g. Interview mit Sembène herangezogen werden. Für eine ausführlichere Beschäftigung hiermit ist das Buch von Axelle Kabou hilfreich; s.u. Literaturhinweise)
- Inwieweit lässt sich das hier skizzierte Modell eines multireligiösen Staates auf unsere Situation übertragen? Was bedeutet den Menschen die Religion im Alltag? Was verbirgt sich hinter Verhaltensweisen, die oft vorschnell als ‘Fundamentalismus’ erklärt werden?
- Wie ist das dem Film nachgeschobene Motto (Beginn der Abspanntitel) zu verstehen: „Eine afrikanische Legende des 21. Jahrhunderts.“?
Eine weitere Bedeutungsebene lässt sich im Gespräch über die jeweilige Verwendung der beiden Sprachen - des Französischen bzw. der Landessprache Wolof - erschließen. Die Funktion der jeweils verwendeten Sprache bzw. des Wechsels von einer in die andere ist dramaturgisch immer präzise durchdacht. Besonders deutlich wird dies in zwei Schlüsselszenen. Zum einen im (selbstverständlich französisch geführten) Dialog zwischen Gora und Barthélémy auf dem Weg ins Dorf: „Sie als Senegalese verstehen doch“ - „Ich als Senegalese? Ich bin Franzose, Europäer.“ (Daraufhin verweist Gora sein Gegenüber an den für ihn zuständigen Botschafter). Die zweite wichtige Szene ist in diesem Zusammenhang der in Wolof geführte Dialog Goras mit dem Dorfältesten. Als ihn dieser fragt, „Warum redet ihr (gemeint sind Gora und Barthélémy) vor uns Bauern immer Französisch?“ antwortet dieser: „Bay Aly, er ist ein Weißer“. Darauf der Älteste: „Ein Weißer, so schwarz? Versteht er unsere Sprache nicht?“ Auf das „Nein!“ Goras folgt die Schlussfolgerung des Ältesten: “Schade. Wieder nur eine Kopie.“
Hinter dieser bissigen Charakterisierung Barthélémys als Möchtegern-Weißer, der im Begriff ist, seine Herkunft zu verleugnen, kommt Sembènes auch in anderen Filmen deutlich erkennbares Anliegen zum Tragen, die einfachen Leute zur Kritikfähigkeit zu ermuntern und ihnen Mut zu machen, sich nicht einschüchtern zu lassen von den Mächtigen. Wem die Amtssprache Französisch in erster Linie dazu dient, sich vom einfachen Volk abzusetzen und sich als etwas besseres zu dünken, dem gilt Sembènes ganzer Spott.
Dieser dramaturgisch geschickt genutzte Umgang mit den unterschiedlichen Sprachen dient also auch der Charakterisierung von Figuren und lässt deren Absichten deutlicher erkennen. Dass Gora ein fähiger Beamter ist, wird auch daran erkennbar, dass er selbstverständlich gut Französisch spricht, es aber nicht nötig hat, seine Autorität durch seine Sprachfertigkeit zu unterstreichen. Ganz im Gegenteil. Er ist ein Mann des Volkes und er beweist dies dadurch, dass er sich einerseits selbst gegen die Anmaßungen Barthélémys zur Wehr setzt, andererseits aber auch andere dazu befähigt, diese subtile Form von Herrschaft zu durchschauen, bzw. sie dazu ermuntert, sich aktiv zur Wehr zu setzen.
Da Literatur und Film oft gegeneinander ausgespielt werden, ist hier auch ein interessanter Einstieg für die Einbeziehung des gleichnamigen Buches gegeben (s.u. Literaturhinweise). Zum einen ist im Film die jeweilige Sprachebene immer erkennbar, weil dieser nicht synchronisiert sondern untertitelt ist. Eine der Hauptsprachen des Senegal, das Wolof, unmittelbar hören zu können und damit sowohl den sinnlichen Charakter der Sprache unverfälscht wahrzunehmen, wie auch ihre soziale Einbettung z.B. bei den Begrüßungsritualen zu beobachten, ist ein Zugewinn an Authentizität, den der Film gegenüber dem Buch bietet. Umgekehrt ist die Figurenzeichnung im Buch subtiler, weshalb es sich lohnt, einzelne Passagen in der Buch- und Filmversion miteinander zu vergleichen. Geeignet hierfür ist z.B. die Einführung Nogoye Maries oder die Ausführungen über Goras Herkunft. Dabei kann auch Sembènes Vorwort im Buch herangezogen werden, wo er ausführt, dass bei Guelwaar erstmals der Film dem Buch vorausgegangen sei und welche Schwierigkeiten - aber auch welche künstlerischen Möglichkeiten - sich daraus für ihn ergeben hätten.
