(Terre et cendres) Khâkestar-o-khâk
Spielfilm von Atiq Rahimi
Afghanistan, Frankreich 2004, 97 Min. OmU
Kurzinhalt
Ein alter Mann und sein fünfjähriger Enkel warten an einer staubigen Kreuzung irgendwo in der menschenleeren Weite Afghanistans auf eine Mitfahrgelegenheit. Hinter ihnen liegt das Grauen, die Bombardierung ihres Dorfes, bei der die übrige Familie ums Leben kam – mit Ausnahme des Vaters, der nicht im Dorf war, weil er im Kohlebergbau arbeitet. Ihn wollen Großvater und Enkel jetzt in dem Bergwerk besuchen, um ihm die Todesnachricht zu überbringen. Im bewegenden Schicksal einer Familie werden die Schrecken des Krieges beschworen, aber auch – zuweilen mit grimmigem Humor – die Solidarität und der Überlebenswille der Opfer.
Inhalt
Auf der offenen Ladefläche eines Lastwagens erreichen Dastaguir und sein kleiner Enkelsohn eine Straßenkreuzung, die jenseits einer von Einschüssen beschädigten Brücke liegt, die über ein ausgetrocknetes Flussbett führt. In dieser kargen, wüstenartigen Landschaft stehen nur zwei kleine Häuser: Direkt am Straßenrand ein Geschäft, dessen Auslagen vor dem Haus ausgebreitet sind und das von einem Händler bewohnt wird, den der Krieg aus Kabul hierher verschlagen hat; dann ein kleines Wachhaus, bei dem sich ein Schlagbaum befindet, der von einem überaus mürrischen Wächter geöffnet wird, sobald – was allerdings nur selten geschieht – ein LKW den Weg ins Kohlebergwerk nehmen möchte. Und dann liegt da noch ein ausgebrannter Panzer, in dessen Schatten sich eine – offenbar verwirrte – burkatragende Frau mit ihrer Tochter niedergelassen hat.
Dastaguir möchte mit seinem Enkel Yassin schnell weiter zum Kohlebergwerk, wo sein Sohn Murad arbeitet. Aber heute, so erfährt er vom Wächter, wird kein Laster mehr kommen. Dies ist Dastaguir auch nicht ganz unrecht, ist es doch eine schreckliche Nachricht, die er seinem dort arbeitenden Sohn zu überbringen hat: Bei einem Angriff auf ihr Dorf hat nur er mit seinem Enkelkind überlebt. Die Mutter des Jungen, seine Frau und andere Verwandte sind alle ums Leben gekommen. Und weil ihm sein Ehrgefühl sagt, dass es für einen Afghanen leichter sei, selbst zu sterben, als den Tod seiner unmittelbaren Angehörigen ertragen zu müssen, sorgt sich Dastaguir, sein Sohn werde sich rächen wollen und so auch in den Kreis-lauf der Gewalt geraten, der in diesem vom Krieg geschlagenen Land kein Ende nehmen will. – „Entweder Du hast das Messer in der Hand oder an der Kehle“, so formuliert der Händler eines Kiosks dieses Dilemma. Im Verlauf des weiteren Wartens wird Dastaguir auch über den Händler und den Wächter erfahren, wie der Krieg sie aus der Bahn geworfen und an diesen verlassenen Ort gespült hat.
Und als wäre sein Leid nicht schon unerträglich genug, wird er im Heimatdorf seiner ums Leben gekommenen Schwiegertochter eine weitere Schreckensnachricht erfahren. Als er das Dorf nach einem langen Fußmarsch erreicht, liegt auch dieses in Trümmern. Von der Familie seiner Schwiegertochter hat nur der alte Vater den Angriff überlebt. Aus Rücksicht auf das Leid der anderen verschweigt Dastaguir den Tod seiner Schwiegertochter und lässt sich von deren Vater das Versprechen abnehmen, ihr – die doch gar nicht mehr lebt – nicht von den vielen Toten in ihrer Familie zu berichten.
Der kleine Yassin, der in all diesem Chaos zunächst einen ganz fröhlichen und unbeschwerten Eindruck macht, hat – so erfährt der Zuschauer bald – bei dem Angriff sein Gehör verloren. Dies hat er aber noch immer nicht ganz verstanden, geht er, der unentwegt plappert aber niemanden mehr hört, doch davon aus, alle anderen hätten ihre Stimmen verloren. Und so sucht er diese verlorenen Stimmen in dem leeren Panzer, weil er doch weiß dass dieser Verlust bei dem militärischen Angriff geschah.
