Spielfilm von Solveig Hoogesteijn
Venezuela, Spanien 2005, 102 Minuten, OmU
Inhalt
„Der Heilige Thaddäus, Schützer der Verzweifelten! Der Heilige Markus, der wilde Tiere zähmt! Die Heilige Jungfrau von Carmen! Drei Stück für 1000 Peseten, eins für 500“, preist die elfjährige Maroa die Heiligenbildchen an, mit denen sie auf der Straße ein paar Scheine verdient. Für Stammkunden hat sie auch Pornozeitschriften im Angebot, die bringen mehr ein. Den Erlös kassiert ihre meist übellaunige und lieblose Großmutter Brigida, eine ehemalige Prostituierte, die sich mit dem Verkauf von Lotterielosen, als Wahrsagerin und mit anderen krummen Geschäften durchs Leben schlägt. Maroa wohnt bei Brigida auf den steilen Hügeln des Armenviertels „El Guarataro“ in Caracas, wo Bandenkriminalität und der Sound nächtlicher Schießereien, Rap und Salsa zum Alltag gehören.
Das aufgeweckte Mädchen ist Analphabetin, weiß jedoch, wie man sich auf den Straßen der venezolanischen Hauptstadt behauptet. Mit ihrem zwei Jahre älteren Freund Carlos zieht sie auch mal los, um zu klauen oder Autos zu knacken. Eines Tages hört sie dabei fasziniert in einer Tiefgarage beim Klarinettenspiel eines Musikers ein paar Takte Mozart und entdeckt ihre Leidenschaft für die ihr unbekannten Klänge. Carlos ist der Anführer einer Jugendbande, die unter einer Brücke haust. Als Maroa es bei ihrer Großmutter nicht mehr aushält, will sie mit den Jungs leben. Um in der Bande aufgenommen zu werden, verrät sie Carlos einen geplanten Drogendeal, an dem auch der Freund ihrer Großmutter beteiligt ist. Bei der Übergabe erschießt Carlos einen Kurier, Maroa wird von der Polizei geschnappt.
Der korrupte Polizist Ezekiel lässt sich von den Dealern im Viertel bezahlen und weiß von der Freundschaft zwischen Maroa und Carlos. Gewaltsam will er sie zwingen, ihm Carlos´ Versteck zu verraten. Maroa wehrt sich und landet in einem geschlossenen Heim. Dort begegnet sie dem spanischen Musiklehrer Joaquín, der ihre Begabung und ihre Leidenschaft für die Musik erkennt. Gegen den Widerstand der Heimleitung nimmt er das Mädchen in seine Orchesterklasse auf. Die talentierte und hartnäckige Maroa übt Klarinette, lernt lesen und schreiben. Zwischen Joaquín und ihr entwickelt sich eine nicht ganz einfache Freundschaft.
Maroas Entwicklung verläuft keineswegs geradlinig, im Heim spitzen sich ihre Probleme zu: Der Polizeibeamte Ezekiel erscheint stinkwütend und droht damit, Brigida zu töten, falls das Mädchen ihm nicht endlich verrate, wo sich Carlos versteckt. Maroa schweigt weiter beharrlich, obwohl Carlos inzwischen auch den Freund der Großmutter erschossen hat, zu dem das Mädchen ein gutes Verhältnis hatte. In Joaquíns Begleitung besucht Maroa die todkranke Brigida. Die Großmutter verstößt ihre Enkelin, weil diese Carlos weiterhin deckt. Dann stirbt während eines Badeausfluges der Heim-schülerInnen Maroas Orchesterkollege Wilmer, der bei einem wichtigen Konzert das Solo spielen sollte. Maroa greift eine Mitschülerin mit einer abgeschlagenen Flasche an, als diese ihr vorwirft, dem Jungen nicht geholfen zu haben, weil sie neidisch auf dessen Klarinettenspiel gewesen sei. Das stolze Mädchen wollte nur nicht eingestehen, dass sie nicht schwimmen kann. Sie wird zu Strafarrest verdonnert und fragt sich beim Üben in der Zelle: „Ist Gott in der Musik oder ist die Musik in Gott“.