Interview mit Ousmane Sembène zu ‘Guelwaar’
F: Ein ‘Verwaltungsirrtum’ ist Ausgangspunkt der Geschichte, die Sie in ‘Guelwaar’ erzählen. Liegt dem ein tatsächliches Ereignis zugrunde, oder entspringt dies ganz der künstlerischen Imagination?
A: Das ist ein authentischer Fall. Und erst kürzlich hörte ich wieder von einem ähnlichen Ereignis. Die Leichen zweier Frauen, die den gleichen Namen trugen, die gleich alt waren und deren Geburtsorte nur 10 km auseinanderlagen, wurden verwechselt. Eine der Frauen war schon bestattet, als die Eltern der anderen Frau den Irrtum beim Abholen des Leichnams bemerkten. So brachten Sie diesen nicht in ihr eigenes Dorf, sondern in das andere, wo man ihre Tochter schon beerdigt hatte. Die Gräber der beiden Frauen liegen nun nebeneinander.
F: Die Figur des Guelwaar ist nicht einfach erfunden, sondern Sie beziehen sich auf einen Staatsmann, den es Ende des 19 Jahrhunderts bei den Diouala gegeben hat, Almany Samori Touré.
A: Er war ein Widerstandskämpfer, der Ende des 19 Jhd. gelebt und 18 Jahre lang für sein Volk gekämpft hat - gegen die Franzosen, gegen die Deutschen und gegen die Engländer.
F: Was hat er erreicht?
A: Er wollte die Identität seines Volkes festigen und seine Eigenständigkeit verteidigen. Aber man kann die beiden Männer nicht direkt vergleichen. Touré war ein richtiger Chef. Aber er wurde nicht als Chef geboren. Er ist es durch harte Arbeit geworden. Sein Schicksal ist sehr bewegend. Er war ein junger Mann von etwa 20 Jahren als seine Mutter festgenommen wurde, um sie zu versklaven.
Dies war 1882/83, also in jener Zeit als die Sklaverei in Europa zu Ende ging. Nachdem er diesen afrikanischen König namens Cissé ausfindig gemacht hatte, suchte er ihn auf und sagte zu ihm: „Nehmt mich zum Sklaven und lasst meine Mutter frei“. Aber der König hat ihn behalten und seine Mutter auch. Dort ist er sieben Jahre geblieben. Er wurde zum Krieger ausgebildet und ist sehr berühmt geworden. Und weil er einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit hatte, haben ihm die anderen Krieger geholfen, zusammen mit seiner Mutter zu fliehen. Er kehrte in sein Dorf zurück, und die Alten ernannten ihn zum Chef der Miliz. Und weil er sehr intelligent war, verstand er es, das ganze niedere Volk um sich zu scharen.
Und so gelang es ihm, die Gesellschaft, in der er lebte, zu verändern. Innerhalb von zehn Jahren hat er so einen eigenen Staat gegründet und wurde dessen Oberhaupt. Zu diesem Staat gehörte ein Teil des heutigen Guinea, ein Teil des Senegal und Teile von Mali bzw. Burkina Faso. Er regierte wie ein König, und stellte sich mit einer großen eigenen Armee dann auch den Armeen der Kolonialmächte entgegen, die ab 1885 in die Region vordrangen.
F: Der Film analysiert in geradezu klassischer Form die Entstehung und den Verlauf eines Konfliktes. Weil die Beteiligten wenig davon halten, dessen Ursachen aufzuklären - nur der Polizeioffizier bemüht sich hierum -, werden die eigenen Fehler systematisch vertuscht und die der anderen vergrößert. Der Film zeigt und analysiert dies mit satirischen Stilmitteln. Wollen sie den Zuschauern damit einen Spiegel vorhalten?
A: Ja, ich bevorzuge den Spiegel, denn bis jetzt zeigen sich die Afrikaner sehr prüde gegenüber ihren eigenen Verschrobenheiten und Fehlern.
F. Der Film verzichtet auf die Gegenüberstellung von Gut und Böse. Denunziert wird stattdessen die Dummheit, die Doppelmoral sowie die Scheinheiligkeit und Arroganz der Mächtigen. Auch der ‘Held’ Guelwaar bleibt von dieser Kritik nicht verschont. Entspricht dies Ihrer Sicht der Realität? Ist dies die Perspektive eines alten weisen Mannes, dem nichts fremd ist und der schon alles gesehen hat, oder ist dies eher eine erzählerische Strategie, um die Zuschauer leichter zu erreichen und besser überzeugen zu können?