Für Dastaguir scheinen die Umstände des Todes seiner Angehörigen noch schlimmer zu sein, als der Tod selbst. Hat er doch mit ansehen müssen, wie seine Schwiegertochter während des Angriffs nackt aus dem Hammam geflohen ist und so ihre Ehre verloren und auch die übrige Familie entehrt hat. Angesichts der Trauer, die ihn zu überwältigen droht, und der Einsamkeit, vor der ihn nur die Verantwortung für den Enkel schützt, scheint es keinen Ausweg mehr zu geben.
Und doch sind es dann die Geschichten der verschiedenen Leidensgefährten, die ihm weiterhelfen und die Energie geben, seinen Sohn Murad aufzusuchen. Die Dankbarkeit des gefangenen Soldaten für eine kleine Geste der Hilfe, die Lebensgeschichte, die ihm der Händler anvertraut und die Erklärungen des LKW-Fahrers, der ihn schließlich mit zu dem Kohlebergwerk nimmt, lassen Dastaguir erkennen, dass es noch größeres Leid gibt, als das seinige. Und so wie er sich während der Fahrt vom Trauma der Schande befreit, so weiß er dann auch, dass er – wie der Vater seiner Schwiegertochter – nichts Falsches tut, wenn er seinen Sohn zumindest im jetzigen Moment, nicht mit der ganzen Wucht seines Schicksals konfrontiert.
Würdigung und Kritik
Erde und Asche erzählt vom Krieg und seinen traumatischen Folgen für die Überlebenden in einem zerstörten Land. Es ist ein leiser, zurückhaltenden Film, dem Großes gelingt: mit einer eindrucksvollen poetischen Bildsprache und einer scheinbar schlichten Fabel, die sich aufs Wesentliche konzentriert, vermag er die Zuschauer für das Leid zu sensibilisieren, das Menschen im Krieg widerfährt. Erde und Asche ist ein Plädoyer für Humanität. Der Film verzichtet weitestgehend auf Gewaltdarstellungen, die den Zuschauer überwältigen und den Blick auf den eigentlichen Kern der Geschichte verstellen würden. So macht er den Zuschauer dafür empfänglich, sich mit den menschlichen Schicksalen auseinanderzusetzen, die der Film einfühlsam schildert.
Schauplatz der Handlung ist eine staubige Straßenkreuzung im Hochland Afghanistans. Außer einzelnen Militärfahrzeugen und vorbeiziehenden Flüchtlingen hat sich dorthin kaum eine Menschenseele verloren. In die karge Szenerie haben sich Spuren des Krieges eingeschrieben: die Einschusslöcher in einer beschädigten Brücke, die sich über ein ausgetrocknetes Flussbett erstreckt; ein verlassener Panzer, der im Sand gestrandet ist und auf einer Anhöhe wie ein Fremdkörper schief in die Landschaft ragt. An der Brücke warten der alte Mann und sein Enkel darauf, dass einer der vorbeifahrenden Lastwagen sie zum Kohleberg-werk mitnehmen wird. Doch immer wieder verpassen sie den Lastwagen, der ohnedies nur selten vorbeikommt. Einmal ist es wegen eines Schafs, das unversehens auftaucht. Der Junge läuft dem Tier hinterher, bis plötzlich eine Landmine es vor seinen Augen in Stücke reißt. Daraufhin muss der Großvater den zitternden Jungen erst einmal beruhigen. Dies geschieht, gerade als ein Lastwagen anhält, der sie mitnehmen könnte. Als der Großvater und das Kind schließlich an der Straßenbarriere stehen, ist der Lastwagen längst weiter-gefahren. Ein anderes Mal möchte der widerspenstige kleine Junge sein Spiel nicht unter-brechen. So geht es eine Weile weiter, von Tag zu Tag, ohne dass die beiden von der Stelle kommen.