Joaquín will sicher gehen und bittet ein anderes Mädchen, das Solo beim Auftritt zu spielen. Maroa ist eifersüchtig und läuft nach dem Konzert weg. Auf dem Sterbebett warnt Brigida ihre Enkelin vor Ezekiel, Maroa sei in Gefahr und solle aus dem Viertel verschwinden. Als Joaquín das Mädchen vor seiner Türe findet, versteckt er sie in seiner Wohnung. Maroa ist verliebt und dankbar. Sie will dem Lehrer den Haushalt führen. Außerdem meint sie, er brauche dringend eine Frau. Maroa lotet die Grenzen der erotischen Spannung zwischen den beiden aus und inszeniert sich als Lolita. Joaquin schluckt und weist sie zurück.
Zum Geburtstag will Maroa Joaquín eine besondere Freude machen. Sie backt Kuchen, schmückt die Wohnung und bringt eine ältere Freundin mit. Am nächsten Morgen stürmt die Polizei die Wohnung mit dem Hinweis, die Putzfrau habe sie wegen des Missbrauchs von Minderjährigen informiert. Dann geht alles schnell. Joaquín wird nach Spanien abgeschoben. Zuvor verspricht Maroa ihm, ins Heim zurück zu kehren und weiter im Orchester zu spielen. Jahre später erhält Joaquín einen Brief seiner ehemaligen Schülerin mit einer Konzerteinladung. Als berühmte Klarinettistin gastiert sie mit einem Orchester in Madrid.
Würdigung und Kritik
„Ein starkes pretty girl, das es aus dem kriminellen Slum auf internationale Bühnen schafft?“ Gäbe es in Venezuela nicht die reale Erfolgsgeschichte der staatlich geförderten Musikerziehung für marginalisierte Kinder und Jugendliche, könnte man „Maroa“ leicht als Sozialmärchen kritisieren. So aber ist der sympathische Film trotz einiger kitschiger Momente vor allem eine Hommage an das weltweit beispiellose „El Sistema“, das landesweite Netzwerk der Kinder- und Jugendorchester. „El Sistema“ will insbesondere Kindern und Jugendlichen aus prekären sozialen Verhältnissen über die Erfahrung des gemeinsamen Musizierens eine andere Lebensperspektive ermöglichen. Schon in den 1970er Jahren erkannte der Musiker und Wirtschaftswissenschaftler José Antonio Abreu das Potential klassischer Musik und initiierte unter dem Leitmotiv „Tocar y Luchar“, („Spielen und Kämpfen“) die Jugendorchester-Bewegung.
Schlüsselfunktion hat im Film die Musik Mozarts, die Klarinette ist Sinnbild eines anderen Lebens. Die aufklärerische Kraft der klassischen Musik setzt Ästhetik gegen die Sprache der Gewalt. Ein Konzert-besuch in einem Erziehungsheim und das „Spielen und Kämpfen“ der Ensemblemitglieder hat auch die Regisseurin Solveig Hoogesteijn berührt: „Über das Gesicht der Flötistin zieht sich vom Ohr bis zum Kinn eine Narbe. Das kontrastiert mit dem funkelnden Stolz ihres Blickes, während sie virtuos ein schwieriges Stück meistert. Eine achtjährige Geigerin mit ernstem Gesicht versucht, die Verbrennungsnarben auf ihrer Wange mit einem Haarbüschel zu verdecken, das sich beinahe in den Saiten ihres Instruments verwickelt. Und da war die fünfzehnjährigen Cellistin, die ihr Instrument wie eine Waffe hält, während sie Mozart und Bach spielt“.
