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Geschichten aus Javé

Narradores de Javé
Spielfilm von Eliane Caffé
Brasilien 2003, 102 Minunten, OmU


Kurzfassung

Ein Dorf soll durch einem Staudammbau unter Wasser gesetzt werden. Die Bewohner beratschlagen, wie sie sich dagegen wehren können. Das Ergebnis: Es muss ein dickes Buch mit der Geschichte des Dorfes her. Das Drama: Keiner ist des Schreibens mächtig, nur der aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossene Künstler Antônio Biá. Es gelingt den Verantwortlichen, Antônio Biá von seiner Aufgabe zu überzeugen. Er versucht tatsächlich, die unzähligen Geschichten der Dorfbewohner zu erfragen und daraus einen Text zu machen, es will ihm aber nicht gelingen. Als die Ingenieure das Dorf schon belagern und die Vorbereitungen für den Staudammbau treffen, erklärt der Künstler, dass er keine Geschichte schreiben wird, schließlich könne man sich dem Fortschritt nicht widersetzen.

Inhalt

Ein Rucksacktourist kommt trotz einer langen Laufeinlage erst am Ufer eines Stausees an, als seine Fähre in der Abenddämmerung soeben ablegt hat. In der Bar an der Anlegestelle wartet er lange auf seine Kokosmilch, weil die alte Wirtin sich gar nicht um sein Wohlergehen kümmert, sondern unbeirrt in ihrem Buch weiter liest. Ihr Sohn will sie zur Ordnung rufen und beschwert sich bei den anderen Gästen, dass seine alte Mutter erst im hohen Alter lesen gelernt habe und jetzt nichts anderes mehr im Sinn habe, als zu lesen, das wäre doch zu nichts nutze. Auch erklärt er dem Neuankömmling, dass die nächste Fähre am frühen Morgen um fünf oder sechs Uhr oder eben gar nicht fahren wird. Ein anderer Gast, Zequeu, hat volles Verständnis für die alte Dame und erklärt, dass es durchaus einen Sinn habe, lesen und schreiben zu können, denn das habe die Geschichte seines Ortes, der nun unter dem Stausee begraben liegt, gezeigt. Nach der ironischen Einführung, die diese Rahmenerzählung darstellt,  erzählt Zequeu die tragische Geschichte seines kleinen Dorfes Javé:

Eines Tages erhielten die Dorfbewohner von Javé  die Nachricht von einem geplanten Staudamm. Sie haben, wie es in Brasilien leider üblich ist, keine Dokumente, die ihren Besitzanspruch auf das Territorium ausweisen und sind hilflos den Planungen der Obrigkeiten (Regierung, Bauunternehmungen) ausgeliefert. Der Landkonflikt spitzt sich hier zu: die Bewohner des Dorfes haben dort ihre Häuser gebaut, leben dort ihr Alltagsleben, aber streng juristisch gesehen gehört ihnen das Land nicht. Der Landkonflikt spitzt sich hier zu, denn das Dorf soll für einen Staudamm unter Wasser gesetzt und die Bewohner vertrieben werden, ungeachtet der Frage, ob die Bewohner hier ein Siedlungsrecht haben oder nicht. Die Aktion läuft im Namen des Fortschritts, denn ein Staudamm bedeutet moderne Elektrizitätserzeugung für eine zunehmend technisierte Welt. Zwei Dorfbewohner hatten sich die Pläne der Architekten und der Regierung angeschaut und mit den Verantwortlichen gesprochen. Das Dorf könne nur gerettet werden, so erzählten diese den anderen Bewohnern, wenn die Geschichte des Ortes in wissenschaftlicher Weise zu Papier gebracht würde, obwohl die Bewohner bislang ihre Geschichten nur mündlich und in verschiedenen Versionen wiedergegeben haben. Doch um die historische Bedeutung des Ortes hervorzuheben, muss eine „wissenschaftliche“ Geschichte von Javé her, die sich aus den unzähligen in den Köpfen der Dorfbewohner herumspukenden Geschichten speist. Die Bewohner wollen mitmachen, doch es gibt ein Problem: Keiner ist des Schreibens mächtig und niemand traut sich zu, aus den unzähligen Geschichten eine einzige, überzeugende schreiben zu können.