Der Film lebt von der Begegnung mit den wenigen Menschen, auf die der Großvater und sein Enkel in dieser unwirtlichen Gegend treffen. Da ist die verschleierte Frau unter einer Burka, die mit ihrer Tochter im Schatten des verlassenen Panzers Zuflucht vor der glühen-den Sonne sucht. Nie spricht sie ein Wort; gelegentlich verlässt sie die Straßenkreuzung auf einem der vorbeikommenden Fahrzeuge, um doch immer wieder dorthin zurückzukehren. Es heißt, dass niemand wisse, woher sie komme, oder ihre Geschichte kenne. Ihre kleine Tochter spielt mit dem Jungen, doch sein unentwegtes Geplapper geht dem Mädchen bald auf die Nerven. Dann ist da der Wächter (Fateh), der mit einer tief in die Stirn gezogenen Mütze auf einem Stuhl neben einem Schlagbaum sitzt und sich nur rührt, wenn er ein Fahr-zeug passieren lassen muss. Verständnislos reagiert er auf den gebrechlichen alten Mann, der seine Mitfahrgelegenheit immer wieder verpasst. Aber auch er hat, so erzählt man sich, eine kummervolle Geschichte hinter sich. Einmal tauchen zwei Soldaten auf, die einen Gefangenen mit sich führen, den sie in die nächstgelegene Stadt (Mazar-i-Sharif) bringen sollen. Vorübergehend lösen sie ihm die Fesseln, damit er sich zum Gebet niederknien kann. Dem Mann wird vorgeworfen, den Oberbefehlshaber seines Regiments getötet zu haben, als dieser das Dorf des Gefangenen zerstören ließ. Als der Großvater dies hört, setzt er sich zu dem Gefangenen und bietet ihm von seinem Naswar (Kautabak, dessen narkotisierende Wirkung den Hunger stillt) an, den er in einer schmuckvollen Dose mit sich trägt, die ihm sein Sohn geschenkt hat. Später erscheint ein Mann, der mit seinen bepackten Esel ziellos durch die trockene Landschaft zieht. Die Tiere faszinieren den kleinen Jungen, und der Mann lässt ihn sogar auf dem Rücken eines Esels reiten. Das laute Geschrei des Jungen schmerzt den Mann in den Ohren, doch schenkt er ihm aus Mitleid für sein schweres Schicksal eine Rassel, die Lärm macht, wenn das Kind sie zum Schwingen bringt. Eine besonders angenehme Erscheinung ist der Händler (Mirsa Qadir), ein gebildeter Mann mit gütigem Blick, der in der öden Gegend ein Kiosk betreibt. Neben Rauchwaren hat er Wassermelonen und getrocknete Früchte, außerdem Wasser und aufgebrühten Tee im Angebot. Er hört Dastaguir verständnisvoll zu, wenn der alte Mann von seinem Kummer spricht. Doch auch er, der einst eine respektable Existenz in Kabul hatte, hat eine leidvolle Geschichte zu tragen, die ihn veranlasste, sein altes Leben aufzugeben und im tristen Niemandsland ein bescheidenes Dasein zu fristen. Er versucht, den alten Mann zu neuem Lebensmut zu ermutigen und bemüht sich, die Ängste zu zerstreuen, die Dastaguir davor zurückschrecken lassen, seinem Sohn die Wahrheit zu sagen. Mirsa Qadirs Lebensmaxime lautet, dass man geschehenes Unrecht nicht mit weiterem Unrecht vergelten soll: „Möge Gott ihnen allen vergeben und sie ins Paradies hinein lassen“ erwidert er, als der alte Mann ihm von der Vernichtung seines Dorfes und ihrer Bewohner berichtet.
Hauptthema des Films ist die Kriegstraumatisierung der Zivilbevölkerung. „Lass uns an einen Ort gehen, an dem es Geräusche gibt“, fordert Yassin, der durch eine Bombenexplosion sein Gehör verloren hat, seinen Großvater auf. Obwohl Dastaguir sich liebevoll um den Jungen bemüht, strapaziert das anstrengende Kind häufig seine Nerven. Denn was man ihm sagt, kann der Junge nicht hören. In einer Rückblende, die von der Zerstörung des Dorfes erzählt, sehen wir Yassin mit geschlossenen Augen und Staub in den Haaren wie schlafend am Bo-den liegen. Einen Moment lang verweilt die Kamera auf seinem Gesicht. Der Junge habe alles gesehen, erzählt Dastaguir. Wie das Kind die traumatischen Ereignisse erlebt haben mag, können wir nur ahnen. Der Film gibt keine Erklärung, welche Auswirkungen das Erlebte auf die weitere psychische Entwicklung des Jungen haben werden. Aber er zeigt uns auf an-rührende Weise, wie Yassin die furchtbaren Geschehnisse und den Verlust seines Gehörs auf kindliche Weise deutet. Besonders sinnfällig ist dies in einer Szene, die sich im Inneren des verlassenen Panzers abspielt. An dieser Szene deutet sich an, wie das durch den Gehörverlust von seiner Umgebung isolierte Kind sich in die eigene Welt des Erlebens zurückzieht. Der Junge ist in das stählerne Gehäuse hineingeklettert und trommelt mit einem Stock gegen die Innenwände des gestrandeten Kriegsvehikels. Denn er glaubt, dass der Panzer die Stimmen der Menschen gestohlen hat, und will diese mit seinem Getrommel aus der Gewalt des Panzers befreien. Am Beispiel des kleinen Jungen ermöglicht der Film einen Blick auf die besondere Lage von Kindern in Kriegsregionen. Er zeigt uns jedoch auch, wie die alten Menschen, die in ihren Dörfern verblieben sind, unter der Situation des Krieges leiden.