„Maroa“ steht für diese Bilder. Hoogesteijn will zeigen, wie es möglich ist, dass klassische Musik und ein Orchester das Leben dieser Kinder verändern. Dazu taucht sie im Film in die Welt eines stolzen und sturen Mädchens an der Grenze zur Pubertät ein und entwickelt langsam deren Charakter. Nicht die Musik steht im Vordergrund des Geschehens, sondern die persönliche und emotionale Entwicklung des Mädchens. Ruhig dokumentiert die Kamera reale Schauplätze in den Armenvierteln von Caracas und stellt halbdokumentarisch den von Kriminalität, Polizeigewalt und Behördenwillkür geprägten Alltag der Bewohner/innen dar. Besonders lebt „Maroa“ vom hervorragenden Spiel der Hauptdarstellerin Yorlis Domínguez. Die Regisseurin entdeckte das Mädchen zufällig, nachdem sie erfolglos schon Hunderte Mädchen gecastet hatte. Yorlis Domínguez selbst ist in einem barrio am Stadtrand von Caracas aufgewachsen und überzeugt in der Rolle des Straßenmädchens zwischen Unschuld, Gewaltbereitschaft und Sinnlichkeit.
In der zweiten Hälfte verliert der Film etwas an Frische, geht es doch viel um die aufgeladene Beziehung zwischen Maroa und Joaquín. Hoogesteijn war es wichtig herauszuarbeiten, „wie diese Personen sind, die sich mit mönchischer Geduld täglich der unglaublichen Aufgabe stellen, das Leben zu transformieren – von Kindern, die in der Gosse leben, hin zu Jugendlichen, die Freude am Leben haben“. Im Film ist die emotionale Bandbreite des Schülerin-Lehrer-Verhältnisses zwischen Freundschaft, Verliebtheit und Zuneigung manchmal schwer auszuhalten. Gut, dass die Geschichte nicht ungebrochen mit dem Bild des oft naiven und meist verständnisvollen Lehrers endet. Dafür wird Joaquín Missbrauch Minderjähriger vorgeworfen. Wie alt Maroas Freundin wirklich ist, mit der er die Nacht verbringt, bleibt ungeklärt. Ein Gerichtsverfahren findet nicht statt. Die darauffolgende Abschiebung des Spaniers ist ein Hinweis auf die Abrechnung der Bolivarischen Republik Venezuela mit der Kolonialgeschichte Lateinamerikas.
Die Filmemacherin Solveig Hoogesteijn
Solveig Hoogesteijn lebt und arbeitet als Drehbuchautorin und Regisseurin in Venezuela. Die in Schweden geborene Tochter eines Holländers und einer Deutschen kam schon 1947 als Kleinkind in das südamerikanische Land, wohin ihre Familie emigrierte. An der Hochschule für Film und Fernsehen in München studierte sie Film, an der Zentralen Universität in Caracas Literatur und Philosophie. Sie sei eine Achtundsechzigerin und spüre den Drang, die Gesellschaft zu ändern, meint Hoogesteijn, die eine der erfolgreichsten venezolanischen Filmmacherinnen ist.
Ihr Spielfilmdebüt „Das Meer der verlorenen Zeit“ basiert auf einer Erzählung von Gabriel García Márquez. Meist jedoch sucht und findet sie die Geschichten für ihre Filme in den sozialen Realitäten Venezuelas. „Macú, die Frau des Polizisten“ handelt von einer Elfjährigen, die einen 20 Jahre älteren Polizisten heiratet. Als sie sich in einen jungen Mann verliebt, entführt der Ehemann diesen. Der Film basiert auf einer realen Geschichte und war in den venezolanischen Kinos der meistbesuchte einer einheimischen Regisseurin.
Mit "Das Meer der verlorenen Zeit" gewann Solveig Hoogesteijn 1981 auf dem Festival in Havanna einen Preis. „Maroa“ wurde mit dem Publikumspreis beim Film Festival in Biarritz 2005 ausgezeichnet.