Antônio Biá, Poet, Rebell und Alkoholiker, als Einziger im Dorf des Schreibens mächtig, wird von der Gemeinschaft auserkoren, die Entstehungsgeschichte niederzuschreiben, um Javés besonderen historisch-kulturellen Wert „wissenschaftlich“ zu belegen. Vor Jahren war er mit Schimpf und Schande an den Rand des Dorfes verbannt worden, weil er in einem von Schließung bedrohten Postamt täglich mehrere Briefe mit zum Teil indiskreten Nachrichten über die Dorfbewohner verschickt hatte, um auf diese Weise das Postamt und seine Stelle zu retten. Antônio Biá  wird mit seiner neuen Aufgabe bekannt gemacht: Damals habe er auf Kosten der Bewohner seine Stelle im Postamt gesichert, jetzt sei es an der Zeit mit seiner Arbeit das Leben der Bewohner und das Dorf zu retten, das würde ihn in der Dorfgemeinschaft rehabilitieren. Etwas widerstrebend, weil er meint, Javé habe historisch gesehen, nichts zu bieten, erklärt er sich bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.

Er hört geduldig unzählige Erzählversionen des Gründungsmythos an. Mit seinem großen Buch und seinem Bleistift unterm Arm, beginnt Antônio Biá, die Bewohner des Dorfes nach ihrer Version der Geschichte von den Ursprüngen des Javétals zu befragen. Bald schon stößt Antônio Biá auf den nebulösen Kern der Geschichte: Es gibt unzählige Versionen, die je nach ihrem Erzähler und dessen Absichten variieren. Da ist Vicentino Indalécio Rocha. Er versteht sich als direkter Nachfahre des Gründers von Javé , der Indalécio hieß und seine Leute, die von den goldgierigen Portugiesen aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, einen langen Weg bis nach Javé geführt hat, auf dem die Kirchturmglocke und eine Kuhherde nach Javé mitgeführt wurden. Noch heute hält Vicentino eine Pistole dieses Indalécio in seinem Gewahrsam.

Eine zweite Version stellt Indalécios Frau Mariazinha in den Mittelpunkt, sie habe nach dem Zusammenbruch ihres verletzten Mannes sein Gefolge in Sicherheit gebracht. In der dritten Version versucht der Erzähler Firminho, sich selbst aufzuwerten, weil angeblich ein Medium ihn als Oberhaupt der Dorfgemeinschaft eingesetzt habe. Wieder anders erzählen die Afrobrasilianer die Geschichte des Ortes, bei ihnen haben die Gründer von Javé auch andere Namen, der Begründer heißt hier Indaleo und seine Frau Oxum.

Die Geschichten variieren je nach Interesse der Erzähler: Vicentino will sich als Nachfahre der Portugiesen ausweisen, Mariazinha betont die Bedeutung der Frauen bei der Dorfgründung, die Afrobrasilianer sehen ihr Dasein wieder anders. Dabei wird deutlich, dass jeder eine eigene Perspektive hat und wegen seiner spezifischen Erfahrung auch ein Recht darauf besitzt. Je mehr Antônio Biá über die Ursprünge Javés erfährt, umso größer wird seine Schreibhemmung, aber zugleich wächst auch die Bedeutung des noch ungeschriebenen Buches in der Dorfgemeinschaft: Jeder möchte genannt  werden.