Eine Schürfwunde auf der Stirn ist das einzige sichtbare Zeichen der Gewalt, die dem Großvater widerfahren ist. Doch die lässt sich leicht unter einem Turban verbergen. Die seelischen Verletzungen, die er erlitten hat, bleiben hingegen in seinem Inneren verborgen. Im Falle des kleinen Jungen macht der Film nicht dessen inneres Erleben nachvollziehbar. Er zeigt uns vielmehr, wie der Junge im ernsten Spiel seine Erlebnisse veräußerlicht. Demgegenüber bringt er uns unmittelbar das innere Erleben des Großvaters nahe. In Tagträumen und Selbstgesprächen erscheinen immer wieder die Bilder des Krieges und der erlittenen Gewalt, und in imaginären Dialogen stellt er sich die Begegnung mit seinem Sohn vor, vor der er in Wirklichkeit zurückschreckt. Insbesondere das imaginäre Bild der Schwiegertochter, einer schönen Frau mit langen dunklen Haaren, die in den Flammen eines brennenden Hauses verschwindet, kehrt vor seinem inneren Auge immer wieder. Anfangs ist es mit den Schreckensbildern ihres Todes verknüpft, doch ganz allmählich verwandelt sich die düstere Wahrnehmung in ein freundlicheres Fantasiebild.
"Erde und Asche" thematisiert die Auswirkungen des Krieges auf die Menschen. Er verleiht dem Empfinden der Opfer, ihrem Schmerz und ihrer Trauer, eine Stimme. So rückt er die traurige Lebenswirklichkeit eines lange vergessenen Landes in den Blick, das infolge der militärischen Intervention der USA, die der Schreckensherrschaft der Taliban ein Ende setzte, überhaupt wieder in die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit trat. Tatsächlich hat Atiq Rahimi die literarische Vorlage, auf der seine Spielfilm beruht, bereits im Jahre 1996 geschrieben, dem Jahr, als die Taliban in Afghanistan die Macht ergriffen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 fand sein Buch plötzlich reges Interesse, und Atiq Rahimi, der in Paris Exil gefunden hatte, galt im Westen plötzlich als die literarische Stimme Afghanistans. Diese Aufmerksamkeit ermöglichte es Rahimi, im Jahr 2004 den Film zu realisieren. Im Film fehlen jegliche zeitlichen Bezüge, die auch im Roman nur punktuell erkennbar sind. Erde und Asche ist daher ein gegen die Gewalt des Krieges gerichtetes Plädoyer von zeitloser Gültigkeit.
Zeittafel zur Geschichte Afghanistans
19. Jahrhundert Konflikt zwischen den Kolonialmächten Russland und Großbritannien; Thronfolgekriege in Afghanistan; drei englisch afghanische Kriege (1838-1842; 1878; 1919)
08.08.1919 Afghanistan wird unabhängig
10.04.1923 Afghanistan erhält eine konstitutionelle Verfassung
1930 – 1933 Herrschaft Nadir Schahs (1933 ermordet)
1933 – 1973 Herrschaft Zaher Schahs; er greift aber erst ab 1963 aktiv in die Politik ein
1949 – 1970 Fortwährende Grenzzwischenfälle und Handelsblockaden durch Pakistan wegen der Einheitsbestrebungen der in beiden Ländern ansässigen Paschtunen.
1964 Verabschiedung einer neuen Verfassung (konstitutionelle Monarchie), mit Ansätzen eines westlichen Parlamentarismus.
17.07.1973 Staatsstreich von Mohammad Daud Khan; Afghanistan wird Republik
27.04.1978 Mohammad Daud wird von der pro-kommunistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistan (DVPA) gestürzt und ermordet. Mohammad Taraki wird Präsident und Afghanistan „Demokratische Republik“. Afghanistan bleibt jedoch abhängig von sowjetischer Unterstützung.