1970 Vassilis
1971 Professor Galetzki
1971 Kinderspiele
1972 Das Haus im Grünen
1973 Essays über Brecht
1975 Puerto Colombia
1977 El mar del tiempo perdido (Das Meer der verlorenen Zeit)
1980 Manoa
1981 Deutschland kann manchmal sehr schön sein
1987 Macú, la mujer del policía (Macú, die Frau des Polizisten)
1994 Santera
2005 Maroa
Hintergrund-Informationen
Venezuela
Das im nördlichen Südamerika gelegene Land grenzt im Westen an Kolumbien, im Osten an Guyana und im Süden liegt Brasilien. Mit einer Fläche von 912.050 km² ist Venezuela etwa 2,5 Mal so groß wie Deutschland. Von den rund 30 Millionen Einwohner/innen definieren sich laut Selbstzuschreibung 33 Prozent als Mestizen, 31 Prozent als Weiße, 21 Prozent als Mulatten, vier Prozent als Indigene und acht Prozent als Schwarze. Etwa 93 Prozent der Bevölkerung lebt in urbanen Räumen. Die Haupt-stadt Caracas liegt in Küstennahe auf einer Höhe von 800 Meter. Man schätzt, dass im Großraum Caracas acht bis zehn Millionen Menschen leben.
Ein Drittel der Bevölkerung des Landes ist jünger als 17 Jahre. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez im Jahr 1999 wurde die Armut im Land mittels verschiedener Sozialprogramme stark gesenkt. Dennoch lebten im Jahr 2011 noch knapp ein Drittel aller Kinder in Armut, 17,1 Prozent davon in extremer Armut. In Lateinamerika ist Venezuela mit 2,2 Prozent das Land mit der niedrigsten Rate an Kinderarbeit. Trotzdem arbeiten rund 1,1 Millionen Kinder im informellen Sektor, 300.000 sind in der formellen Ökonomie beschäftigt und 206.000 in illegale Aktivitäten wie z.B. Drogenhandel verwickelt. Ein Viertel der Kinder erhält keine Vergütung für ihre Arbeit. Die soziokulturelle und ökonomische Ausgrenzung von Jugendlichen ist weiterhin hoch, eine Million hat weder Arbeit noch Studienplatz.
Venezuela ist ein stark polarisiertes Land und geprägt von harten innenpolitischen Auseinandersetzungen: ein missglückter Putschversuch der Opposition im Jahr 2002, der Streik in der Erdölindustrie 2002/03, sowie ein Wahlboykott der Opposition bei den Präsidentschaftswahlen 2005. Nach dem Tod von Präsident Hugo Chávez im März 2013 wurde neu gewählt. Nicolás Maduro von der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV, bis dahin Vizepräsident und Wunschnachfolger von Chávez, wurde mit einer knappen Mehrheit von 50,61 Prozent der Stimmen von der Wahlbehörde zum Sieger erklärt. Henrique Capriles Radonski, der Kandidat des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit MUD erhielt 49,12 Prozent der Stimmen.
Die Gesellschaft ist seit langem schon in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite stehen die AnhängerInnen der „Bolivarischen Revolution“, ein Projekt, das der verstorbene Hugo Chávez seit 1999 vorantrieb. Der Begriff „bolivarisch“ bezieht sich auf den Nationalhelden und Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar (1783 bis 1830), der als Ikone des lateinamerikanischen Befreiungskampfes gegen die Eroberer verehrt wird. Er steht heute für eine antiimperialistische Haltung gegenüber den USA sowie den ehemaligen europäischen Kolonialmächten, für die Idee der kontinentalen Einheit Lateinamerikas und fortschrittliche Konzepte im Sozialbereich. Selbstorganisationsprozesse der Bürger/innen werden unterstützt. Die Umsetzung dieser Vision basiert auf der Umverteilung der Einnahmen aus den Erdöl-vorkommen. Venezuela hängt am Öl, auf das 96 Prozent der Exporte entfallen. Mit den Einnahmen finanzierte Chávez als „Missionen“ bezeichnete Programme im Bereich Bildung, Wohnen und Gesundheit. So wurden spürbare Verbesserungen für die armen Bevölkerungsschichten erzielt. An Projekten wie „Barrio Adentro“ und „Milagro“ waren Tausende kubanische ÄrztInnen beteiligt. Im Gegenzug zu den nahezu kostenlosen Öllieferungen nach Kuba garantierten die von Fidel Castro geschickten Mediziner/innen der armen Bevölkerung Venezuelas die medizinische Grundversorgung in ihren Wohnvierteln. Trotz des Ausbaus der Sozialprogramme hat die Gewaltkriminalität seit Beginn des bolivarischen Prozesses zugenommen.