In das Buch trägt Antônio Biá nur ab und zu Namen ein oder macht einige Bleistiftzeichnungen, obwohl er selbst verkündet, dass es einen Unterschied macht, ob etwas erzählt oder niedergeschrieben wird - letzteres müsse immer ein wenig ausgeschmückt werden. All dies, obwohl er zunächst dankbar war, diesen Auftrag erhalten zu haben und gegenüber Zequeu versprochen hat, das in ihn gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen. Aufgrund seiner Autorenattitüde, die er meint durch sein vermeintliches Schreibtalent einnehmen zu dürfen, gelingt es ihm, gewissermaßen im Tausch für den Wunsch vieler Bewohner, im Buch genannt zu werden, sich zahlreiche Privilegien zu sichern: So verhandelt er mit dem Barbier, dass er ihn ein Jahr umsonst rasiert. Wenn er das Wort ergreift, verstummt  die Menge. Im Dorf hat er einen Freifahrtschein für sein Benehmen: er darf scherzen, sich betrinken, so lange schlafen wie er will, Analphabeten den Zutritt zu seinem Haus verwehren, nur weil alle sich wünschen, in dieser bedeutenden Geschichte von der Gründung Javés erwähnt zu werden.
Wie inszeniert sich Antônio Biá selbst?  Er lässt lange Ausführungen zu den Materialien des Schreibens folgen, um die Schwere seiner Aufgabe herauszukehren: Biá bevorzugt den Bleistift, weil dieser nicht so schnell über das Papier huscht wie ein Kugelschreiber und sich ausradieren lässt, wenn es einen Fehler gibt, um einen sauber geschriebenen Text abgeben zu können. Mit großem Ernst erfragt er vor jedem Interview den Namen seines Gesprächspartners, den er in sein großes Buch der Geschichte Javés einträgt und erntet Anerkennung und Respekt.

Die Zeit schreitet voran und Antônio Biá schreibt keine Geschichte, gibt aber seinen Auftrag nicht zurück. Er schreibt nicht auf, was ihm die Erzähler sagen, sondern will selbst eine Meinung zu allem vertreten, was ihm nicht gelingt, deshalb schiebt er seine Aufgabe immer weiter vor sich her. Unterdessen kommen die Ingenieure für den Staudammbau in das Dorf, belagern es, beginnen mit den Baumaßnahmen, die schnell voranschreiten. Kameraleute nehmen  Interviews mit den Bewohnern auf, wo diese ihrer Trauer über die Vertreibung und ihrer Wut gegenüber den Behörden freien Lauf lassen können.

In einer erneuten Dorfversammlung hat ein Geisteskranker plötzlich Visionen vom Untergang des Dorfes und alle sind sehr verstört. Antônio Biá verspricht, sein Buch noch am selben Abend vorzustellen und das Dorf durch diese Schrift endgültig vor der Überflutung zu retten. Doch dabei bleibt es. Er kommt nicht und kommentiert später, als man ihn zur Rechenschaft zieht, dass Javé nichts wert ist, somit keiner Geschichte bedürfe. Die Dinge entwickeln sich genau so, wie die Pläne der Architekten und Behörden es vorsehen. Als nur noch der Kirchturm aus dem See ragt, ist auch Antônio Biá sehr ergriffen. Der so genannte Fortschritt hält Einzug, indem das Dorf und mit ihm seine Geschichte überflutet wird.

Kritik

Filmtitel:  Der Originaltitel des Films lautet ursprünglich: Os narradores de Javé. Wörtlich übersetzt heißt das: Die Erzähler aus Javé. Dieser Titel verweist auf die vielen Erzählerpersönlichkeiten, die normalerweise in der offiziellen Geschichtsschreibung in dieser Zahl nicht vorkommen. Der deutsche Titel „Geschichten aus Javé“ ist keine exakte Wiedergabe des Originaltitels, ist aber unter marktstrategischen Gesichtspunkten vertretbar, wenngleich das Anliegen des Films, gerade den persönlichen Geschichten Raum zu geben, hier ein wenig in den Hintergrund tritt.

Die Regisseurin Eliane Caffé konfrontiert den Zuschauer in „Die Erzähler aus dem Javétal“ mit ihrer tragikkomischen Geschichte über den Übergang von der Tradition des mündlichen Erzählens zur Tradition des Schreibens, über die Kultur der Oralität und der des Schreibens, die Arbeitsweise von Künstlern. Sie stellt die Frage, ob Fortschrittsgläubigkeit und der so genannte technische Fortschritt es nicht mit sich bringen, dass die orale Kultur zerstört und das Verständnis von Geschichte eingeschränkt wird. Darüber hinaus stellt sie die Frage nach der nationalen Identität neu. Sie stellt dies an drei Problemfeldern dar:

  • Erstens verweist sie auf die unterentwickelte und undemokratische Gesellschaft Brasiliens, in der die Landfrage vor allem bei Großprojekten meist ohne die Einbeziehung der breiten Bevölkerung geklärt wird. Häufig werden Landarbeiter von ihrem Landstück vertrieben oder können die Pacht nicht mehr zahlen. Es folgt ihre Abwanderung (Migration) in die großen Städte, wo sie versuchen, ihr Überleben zu sichern. Der Bau eines Staudamms, der einen erhöhten Strombedarf sättigen soll, bedeutet auf der einen Seite Fortschritt und Entwicklung, Anschluss an die Moderne, aber auf der anderen Seite gesellschaftlichen Rückschritt, denn Bewohner eines Ortes werden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, um andernorts zu siedeln.
  • Zweitens zeigt sie, dass die Bewohner durchaus in der Lage sind, Widerstand zu leisten. So ist es eine reale Geschichte, dass der Postbeamte Pedro Cordeiro Braga im Dorf Vau in Minas Gerais lebte und in einem Postamt arbeitete, das wegen des geringen Betriebs geschlossen werden sollte. Pedro Cordeiro wollte aber seine Arbeit nicht verlieren und verschickte in der Folge an alle Bekannten Briefe. Er schrieb und schrieb, was dazu führte, dass das Postamt erhalten blieb. In einer scheinbar ausweglosen Situation neue Wege zu beschreiten, ist der Grundtenor des Films und die Absicht der Regisseurin, die bereits in der Rahmenerzählung anklingt: die alte Großmutter will lesen und nicht die Rolle der Wirtin übernehmen. Durch Alphabetisierung sind die Menschen nicht mehr so gefügig und willig, sie haben eine eigene Meinung von dem, was sie tun oder lassen möchten. So verhält es sich auch mit Antônio Biá: Er schreibt nicht das auf, was die Erzähler ihm zutragen, er will seinen eigenen Impulsen und Gedanken folgen, er ist nicht mehr fremdbestimmt.
  • Drittens verfolgt die Regisseurin Eliane Caffé auch eine medienpädagogische Problematik: Sie zeigt Formen der oralen Kultur, die Wege zur Verschriftlichung der oralen Kultur und der Schriftkultur, die aus den vielfältigen Möglichkeiten, die die orale Kultur bietet, nur wieder eine einzige Intention herausfiltert und schriftlich fixiert, dabei stellt sie den Schreiber sehr ironisch dar: er hat große Zweifel, muss bestimmte Rituale einhalten (lange ausschlafen, ausgewählte Materialien verwenden). Obwohl er zur Dorfgemeinschaft gehört, ist er nicht in der Lage, die Intentionen der Bewohner zu fassen und wiederzugeben. Dies gelingt einzig  mit der Kamera, in Form der Reportage: als die Bewohner vor der Kamera stehen und erzählen sollen, was der Staudamm für ihr eigenes Schicksal bedeutet, können sie ihre Geschichte erzählen: Jeder auf seine Weise und aus seiner Perspektive auf das Geschehen. In gewisser Weise ist die orale Erzählkultur kongruent mit dem Medium Film bzw. Reportage: Die Kamera ist in der Lage, die Vielfalt der Geschichten einzufangen und wiederzugeben und bleibt dabei ein getreueres Medium als der ästhetische, inhaltliche und künstlerische Filter des Schriftstellers.

Darüber hinaus spielt der Film an auf den legendären Ort Canudos im Nordosten Brasiliens, den ein ähnliches Schicksal ereilt hat: Nachdem die religiöse Gemeinschaft unter Antônio Conselheiro von den Truppen des brasilianischen Militärs zerschlagen worden war, wurde dieser Ort, anstatt zu einer Denkstätte zu werden, ebenfalls mit einem Stausee überflutet. Diese schwarze Episode in der brasilianischen Geschichte, das Massaker an den Bewohnern von Canudos ging in die brasilianische Geschichtsschreibung durch das 1902 publizierte Buch des Militäringenieurs Euclides da Cunha (1866 – 1901) „Krieg im Sertão“ ein. Dieser bereiste als Journalist und Kriegsberichterstatter den Ort und erstellte in seinem Buch eine detaillierte sozio-geographische Beschreibung des bis dato völlig unbekannten, kargen und ariden Sertão, einer Steppenlandschaft, die ihren Bewohnern ein hartes Leben auferlegte. Euclides da Cunha klagte die Armee des vorsätzlichen Massenmordes am, weil die junge Republik einen vermeintlich rückständigen Teil ihrer eigenen Bevölkerung vernichtet hatte. Der Sertanejo, der Bewohner des Hinterlandes, wird bei Euclides da Cunha beschrieben und in seinen Eigenschaften positiv aufgewertet: Er ist fähig, den harten Bedingungen seiner Region zu trotzen.