05.12.1978 Unterzeichnung eines Vertrages über „Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit“ zwischen Afghanistan und der Sowjetunion.
16.09.1979 Nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Taraki ernennt sich Hafizullah Amin zum neuen Präsidenten. Wenige Wochen später wird Taraki ermordet aufgefunden.
24.-27.12.1979 Sowjetische Intervention und Beginn des Afghanistan-Kriegs.
27.12.1979 Amin wird erschossen; die Sowjets installieren Babrak Karmal als neuen Präsidenten. Die Mujaheddin beginnen ihren gewaltsamen Widerstand gegen die Kommunisten.
1980 Eskalation des Bürgerkriegs. Die antikommunistischen Kräfte erhalten Unterstützung aus den USA, Pakistan und Saudi-Arabien.
04.05.1986 Najibullah löst Babrak Karmal als Regierungschef ab.
14.04.1988 Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen der afghanischen und pakistanischen Regierung, den USA und der Sowjetunion.
1989 Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan
April 1992 Najibullahs übergibt die Macht an die Mujaheddin; Afghanistan wird „Islamische Republik“.
1992 – 1996 Andauernde Kämpfe um Kabul, in deren Folge die Stadt zerstört wird.
Sept. 1996 Die Taliban (seit Spätsommer 1994 in Südostafghanistan aktiv) erobern Kabul und etablieren eine streng islamische Herrschaft. Die übrigen Parteien schließen sich zur Nordallianz zusammen.
1999 US-Embargo gegen das Taliban-Regime.
10.03.2001 Die Taliban zerstören die Buddha-Statuen in der Provinz von Bamyan.
11.09.2001 Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon.
07.10.2001 Beginn der von USA geführten militärischen Intervention in Afghanistan.
13.11.2001 Die Hauptstadt Kabul fällt. Innerhalb weniger Wochen gelingt es der Nordallianz das gesamte Land einzunehmen.
27.11. – 5.12.2001 Erste Internationale Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn.
22.11.2001 Hamed Karzai wird Übergangspräsident. Eine internationale Schutztruppe unter dem ISAF-Kommando wird aufgestellt.
04.01.2002 Eine demokratische Verfassung wird verabschiedet.
09.10.2004 Wahl des Staatspräsidenten unter internationaler Aufsicht: Hamed Karzai erhält die absolute Mehrheit der Stimmen.
18.09.2005 Landesweite Parlaments- und Provinzwahlen.
29.05.2006 Nach einem durch US-Soldaten verursachten Verkehrsunfall kommt es in Kabul zu gewaltsamen Ausschreitungen, bei denen mehrere Gebäude internationaler Organisationen niedergebrannt werden.
31.07.+05.10.2006 Die NATO übernimmt den Oberbefehl in Süd- und Ostafghanistan. Ein umstrittenes Amnestiegesetz wird verabschiedet. Danach werden Verbrechen, die zwischen 1978 und 2001 begangen wurden, straf-rechtlich nicht mehr verfolgt. Präsident Karsai führt Gespräche mit Taliban-Vertretern, um Optionen für einen Friedensschluss zu sondieren.
19.11.2009 Präsident Karzai beginnt seine zweite Amtszeit
18.09.2010 An den zweiten Parlamentswahlen seit Sturz der Taliban beteiligte sich etwa ein Drittel der Stimmberechtigten. Gefälschte Stimmzettel, Mehr-fachstimmabgaben und Einschüchterungen überschatteten die Wahlen. Beobachter berichteten von massivem Wahlbetrug: 20% der abgegeben Stimmen wurden für ungültig erklärt. Aufgrund der prekären Sicherheitslage blieben zahlreiche Wahllokale geschlossen. Über 40 Menschen wurden bei Anschlägen radikaler Islamisten getötet. Nichtsdestotrotz planen die USA eine schrittweise Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung sowie einen vollständigen Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan.
Auch nach neunjähriger Präsenz der internationalen Schutztruppe ISAF reißen die Bombenanschläge, Überfälle und Entführungen im Lande nicht ab.
Didaktische Überlegungen
Der Film eignet sich für ein breites Spektrum an Zielgruppen, sowohl im Unterricht in der Sekundarstufe II als auch in der Erwachsenenbildung. Er eignet sich insbesondere für folgende Themenbereiche: Politik, Geschichte, Kultur und Landeskunde Afghanistans, Krieg und Gewalt, Kinder in Kriegs- und Krisengebieten, die Traumatisierung der Zivilbevölkerung durch Krieg und Gewalt, Menschenrechte und Flüchtlingsschutz, Internationale Konflikte und Friedensinitiativen.