Auf der anderen Seite steht ein Oppositionsbündnis, das der Regierung vorwirft, Misswirtschaft sowie einen autoritären Führungsstil zu betreiben und die hohe Kriminalität nicht in den Griff zu bekommen. Venezuela ist eines der unsichersten Länder in Lateinamerika. Die Mordrate ist eine der höchsten weltweit, es herrscht weitgehende Straflosigkeit sowie Korruption bei der Polizei und Klassendenken im Justizapparat. Die Polizei selbst ist für rund zehn Prozent der Morde verantwortlich. Zudem verzeichnet das Land mit 63 Prozent (Stand August 2014) die weltweit höchste Inflationsrate, und die Lebensmittelpreise sind im Vergleich zum Vorjahr um 90 Prozent gestiegen. Regelmäßig kommt es zu Engpässen in der Versorgung mit Alltagsgütern. Fast alle Lebensmittel werden importiert, aber die Devisen zur Abwicklung der Einkäufe reichen nicht mehr aus. Die Dollarreserven sind in den letzten zwölf Monaten um einen Drittel gesunken. Die Gründe dafür liegen in der unproduktiven Wirtschaftsstruktur sowie der hohen Korruption im privaten Sektor und bei der Beschaffung und Verteilung der Waren. Im Verlauf von massiven Protesten gegen die Regierung ab Februar 2014 wurden mehrere Dutzend Menschen getötet und Hunderte verletzt.
Soziale Kulturarbeit „El Sistema“ - das Netzwerk der Jugend- und Kinderorchester
José Antonio Abreu lud 1975 einige Jugendliche in eine Tiefgarage in Caracas zum Musizieren ein. Das sprach sich herum, wenige Tage später waren genügend Interessierte für ein Orchester zusammen gekommen. Abreu wollte die elitären Strukturen, die damals in der klassischen Musikszene in Venezuela herrschten, aufbrechen. Er hatte die Vision, allen Kindern und Jugendlichen im Land eine fundierte musikalische Ausbildung zu ermöglichen. Über die Jahre entwickelte sich das staatlich geförderte kulturelle Projekt „El Sistema“.
Mittlerweile werden 500.000 Kinder und Jugendliche in 371 Musikschulen in allen Provinzen des Landes ausgebildet. Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft können sie dort ein Instrument erlernen, in einem Orchester mitwirken oder im Chor singen. Drei Viertel der Schüler/innen, die in einer Einrichtung des Netzwerkes musizieren, gelten als arm. Der Unterricht ist kostenfrei, die Instrumente werden gestellt. Aufgenommen werden Kinder ab zwei Jahren. Sobald die Kinder ein wenig spielen können, geben sie ihr Wissen an jüngere Kinder weiter. Abreus musikpädagogischer Ansatz basiert darauf, dass niemand lange alleine übt. Die Schüler/innen sollen stattdessen lernen, aufeinander zu hören, Verantwortungsgefühl entwickeln und sich als Teil eines sozialen Ganzen fühlen. Denn Abreu ist überzeugt davon, „dass Ausgrenzung die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels ist“.
Zudem genießen die Kinder in den Musikschulen eine sichere und gewaltfreie Umgebung. Die rund 15.000 Lehrer/innen des Netzwerkes arbeiten mit örtlichen Sozialdiensten, Kinderkrankenhäusern und Jugendstrafanstalten zusammen. Sie binden die Eltern ein und sorgen auch für fehlende Nahrung und Kleider. Wer in das System aufgenommen wird, muss bereit sein, regelmäßig zu üben. Nach der Schule und zusätzlich zu den Hausaufgaben wird an sechs Tagen in der Woche musiziert.