Dieses Buch gilt als Bibel der brasilianischen Nation, nicht zuletzt weil es eine Mischung aus Dichtung und Geschichtsschreibung ist, sondern auch weil für brasilianische Intellektuelle eine unbekannte Region beschrieben wird. Es steht am Anfang einer intellektuellen Bewegung, deren Ansinnen darin bestand, die seit der Kolonisierung bestehende Orientierung der brasilianischen Intellektuellen nach Europa abzuschaffen, indem das eigene Land und seine Bewohner, hier vor allem die des Sertão, des Hinterlandes, erkundet werden. Eliane Caffé anerkennt und spielt mit dieser historischen Parallele in ihrem Film. Sie ironisiert die Gründungslegende von Vicentino, der sich als Nachfahre portugiesischer Kolonialherren begreift. Ihrer Meinung nach hätten die Kriegsruinen von Canudos als Denkmal geschützt werden und nicht überflutet werden sollen. Die Überflutung ist für sie ein provoziertes Vergessen: „Damit eine Version der Geschichte von Canudos zu Ende geht“ ("Das Vergessen ist immer auch international" Interview mit der Regisseurin Eliane Caffé, in: Lateinamerika Nachrichten 360, Juni 2004, S. 52-53).

Der Film zeigt deutlich, dass Geschichtsschreibung immer von Interessen abhängt. Von unzähligen Lesarten wird immer die des Gewinners ausgewählt, die auf Kosten aller anderen Gültigkeit beansprucht. Allerdings hätten die Verlierer auch gern gesehen, dass ihre Geschichte geschrieben wird, doch das klappt nicht. Es zeigt sich, wie schwer der Weg von der oralen Erzähltradition zur Schriftkultur ist und wie viele Geschichten dabei untergehen. Der Film zeichnet sich durch seine geglückte Gratwanderung zwischen der Bildhaftigkeit der Sprache und fesselnden Bildern aus. Eliane Caffé bezieht sich auf die Entdeckung und Kolonisierung Brasiliens, infolge derer viele Bevölkerungsgruppen und Ethnien zum Teil  ausgerottet oder stark dezimiert wurden, wie Indianerstämme oder die Schwarzen, die als Sklaven aus unterschiedlichen afrikanischen Völkern kamen.

Ganz besonders zeichnet sich dieser Film durch das geglückte Zusammenspiel von bekannten Schauspielern und Laiendarstellern aus. Exponierte Schauspieler des brasilianischen Films wie José Dumont (Antônio Bia), Matheus Nachtergaele (Sohn der alten Oma in der Rahmenerzählung) und Nelson Dantas (Indalécio, der Nachfahre der Portugiesen). Diese Schauspieler sind in Brasilien sehr bekannt und wirkten an zahlreichen erfolgreichen Produktionen mit, die auch international gezeigt wurden. (José Dumont spielte u.a. in "A Hora da Estrela / Sternstunde  von Suzana Amaral. Silberner Bär auf der Berlinale 1985. Matheus Nachtergaile spielte u.a. in City of God 2002 von Fernando Meirelles und Amarelo Manga von Claudio Assis, Internationales Forum des Jungen Films, Berlinale 2003).

Die Dorfbewohner des Drehortes Gameleira da Lapa im Bundesstaat Bahia hatten großes Interesse bei den Filmarbeiten mitzuwirken und ihre bemerkenswerte Darstellung verdanken sie ihrem Talent, aber auch der „Schulung“ durch die Berufsschauspieler.