Jeder Film weckt Emotionen. "Erde und Asche" tut dies in ganz besonderem Maße, da in dem Film das Leid der Bevölkerung Afghanistans zum Ausdruck kommt. Deshalb empfiehlt es sich, zu Beginn der Diskussion die Zielgruppe erst einmal danach zu befragen, welche Gefühle dieser Film bei ihnen ausgelöst hat.
Fragen und Vorschläge zum Gespräch
- Charakterisieren Sie die Haupt- und Nebenfiguren und beschreiben Sie den Schauplatz. Was erfahren wir über die Figuren? Welche Szenen haben sich Ihnen besonders einge-prägt? Warum? Wie sehen Sie das Ende des Films: hoffnungsvoll oder desillusioniert?
- Informieren Sie sich anhand aktueller Presseberichte oder Sachbücher über die Lebensverhältnisse in Afghanistan. Was davon wird im Film thematisiert? Was erfahren wir ins-besondere über das Leid der afghanischen Bevölkerung unter Gewalt und Verfolgung? Was vermittelt uns der Film über die besondere Lage von Kindern, aber auch von älteren Menschen, in Kriegsgebieten? Auch ein Gespräch über das Problem der Landminen, die im Film explizit erwähnt werden, bietet sich an.
- Der Spielfilm "Erde und Asche" von Atiq Rahimi basiert auf dessen gleichnamigem Kurzroman. Vergleichen Sie den Film mit der literarischen Vorlage. Das Buch schildert die Gedanken und Gefühle des Großvaters, der sich selbst mit „Du“ anredet. Wie verdichtet der Film die Erzählung und welche gestalterischen Mittel setzt er ein, um die subjektive Erlebniswelt des Großvaters darzustellen?
- Der Händler Mirsa Qadir erzählt an einer Stelle aus der Legende von Ssohrab und Rostam. Diese Legende stammt aus einem berühmten persischen Heldenepos des 11. Jahrhunderts (Shahanama). Sie handelt davon, wie der Held Rostam seinen Sohn Ssohrab, von dessen Existenz er nichts wusste, in einer Schlacht tötet, in der beide auf gegnerischen Seiten kämpfen. Der Händler stellt sich im Film die Frage, ob Rostham den Krieg wohl auch dann aufgegeben und nicht noch weitere Männer geopfert hätte, wenn er seinen eigenen Sohn in der Schlacht nicht getötet hätte. Wie lässt sich diese Sequenz als Parabel innerhalb des Films deuten und auf den Sinngehalt von Erde und Asche beziehen?
- Zur poetischen Bildwelt des Films gehört das Motiv der Äpfel. Erstmals taucht es in der Szene auf, als der alte Mann und der Enkel sich an der Brücke niederlassen und in der brütenden Hitze auf die Weiterfahrt warten. Aus einem rotweißen Bündel, in dem der alte Mann seine Habseligkeiten eingewickelt hat, zieht er einen saftigen roten Apfel hervor. Er reicht den Apfel seinem Enkelsohn und das Kind beißt gierig hinein. Als der alte Mann schließlich in dem Lastwagen sitzt, der ihn zum Kohlebergwerk bringen soll, wo er seinen Sohn treffen will, sind die Äpfel plötzlich nicht mehr rot, sondern pechschwarz. Der alte Mann schleudert die schwarzen Äpfel aus dem Fenster des fahrenden Lastwagens und das rot-weiß gemusterte Tuch (im Roman ist es ein Apfelblütentuch) hinterher. Erklären sie die symbolische Bedeutung der Äpfel im Film und interpretieren Sie die Bedeutung der Szene gegen Ende des Films.
- Wie viel Wahrheit erträgt der Mensch? Der alte Mann fürchtet sich davor, seinem Sohn die furchtbare Nachricht von der Zerstörung des Dorfes und dem Tod der Schwiegertochter überbringen zu müssen. Auch Zaynaps Vater, der vom Tod seiner Tochter nichts ahnt, ringt Dastaguir das Versprechen ab, der Tochter zu verschweigen, dass ihr Heimatdorf ebenfalls restlos zerstört wurde und nahezu alle Bewohner dabei getötet wurden.
- Sollte man Ihrer Ansicht nach sein Gegenüber mit der bitteren Wahrheit konfrontieren oder lieber darüber schweigen, wenn sie zu schmerzhaft ist? Diskutieren Sie auch, welche Formen von Trauerarbeit sinnvoll sein können.