A: Letzteres trifft zu. Wir sind weder alle gut, noch sind wir alle schlecht. Jeder nimmt was er will und kümmert sich nicht um das übrige. Im afrikanischen Kontext sind wir nicht besser oder schlechter als die Menschen anderswo. Aber es gibt keine Tugend im Elend und in der Armut!
F: Gleich zu Beginn des Abspanns charakterisieren Sie die Geschichte des Filmes als eine „Legende des 21. Jahrhunderts“. Damit ist sicherlich in erster Linie die Haltung jener Jugendlichen gemeint, die in der letzten Sequenz des Filmes die Nahrungsmittel, mit denen das Dorf bestochen werden soll, von den Fahrzeugen werfen und mit ihren Karren darüberfahren. Dies, wie die an früherer Stelle gezeigte Dankesfeier für die Entwicklungshilfe aus Europa, sind deutliche Anklagen gegen die Nahrungsmittelhilfe. Meinen Sie, dass diese Hilfe nur den Helfern nützt?
A: Afrika wird nun seit 35 Jahren von Europa geholfen. Aber die Misere wird immer größer. Und die Europäer schicken immer wieder Geld. Doch dieses fließt dann auf Schweizer Bankkonten. Deshalb muss man sich doch fragen, ob es nicht auch an den Afrikanern liegt, die sich fest darauf verlassen, dass diese Hilfe immer weiter fortgeführt wird? Wenn neben ihnen ein Mensch hinfällt, helfen sie ihm natürlich wieder auf die Beine. Und wenn das Nachbarhaus brennt, helfen sie natürlich zu löschen. Und man hilft auch, das Haus wieder aufzubauen. Aber danach muß man auch wieder selber arbeiten. Und der Nachbar muß sein Haus selbst vollends fertigstellen. Aber in Afrika ist dies nicht der Fall!
Hier zählt man auf die Hilfe! - Man hat hier Regierungen, die viel zu teuer bezahlt sind im Vergleich zur Leistungsfähigkeit des jeweiligen Landes. Ein Abgeordneter des senegalesischen Parlaments hat im Monat zwischen 80.000 und 100.000 Franc-CFA. Eine Bauernfamilie mit 5 Personen hat ungefähr 150 000 F für das ganze Jahr. Wem hilft man also, der Bourgeoisie oder den Bauern? Und wenn der bourgeoise Afrikaner über Armut klagt, dann meint er sich und nicht die Bauern! Deshalb ist diese Hilfe, die man den Afrikanern gibt, Gift für die Entwicklung Afrikas. Man muss feststellen, dass diejenigen die regieren, ohne diese Hilfe von außen gar nicht regieren können. Und die Schulden, die dadurch entstehen, bringen überhaupt nichts. Im Augenblick wohnt man im frankophonen Westafrika einer Rekolonialisierung bei, die die legalsten Wege geht, die man sich nur vorstellen kann. So übernehmen z.B. private französische Unternehmen die Kontrolle über die Wasser- und Energieversorgung der Hauptstädte; die Kontrolle über die Kommunikation und die Fernsehgesellschaften. Und was bleibt dann noch übrig? Nichts!
F: Der Film bleibt ja nicht bei einer abstrakten Zurückweisung der Hilfe stehen. Guelwaar selbst macht es sich ja zu einfach. Dies zeigt sich spätestens im Dialog der Witwe mit ‘der Hülle’ Guelwaars - seinem Anzug, denn der Leichnam ist weg. Dies ist für mich eine der eindrucksvollsten Szenen des Filmes.
A: Ja, das ist sehr intim. Das ist Afrika nackt.
F. In diesem erzwungenermaßen einseitigen Dialog wirft ihm seine Frau vor, dass er zu Lebzeiten nichts für seine Familie getan hätte. Was wäre also zu tun?
A: Ich habe nichts anderes getan als jemanden auf eine mythologische Art und Weise sterben zu lassen. Denn: jedes Volk braucht einen Helden. Denken Sie an den Satz von Bertolt Brecht: Unglück den Völkern, die einen Helden brauchen!
F. Eine weitere Stärke des Filmes ist für mich die, dass es kein zurück zur Tradition gibt.
A. Nein, die gibt es nicht. Die Vergangenheit kommt nicht wieder. Das vergangene Afrika bedarf vielmehr der historischen Einordnung. Wann ist etwas geschehen? - Vor der Sklaverei? Während der Sklaverei? Vor der Kolonialisierung oder während dieser? Welcher Epoche entspricht dies im Rahmen der Menschheitsgeschichte? Blickt man auf die Geschichte der gesamten Menschheit, so kommen wir nicht umhin festzustellen, dass die schwarzen Chefs am Verkauf ihrer Brüder teilgenommen haben. In der Kolonialzeit haben die Schwarzen auch an der Eroberung ihrer eigenen Länder teilgenommen, auch an der Eroberung ihrer Väter und Mütter. Das ist die historische Realität.