Zum Netzwerk gehören mittlerweile 285 Orchester für Vorschulkinder, 220 Orchester für Kinder zwischen sieben und 16 Jahren, 180 Jugendorchester für 16- bis 22jährige sowie 30 professionelle Orchester. Aus den Schüler/innen des Orchestersystems sind einige weltweit bekannte Musiker hervorgegangen. Gustavo Dudamel dirigiert das international bekannte Jugendsymphonieorchester Simón Bolívar, der Kontrabassist Edicson Ruiz war mit 17 Jahren das jüngste je aufgenommene Mitglied der Berliner Philharmoniker.
Finanziert wird das Orchestersystem vor allem vom Staat, es erhält auch Unterstützung von internationalen Organisationen wie der UNESCO und der Weltbank. Abreu meint, der Staat habe verstanden, dass „El Sistema“ vor allem ein Sozialprojekt zur Förderung allgemein menschlicher Qualitäten ist. „Denn für die Kinder, mit denen wir arbeiten, stellt Musik fast den einzigen Weg zu einem menschenwürdigen Dasein dar.“ Für seinen Einsatz für „El Sistema“ erhielt Abreu 2001 den alternativen Nobelpreis.
Didaktische Hinweise u. Empfehlungen für Zielgruppen
Der Film eignet sich besonders für die Arbeit mit Schüler/innen ab zwölf Jahren.
Maroa bietet vielfältige politische, soziale, landeskundliche und interkulturelle Themen, die sich in den Fächern Musik, Sozialkunde/Politik, Erziehungswissenschaften und Spanisch bearbeiten lassen. Der Film kann auch in der Erwachsenenbildung eingesetzt werden und eignet sich für die Fortbildung von Lehrer/innen und Studierenden der Sozialarbeit.
Vorschläge für die Arbeit zum Film in der Schule:
Hinweis: Im Film wird dem Lehrer von den Behörden sexueller Missbrauch einer Minderjährigen vorgeworfen. Es bleibt uneindeutig, wie alt Maroas Freundin wirklich ist und ob der Vorwurf einer juristischen Überprüfung standhalten würde. Die Regisseurin hat das heikle Thema bewusst in einem Graubereich angesiedelt, der Interpretationen offen lässt. Wir möchten deshalb an dieser Stelle auch keine konkreten Vorschläge machen, wie und ob dieses sensible Thema aufgegriffen werden sollte. Die Grenzen sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen sowie Kindern sollten von den Lehrer/innen mit jeder Klasse individuell thematisiert werden.
- Carlos hat den Freund der Großmutter erschossen. Auch Maroa hatte eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kubaner. Diskutieren Sie die Frage, warum Maroa dennoch zu Carlos hält. Welche Werte sind Maroa wichtig? Was würden die SchülerInnen Maroa raten?
- Bitten Sie die SchülerInnen, einen inneren Monolog zu der Szene zu schreiben, in der Maroa im Strafarrest für das Konzert übt.
- Thema Musik: Die SchülerInnen interviewen sich gegenseitig. Wer spielt ein Instrument? Wer spielt und/ oder hört wann welche Musik? Welche Gefühle verbinden die SchülerInnen mit welcher Musik?
- Thema Straßenkinder: Vergleich von Lebensverhältnissen. Einstieg könnte die Szene sein, in der Carlos Maroa zu McDonalds einlädt. Bitten Sie die SchülerInnen, in Kleingruppen Dialoge zu schreiben zwischen venezolanischen Straßenkindern und Kindern, die in Deutschland einen Hamburger essen gehen.
- Thema Familie: Wohin können sich Kinder in Deutschland wenden, die nicht mehr zu Hause leben möchten?
- Thema Kinderarbeit: Recherche zu Kinderarbeit in verschiedenen Ländern: Ab welchem Alter dürfen Kinder z.B. in Deutschland, Venezuela oder Indien arbeiten? Wie viele Stunden täglich? Werden sie entlohnt?
- Thema Kinderrechte: Umfrage zum Thema „Welche Rechte haben Kinder und Jugendliche“? Recherche darüber, wo diese Rechte verankert sind. Wer ist für die Einhaltung von Kinderrechten verantwortlich? An wen können sich Kinder in Deutschland wenden? Welche Rechte haben unbegleitete, minderjährige Flüchtlingskinder in Deutschland?