- Die Rolle der Frauen in Afghanistan ist ein häufig diskutiertes Thema. Im Film kommt eine Frau mit Burka vor. Sie spricht kein einziges Wort, und wir erfahren nichts über ihre Ge-schichte. Neben Reportagen gibt es jedoch hinreichend Beispiele aus der Literatur und dem Film, die sich mit den Lebensbedingungen von Frauen in Afghanistan befassen. Atiq Rahimi etwa hat in seinem Roman „Stein der Geduld“ den Versuch einer afghanischen Frau beschrieben, sich aus ihrer Unterdrückung in der Ehe zu lösen. Auch Khaled Hosseinis lesens-werter Roman widmet sich dem Thema; er erzählt von der Freundschaft zweier Frauen in Afghanistan. Der Roman der kanadischen Autorin Deborah Ellis erzählt vom Schicksal eines afghanischen Mädchens. Der international bekannt gewordene Spielfilm des iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf „Reise nach Kandahar“ schildert die Lebenssituation von Frauen zur Zeit des Regimes der Taliban. Ziehen Sie diese Beispiele sowie aktuelle Presse-berichte heran und sprechen Sie über die Lebensverhältnisse von Frauen unter der Herrschaft der Taliban und im heutigen Afghanistan.
- Atiq Rahimi ist ein politisch denkender Künstler, der sich in den letzten Jahren für den kulturellen Wiederaufbau in Afghanistan engagiert hat. In einem Interview hat er gesagt, Frieden, Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand könne man nicht herbeidichten, sie müssten erkämpft werden: „Wenn Sie die Geschichte Afghanistans in den letzten dreißig Jahren beobachten, so stellen Sie fest, dass alle Regime dieser Zeit, ob sie sich nun als republikanisch, kommunistisch, demokratisch oder islamisch bezeichnet haben, unrechtmäßige Willkürherrschaften gewesen sind. Mit anderen Worten: Die Ausübung von nackter Gewalt gegenüber Andersdenkenden hat in unserem Land eine lange Tradition, die unser Tun stets prägt. Diese mittelalterliche Tradition oder wenn Sie so wollen politische Kultur müssen wir bekämpfen mit dem Ziel, sie langfristig abzulegen.“ (Quelle: www.afghanasamai.com/Germanasamai/ausgabe1/Atiq%20Rahimi.htm). Diskutieren Sie, welche Chance Ihrer Ansicht nach die Demokratie in Afghanistan hat. Welcher Voraussetzungen bedarf es für eine demokratische Entwicklung? Was können Politik und Kultur dabei bewirken?
Atiq Rahimi über „Erde und Asche“
„Erst 1996 bin ich wieder auf den Geschmack des Schreibens gekommen. Die Taliban hatten gerade die Macht in Kabul übernommen, ohne dass die Welt besonders darauf reagierte. Daraufhin schrieb ich Terre et cendres, meinen ersten Roman als Zeichen des Protests dagegen, dass die internationale Meinung das afghanische Volk aufgegeben hatte. Dieser Roman stellt auch die Frage nach dem Krieg und der Notwendigkeit zu trauern, um endlich dieser Spirale der Gewalt und der Zerstörung zu entkommen.“
Bio- und Filmographie
Atiq Rahimi wurde 1962 in Kabul geboren. Sein Vater war ein hoher Regierungsbeamter, die Mutter Lehrerin. 1973, im gleichen Jahr, als Atiq mit 11 Jahren auf das französische Gymnasium wechselt, wurde die Monarchie gestürzt und der Vater verhaftet. Vier Jahre blieb dieser verschwunden. 1978 folgte ein neuer Staatsstreich und diesem die sowjetische Invasion. Rahimi studierte Literatur in Kabul. Weil er den Militärdienst verweigert, flieht er 1984 zunächst nach Pakistan und von dort nach Frankreich, wo er politisches Asyl erhält.
In Paris studiert er Film an der Sorbonne, danach arbeitet als Journalist. Er lebt dort als Schriftsteller und Filmregisseur. Sein erster Roman „Erde und Asche“, in Dari geschrieben, wurde 1996 in Frankreich veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt. Das Buch fand starke internationale Beachtung. „Pierre de patience“ („Stein der Geduld“) ist sein erster Roman in französischer Sprache. Für diesen Roman, der von der Unterdrückung von Frauen in Afghanistan erzählt erhielt Rahimi 2008 den begehrten „Prix Goncourt“. Nach mehreren Dokumentarfilmen für das französische Fernsehen ist „Terre et cendres“ sein erster Spiel-film. Seit dem Sturz des Taliban-Regimes engagiert Rahimi sich für den kulturellen Wiederaufbau in Afghanistan. Er lehrt an der Universität in Kabul und hat dort die Gründung eines Schriftstellerzentrums sowie eines Verlagshauses („espand“) initiiert.