F. Um auf einen anderen Themenbereich zu sprechen zu kommen: Können Islam und Christentum alleine für sich genommen die Spielregeln für ein friedliches Zusammenlaben der Menschen sichern? Oder bedarf es vor allen Dingen eines starken laizistischen Staates, der dies zu gewährleisten hat - in etwa so, wie es in der Figur des Polizeioffiziers personifiziert wird?
A: Alle Staaten Westafrikas sind laizistisch. Aber es gibt dort eine ‘transkulturelle’ Basis, die es Afrika erlaubt, alle Religionen zu absorbieren. Wir haben dies z.B. 1992 beobachten können, als der Papst nach Dahomé in Benin gereist ist und er dort die traditionellen Chefs, die Fetischeure, getroffen hat; also die Vertreter der afrikanischen Religionen, die sich derzeit allesamt stark entwickeln. So hat sich die katholische Religion in synkretistischer Weise transformiert. Auch mit dem Islam ist dies geschehen. Was ich aber überhaupt nicht verstehe, ist dieser große Glaube der Afrikaner an die Götter. Es ist eine Stärke und zugleich eine Schwäche. Aber so ist Afrika. Es interessiert mich, aber ich kann es weder erklären noch kann ich es verstehen. Sie glauben an alles. Sie vermischen aber auch alles. Sie sind katholisch oder sonstwas, aber es bringt sie nicht weiter. Dann kommt noch der westliche Lebensstil als Referenzrahmen dazu - das ist eines der großen Probleme, denen sich Afrika derzeit gegenübersieht.
F: Ich möchte nochmals auf die Rolle des säkularen Staates zurückkommen. Muss dieser für den Frieden sorgen, oder kommen die Religionsgemeinschaften auch alleine miteinander klar? Der Imam und der Priester stehen doch dafür, dass es ein Miteinander geben kann, oder?
A: Die kommen auch ohne Staat miteinander klar. In kleinen Staaten fallen manchmal auch die religiöse und die politische Verantwortung zusammen. Und wenn das staatliche Gesetz oder die Scharia nicht ausreichen, dann zieht man die Tradition mit zu Rate. Das ist wie wenn man das heiße und das kalte Wasser in einem Gefäß zu trennen sucht.
F: Katholiken und Muslime reagieren relativ feindlich aufeinander, halten aber sofort zusammen, als sie befürchten müssen, Fetischeure seien am Werk.
A: Es sind nicht die besten Freunde geworden. Der Imam hat die Regeln seiner Religion zwar durchbrochen, um die Leiche zu holen. Aber dies hat er nicht aus Großmut getan, sondern er will keine katholische Leiche in seinem Friedhof haben. Als sich die Christen mit dem Sarg und dem Kreuz darauf dem Friedhof nähern, hält er sie an. Aber so streng geht es nicht überall zu in Senegal. Im Norden ist es generell anders als im Süden. In der Casamance gibt es z.B. nur jeweils einen Friedhof für die Dörfer. Und an Allerheiligen gedenken die Katholiken aller Toten, auch den Muslimen. Bei den Moslems besucht man freitags seine Toten.
Ein anderes Beispiel für diese großen Widersprüche, die es in Afrika gibt: manchmal verlangen die Fetischeure, man solle einen Knochen vom Friedhof mitbringen, wenn man sie wegen einer Krankheit aufsucht. Dabei interessiert es sie aber nicht, ob es ein katholischer oder ein muslimischer Knochen ist. Afrika ist im Augenblick schwer zu fassen. Viele afrikanischen Staatschefs, die auf europäischen Universitäten gute Noten erhalten haben, ernennen sich Fetischeure und Marabuts als Berater.
F: Wie erklären Sie sich das?
A: Wenn ich es mir erklären könnte, hätte ich einen guten Film darüber gemacht!
F: Die Botschaft dieses wie auch ihrer früheren Filme ’Mandabi’ oder ’Xala’ richtet sich ja nicht nur an die Menschen im Senegal. In welchen Ländern wurde ’Guelwaar’ schon gezeigt? Und wie reagierte dort die Öffentlichkeit?
A: Ich habe meine Filme in allen frankophonen Ländern gezeigt. Demnächst werde ich nach Kamerun und Gabun reisen, um dort über Kino und Kultur zu reden.