Der Film erhielt zahlreiche Preise auf Filmfestivals in Recife, Rio de Janeiro und Brüssel und wurde von der FIPRESCI-Jury „für seine witzige Darstellung des zutiefst menschlichen Wunsches, Mythen zu erfinden“ ausgezeichnet.

Einsatzmöglichkeiten des Films

Zunächst einmal eignet sich der Film zur Untersuchung der Konsequenzen von Staudammbauten. Die Frage von Landbesitz stellt sich ebenso wie die Frage, wie es zur Migrations-Problematik in weniger entwickelten Ländern kommt, wie die Binnenmigration aussieht und  welche Konsequenzen sie für den Einzelnen hat.

Der Film behandelt sehr humorvoll das Verhältnis von Geschichte und Politik. Wie verbessert sich das Verständnis von Geschichte, wenn mehr Menschen in Entscheidungen der Politik einbezogen werden. So bietet sich die Frage an, was unter dem Staudamm einst existierte und die Problematik der tief greifenden Baumaßnahmen kann erörtert werden.

Ganz besonders eignet er sich für den Geschichts- und Politikunterricht mit der Prämisse, zu untersuchen, welche Geschichte sich als Geschichte gegenüber weiteren Erzählungen und Varianten von Geschichtsereignissen behauptet. Die Intentionalität von Geschichtsschreibung kann bewusst gemacht werden. Die Problematik der Zerstörung einer ethnischen Gruppe, ihrer Geschichte, Kultur und Lebensart kann bei der Behandlung des Themas der Kolonialisierung angesprochen werden.

Im Sprach- und Literaturunterricht ist der Film für das Thema der Transformation und Veränderung von oralen Erzähltraditionen in Schriftkultur einsetzbar. Die Einführung der Schrift in eine Gesellschaft bedeutet wesentlich mehr als die Existenz eines neuen Handwerkzeugs: Die Schriftlichkeit bedeutet eine Umstrukturierung von Denkweisen und Mentalitäten. Zahlreiche komplexe Kulturleistungen sind mit der Verbreitung von Schriftsystemen verbunden. Der Film spielt mit der Oralität, denn er bietet sich als Möglichkeit an, orale Erzählweisen festzuhalten und zu präsentieren. Das hebt das Problem auf, dass geschichtliches Wissen in der Regel nur über drei bis vier Generationen zurückgeht und weiter gehende Erfahrungen normalerweise in mythischen Erzählungen tradiert werden. Der Film widersetzt sich der Maxime: Alles, was nicht gebraucht wird, wird vergessen.

Die Analphabetenrate in Brasilien liegt bei ca. 12%  bei Personen über 15 Jahren laut einer Erhebung des IBGE (Brasilianisches Institut für Geographie und Statistik) aus dem Jahr 2003, in Deutschland wird sie mit 4% beziffert.

Der Themenkomplex Metapher, der in jedem Sprach- oder Deutschunterricht bearbeitet wird, ist hier wunderbar inszeniert. Die Bildhaftigkeit bestimmter Ausdrücke verdeutlicht die Vorzüge der Erzähltradition, die unter Umständen in der Schriftsprache wieder belebt werden könnte. Zum Beispiel erhält ein Bewohner Javés ein viel zu großes Gebiss: Antônio Biá kommentiert: „Du lachst jetzt wie ein verliebtes Krokodil“.

Der Film arbeitet besonders an der Unterscheidung von Künstlerpersönlichkeiten und fremdbestimmter Arbeit. Während ein Künstler alles daran setzen würde, seine Geschichte mit den ihm eigenen Mitteln zu inszenieren (schriftlich, bildlich, musikalisch) hat der Auftragnehmer nicht unbedingt ein Interesse an der Sache sondern aus den Vorteilen der Sache. Antônio Biá erkennt die Bedeutung seines Auftrags nicht, meint stattdessen zu wissen, dass es nicht lohnt, gegen die mahlenden Mühlen des „Fortschritts“, der technischen Entwicklung anzukämpfen, weil er den Kampf von vornherein verloren glaubt. Er liegt richtig und falsch zugleich, würde er dem gefährdeten Ort einen Wert beimessen. Seine zur Schau gestellte unkonventionelle Lebensweise inszeniert ihn als Künstler, obwohl er keiner ist. Hier würde sich eine Diskussion von Künstlerpersönlichkeiten anbieten.