Filme
1998 À chacun son journal (Dok.)
2000 Zaher Shah, le royaume de l'exil (Dok.)
2001 Nous avons partagé le pain et le sel (Dok.)
2002 (A)fghanistan (Dok.)
2004 Erde und Asche (Terre et cendres)
Bücher
2000 Erde und Asche (Terre et cendres) (München 2001)
2002 Der Krieg und die Liebe (Les mille maisons du rêve et de la terreur) (München 2003)
2005 Le Retour imaginaire (Paris 2005) (Fotografien und Texte)
2008 Stein der Geduld (Syngué Sabour. Pierre de patience) (Berlin 2009)
Pressestimmen
"Mit der Verfilmung seines Romans ist Atiq Rahimi auf Anhieb ein Meisterwerk gelungen (...) Einer der wichtigsten Filme des Jahres." epd film
„Der an Originalschauplätzen gedrehte Film ist ein wichtiges Lebenszeichen aus Afghanistan, vielleicht sogar ein Bote von Zuversicht“ FAZ
„Ein überwältigender, ebenso kluger wie sinnlicher Film über die zerstörerischen Folgen eines namenlosen Krieges. Das parabelhafte, raffiniert strukturierte Drama vereint semidokumentarische wie surrealistische Elemente und kreist um die Notwendigkeit der Trauer, ohne die der Kreislauf von Tod und Gewalt nicht durchbrochen werden kann.“ film-dienst
Auszeichnungen für den Spielfilm „Erde und Asche“
Sélection Officielle Cannes 2004 - Un Certain Regard
Prix du Regard vers l’Avenir 2004
Preis der Ökumenischen Jury Bratislava 2004
Film des Monats der Jury der Evangelischen Filmarbeit
Kinotipp der katholischen Filmkritik
Literaturhinweise
- Afghanistan. Kein Frieden am Hindukush (Hrsg. Frankfurter Allgemeine Zeitung), Frankfurt/M. 2010 (Hörbuch)
- Christian Büttner, Regine Mehl, Peter Schlaffer, Mechthild Nauck (Hrsg.), Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten. Lebensumstände und Bewältigungsstrategien, Frankfurt/M./New York 2004
- Bernhard Chiari (Hrsg.), Wegweiser zur Geschichte. Afghanistan, 3. durchgesehene und erweiterte Auflage Paderborn u.a. 2009 (enthält ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit nützlichen Hinweisen zu Afghanistan in Literatur, Film und Medien)
- Khaled Hosseini, Drachenläufer, Berlin 2003 (Roman)
- Khaled Hosseini, Tausend strahlende Sonnen, Berlin 2003 (Roman)
- Judith Huber, Risse im Patriarchat – Frauen in Afghanistan, Zürich 2003
- Can Merey, Die afghanische Misere: warum der Westen am Hindukush zu scheitern droht, Weinheim 2008
- Rupert Neudeck, Jenseits von Kabul – Unterwegs in Afghanistan, München 2003
- Pakistan und Afghanistan (Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 21-22/2010)
- Ahmed Rashid, Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukush, Bonn 2010
- Ahmed Rashid, Sturz in Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban, Düsseldorf 2010
- Conrad Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, München 2004 (2. Aufl. 2007)
- Roger Willemsen, Afghanische Reise, Frankfurt am Main 2006
- Siba Shakib, Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen: Die Geschichte der Shirin-Gol, Bielefeld 2001
Filmhinweise
- Reise nach Kandahar, Spielfilm von Mohsen Makmalbaf (Iran/F 2001)
- Drachenläufer, Spielfilm von Marc Forster (USA 2007)
- Im Tal der großen Buddhas, Dokumentarfilm von Christian Frei (CH 2005)
- Passing the Rainbow, Spielfilm von Sandra Schäfer und Elfe Brandenburger (D 2007)
- Mein Herz sieht die Welt schwarz. Eine Liebe in Kabul, Dokumentarfilm von Helga Reidemeister (D 2009)
- Texas – Kabul, Dokumentarfilm von Helga Reidemeister, (D 2003)
Autorin der Arbeitshilfe: Margrit Frölich
Redaktion: Bernd Wolpert
Oktober 2010