- Thema Venezuela: Brainstorming zum Land. Gruppenarbeit Internetrecherche, allgemein und zum Thema Wirtschaft und Sozialprogramme.
- Thema Kolonialgeschichte/Unabhängigkeit: Arbeiten Sie mit der Szene, in der ein Straßenmädchen Schutz vor dem Regen unter der Statue des Nationalhelden Simón Bolívar sucht. Für was steht der Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar heute in Venezuela?
Links
- Weblog für Freundinnen und Freunde von „El Sistema“ in Deutschland:
www.el-sistema.de/wir-ueber-uns - Spanische Homepage der Musikstiftung Simón Bolívar (Fundación Musical Simón Bolívar). Die Stiftung ist die formelle Plattform der Orchesterbewegung: www.fundamusical.org.ve
Artikel
- Interview mit José Antonio Abreu, dem Gründer der Jugendorchesterbewegung in Venezuela. Von Torsten Eßer, in Matices Nr. 39 (2003)
- „Musik gegen Armut, Verwahrlosung und Kriminalität“. Artikel von Shirley Apthorp, in Neue Züricher Zeitung vom12. März 2007
- „Klassik im Slum: Ein Musikprojekt in einem Armenviertel von Nairobi zeigt Wege aus Armut und Gewalt.“ Artikel von Isabella Bauer in Südlink 169 (September 2014)
- „Die Gewalt findet innerhalb der Unterschicht statt”. Interview mit dem Soziologen Antonio J. González Plessmann. Von Tobias Lambert in Südlink 169 (September 2014)
- „Ende eines Rentier-Staates“? Interview mit dem venezolanischen Intellektuellen Edgardo Lander über Rohstoffabhängigkeit, Autoritarismus und das „gute Leben“. Von Wolf-Dieter Vogel in Nachrichtenpool Lateinamerika poonal-Dienst Nr 1103.
- „Venezuelas Öl und der Klassenkampf“, Artikel von Gregory Wilpert in LE MONDE diplomatique Nr. 10285 vom 13.12.2013
- "Licht und Schatten in Venezuela", Aufsatz von Raul Zelik in Edition LE MONDE diplomatique No.9 (2011)
- "Armenviertel in Caracas: Zukunft in Selbstverwaltung". Reportage von Raul Zelik in Tageszeitung taz vom 2.1.2012
Bücher
- Michael Zeuske: Von Bolívar zu Chávez: Die Geschichte Venezuelas, 2008, Rotpunktverlag
- Raul Zelik, Sabine Bitter, Helmut Weber: Made in Venezuela. Notizen zur „bolivarianischen Revolution“, 2005, Verlag Assoziation A
- Christoph Twickel: Hugo Chávez, eine Biographie, 2006, Edition Nautilus.
- Norbert Rehrmann: Simón Bolívar. Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite. 2009, Wagenbach
- Unterrichtseinheit: “Maroa” – de la calle al escenario. Die Rolle der Musik in einem venezolanischen Spielfilm analysieren; RAAbits-Unterrichtseinheit zum Spielfilm „Maroa“ für den Musik- und Spanischunterricht; Dr. Josef Raabe VerlagsgmbH Stuttgart; weitere Infos: www.raabe.de
Filmhinweise
- Der Klang der Hoffnung (The Promise of Music)
Enrique Sánchez Lansch, Deutschland 2008, Dokumentarfilm, 93 Min.
Bezug: Universal Music Vertrieb - El Sistema - Über die Macht der Musik
Paul Smacny und Maria Stodtmeier, Deutschland 2008, Dokumentarfilm, 90 Min. - La Yuma
Florence Jaugey, Nicaragua 2010, Spielfilm, 87 Min., Omdt.UT
Bezug DVD: EZEF - Rhythm is it!
Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch , Deutschland 2004, Dokumentarfilm 2004,100 Min.
Bezug: verschiedene Medienzentren
Autorin Booklet: Kristin Gebhardt
Redaktion: Bernd Wolpert