Eine Schwierigkeit ist dabei die, dass die Leute bei uns glauben, die Künstler könnten die Probleme lösen. Und so kommen die Leute und stellen dir Fragen, weil sie glauben, man könne mit einem Film, einem Bild oder mit der Musik die Probleme lösen. Manchmal gebe ich deshalb die Frage zurück und frage sie, wozu braucht ihr Künstler? In einer Situation wie der unsrigen, in wirtschaftlich derart schwierigen Zeiten, warum braucht ihr da Kunst? Ich bin nicht gewählt, niemand hat für mich gestimmt. Und dennoch verbringe ich meine ganze Zeit damit, Fragen zu beantworten, über Afrika zu sprechen. Mit Fehlern natürlich, teils auch mit Ignoranz. Aber die Leute hören mir zu, sprechen mit mir. Und wenn sie wissen, dass ich einen Film mache, dann bringen sie mir ihre Nachrichten in den Busch, erzählen mir, was ihnen selbst oder ihren Nachbarn zugestoßen ist. Sie haben den Film, den ich machen will, dann schon im Kopf. Und sie sagen mir, dies muss in deinen Film, jenes musst du sagen.
F: Werden die Filme im regulären Kinoverleih gezeigt oder sind es spezielle Veranstaltungen, zu denen Sie eingeladen sind, um die Filme zu zeigen? Wo gibt es eine reguläre Kinoauswertung?
A: Im Senegal, in Burkina Faso, in der Elfenbeinküste und in Mali gibt es Verleihstrukturen. Aber in anderen Ländern ist es schwieriger. In Kamerun, Tschad und in Zentralafrika habe ich einen Verleih. Aber Afrika ist ja riesig. Nur hier in Zürich erscheint Afrika vielleicht so klein wie die Schweiz!
(Dieses Gespräch wurde von Bernd Wolpert anlässlich der Filmreihe Cinemafrica, im November 1995 in Zürich geführt. Übersetzt wurde es von Bärbel Mauch.)
Über den Regisseur
Ousmane Sembène wurde 1923 in Senegal geboren. Soldat in der franz. Kolonialarmee; danach arbeitete er als Fischer, Mechaniker und Maurer. Zu seinen Erfahrungen als Docker in Marseille schrieb er 1956 seinen ersten Roman le docker noir. Weil in Afrika mit Filmen mehr Menschen zu erreichen sind als mit Büchern, studierte er an den Moskauer Gorki-Studios Film. 1962 gründete er die erste unabhängige afrikanische Produktionsgesellschaft. Seitdem arbeitet er sowohl als Romancier wie Filmemacher.
Filme (Auswahl):
1963 Borom Saret
1966 La Noire de...
1968 Mandabi, die Postanweisung
1974 Xala
1976 Ceddo
1992 Guelwaar
Literaturhinweise
Papa Samba Diop u. a.: Ousmane Sembène und die senegalesische Erzählliteratur. München: text + kritik, 1994; darin: Heinz Hug: „Vom alltäglichen Leben des Volkes und seiner Größe sprechen“ - Der Schriftsteller und Filmemacher Ousmane Sembène. S. 53-147
Ousmane Sembènes Roman Guelwaar - Ein afrikanischer Heldenroman ist, mit einem Nachwort von Heinz Hug, 1997 im Wuppertaler Peter Hammer Verlag erschienen. Dort erschien auch Sembènes Roman Xala in einer neuen Übersetzung (1997).
Im Berliner Oberbaum Verlag wurden die Romane Weiße Genesis (1983), Die Postanweisung (1988) und die Erzählungen Der Voltaer - Niiwam - Taaw (1992) veröffentlicht. Der Frankfurter Lembeck Verlag brachte 1988 den Roman Gottes Holzstücke heraus.
Axelle Kabou, Weder arm noch ohnmächtig, Basel 1993, Lenos-Verlag
Marie-Hélène Gutberlet / Hans-Peter Metzler (Hrsg.), AFRIKANISCHES KINO
Horlemann-Verlag, Unkel/Rhein; Bad Honnef 1997
Medienhinweise
Xala, Ousmane Sembène, Senegal 1974, 120 Min., Spielfilm, OmU, 16mm: Archiv EZEF
Mossane Safi Faye, Senegal/Frankreich/Deutschland 1996, 105 Min., Spielfilm, OmU, 16mm: Archiv EZEF
Stichworte
Entwicklungshilfe / Religion (Islam und Christentum; religiöse Toleranz) / Korruption / Afrikanischer Spielfilm / Komödie / Literatur und Film
Bernd Wolpert
Februar 1998