In der Arbeit mit Medien ist dieser Film hervorragend geeignet: Eine Bewohnerin kommentiert vor der digitalen Kamera, dass ein Staudamm nicht dort gebaut werden kann, wo ihre Vorfahren und verstorbenen Kinder begraben seien. Auf eine Art werden hier die Verbindungen mit einem Grundstück thematisiert und die Kamera ist Zeuge von unwiederholbaren Aussagen und Geschichten, die die Regisseurin konstruiert und dekonstruiert. Das Verhältnis von Oralität, Literatur und Film ist in diesem Film wunderbar inszeniert, wobei die Regisseurin auch mit einem zwinkernden Auge die Filmkultur ironisiert: Gute Filme entstehen nicht nur durch die Referenz auf andere gute Filme, sondern auch durch die Verwendung von Materialien, die außerhalb einer auf sich selbst bezogenen Filmgeschichte liegen. Die Regisseurin betont, dass es viele Geschichten über Geschichte gibt und dass hier ein Reichtum ihres Landes  existiert, der vielerorts nicht bekannt ist, der aber einen selbstbewussten Umgang erfordert.

Fragen und Arbeitsaufgaben:

  • Wie wird Geschichte geschrieben, wer entscheidet das und wer schreibt Geschichte auf?
  • Wie wird Geschichte konstruiert und dekonstruiert?
  • Recherchieren Sie, wie ein Staudamm gebaut  wird.
  • Welche Schritte sind im Vorfeld von politischer Seite notwendig? 
  • Was bedeutet die Vertreibung aus einem Ort an einen ungewissen anderen?
  • Was ist der Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem Landlosen, von der Binnenmigration und der Migration?
  • Welche Konsequenzen kann Migration auf Geschichtsverständnis haben?
  • Wie erwirbt man rechtmäßig Land und wird Besitzer eines Grundstücks?
  • Recherchieren Sie im Internet, welche Kulturen in Brasilien zum Zeitpunkt des Eintreffens der Portugiesen existierten.
  • Wer oder was ist ein Künstler?
  • Welche Alphabetisierungsmethoden gibt es? Was bedeutet Alphabetisierung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben?
  • Erklären Sie wie sich Schreiben vom Erzählen unterscheidet?
  • Was ändert sich, wenn ich etwas erzähle und es später aufschreibe?
  • Wie funktioniert eine Kamera? Was erzählt sie besser als eine Zeitung?
  • Wie entwerfe ich sprachlich Bilder?
  • Wo liegt Brasilien, seit wann existiert es, was ist das Besondere an diesem Land?

Zum Einsatz des Films

  • Geschichtsunterricht - Stichworte: Kolonialismus, Geschichtsschreibung, Landkonflikte.
  • Politikunterricht - Stichworte: Landbesitz, Landverteilung, Analphabetentum, Fortschritt, Demokratie, Diktatur, Binnenmigration, Migration, Vertreibung.
  • Deutschunterricht - Stichworte: Sprachgewandtheit, Rede und Schrift, Metapher, Umgang mit verschiedenen Texten gleichen Inhalts.
  • Erdkunde - Stichworte: Staudammbau, Veränderung von Land infolge von Eingriffen in die Natur, infolge von Migration.
  • Medienunterricht - Stichworte: Bildsprache der Kamera, Verhältnis Text und Bild im Film.

Literaturhinweise

  • Nohlen, Dieter; Nuscheler, Franz (Hrsg.): Handbuch der Dritten Welt. Band 2: Südamerika; Bonn 1992; Länderartikel Brasilien, S. 219 -277; Autor: Hartmut Sangmeister
  • E. Cunha: Krieg im Sertão. Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag 1994
  • Hartmut Günther / Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin 1994
  • Olson, David R./Nancy Torrance (Hg.): Literacy and Orality. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney 1991
  • Walter Ong, Oralität und Literalität. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987
  • Wolfgang Rückert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main
    (Suhrkamp TB) 1998

Autorin: Ute Hermanns
Februar 2007

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