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Der Mann auf dem Quai

(L’homme sur les quais)

Spielfilm von Raoul Peck
Frankreich, Kanada, Haiti, BRD 1993, 105 Min. OmU

Zum Inhalt

Die sechsjährige Sarah beobachtet vom Balkon ihres Elternhauses zufällig, wie die Schergen des brutalen Geheimpolizisten Janvier ihren Patenonkel Sorel zusammenschlagen. Sarahs Vater, ein Armee-Hauptmann, sieht der Folterung zu, ohne einzugreifen. Als er die Tochter entdeckt, versucht er, sie mit hektischen Gesten vom Balkon zu vertreiben. Diese und andere Szenen, die Sarah als Kind um 1960 erlebte, als Haiti unter dem Terror-Regime des Diktators Francois Duvalier litt, belasten Sarah noch heute. Noch 30 Jahre nach jenen schlimmen Erlebnissen schreckt sie nachts aus Alpträumen.
Zwei Jahre nach der beobachteten Misshandlung, die Sorel beinahe zum Krüppel machte, fliehen Sarahs Eltern unter dem wachsenden Druck des Regimes ins Ausland. Nonnen halten Sarah und ihre beiden Schwestern in einem Kloster versteckt. Doch als Janvier und seine Terror-Gehilfen sie dort bedrohen, holt die Großmutter, eine resolute Geschäftsfrau, die Kinder zu sich und versteckt sie auf dem Dachboden ihres Hauses. Janvier will die Mädchen aufspüren, um die Eltern zur Rückkehr zwingen zu können. In ihrem Versteck flüchtet sich Sarah in eine eigene Welt der Erinnerungen und Phantasien, die uns der Film bruchstückhaft zeigt. Als die besorgte Großmutter versucht, die Kinder außer Landes zu schaffen, kommt ihnen Janvier auf die Schliche. Zwar können sich Sarah und ihre Schwestern retten, aber der Fluchthelfer, ein Freund der Großmutter, wird erschossen. Erst als eine allgemeine Amnestie verkündet wird, trauen sich die Kinder wieder auf Straße. Doch sicher können sie sich angesichts der bedrohlichen Atmosphäre noch immer nicht fühlen. Dies zeigt sich deutlich, als die stolze Großmutter mit Janviers arroganter Frau wegen einer scheinbaren Kleinigkeit in Streit gerät. Janvier lässt sie kurzerhand verhaften. Alle Bemühungen, ihre Freilassung zu erreichen, sind vergeblich. Die Großmutter bleibt „verschwunden“, wie so viele andere Haitianer. Eines Tages fahren Sarah und eine Freundin ans Meer. Als Janvier die Freundin zu vergewaltigen versucht, wird es erschossen. den tödlichen Schuss gibt jedoch nicht Sarah ab, die den Revolver ihres Vaters mitgenommen hat, sondern Sorel, der „Mann vom Quai“, der in einer Vorahnung den Mädchen und Janvier gefolgt ist.

Zur Gestaltung

Das dramatische Geschehen ist ansatzweise in einen erzählerischen Rahmen eingebettet. Die erwachsene Sarah präsentiert uns in off-Kommentaren ihre Erinnerungen an eine leidvolle Kindheit. In der ungeordneten Reihenfolge der traumatischen Bilder manifestieren sich offenkundig die seelischen Beschädigungen, die Sarah angesichts alltäglicher Bedrohung erlitten hat.
Die besondere Rückblendentechnik wirkt jedoch ambivalent. Einerseits gelingt es dem Regisseur Raoul Peck, die Allgegenwart des politischen Terrors und dessen psychologische Folgen aus der Perspektive des Kindes zu veranschaulichen. Andererseits erschwert die komplizierte Montage von Erinnerungsbildern aus mehreren Zeitebenen das Verständnis. Vor allem am Anfang des Films fordert er den Zuschauern, insbesondere den jüngeren unter ihnen, einige Geduld ab, bis man die einzelnen Passagen richtig zuordnen kann. Allerdings muss man dem Regisseur zugestehen, dass die Spannung nach dem verhaltenen Beginn rasch wächst. Um eine Atmosphäre ständiger Gefährdung zu erzeugen, genügen Peck meist leise Andeutungen. Trotz des ernsten Themas bleiben Szenen mit expliziter physischer Gewalt erfreulicherweise selten. Zu den Ausnahmen zählt insbesondere die Schlussszene, die insofern als problematisch erscheint, als Peck zunächst den Eindruck erweckt, als ob Sarah in ihrer Notlage selbst geschossen habe.
Seine Spannung bezieht der Film hauptsächlich aus dem dramaturgischen Kunstgriff der Kontrastierung zweier Erlebniswelten. Der Welt des Kindes mit ihren Spielen, Ritualen und Träumen steht - vereinfacht gesagt - die Welt der Erwachsenen mit ihren Konflikten, Kämpfen und Beschädigungen gegenüber. Zwar nimmt die junge Sarah auch in der Welt der Erwachsenen glückliche Beziehungen wahr, etwa wenn sie in der Großmutter eine emotionale Bezugsperson findet, der sie absolut vertrauen kann. Doch allzu oft erfährt sie die Außenwelt der Erwachsenen aus der begrenzten Sicht ihres Unterschlupfes als einen schwerverständlichen Kosmos aus Grausamkeit und Willkür, der in ihre heile Welt eindringt und diese schließlich zerstört. Auf formaler Ebene spiegelt sich diese Zerstörung in der Bruchstückhaftigkeit der Erinnerungen. Weitere Spannungsmomente bezieht der Film aus dem Wechselspiel der Perspektiven. Denn der Blickwinkel des Mädchens überschneidet sich zuweilen mit dem der erwachsenen Frau. 
Eine weitere wichtige Kontrastebene schafft der Gegensatz von Hell und Dunkel bzw. Außen und Innen. Das Versteck auf dem Dachboden liegt fast immer im Halbdunkel, so dass für Sarah Geborgenheit an Innenräume geknüpft ist. Draußen auf den Straßen, unter der brennenden Sonne der Karibik, lauert dagegen die Gefahr in Gestalt Janviers und seiner Häscher. Den Ausbruch ins Freie nach der Amnestie empfindet Sarah - und wir mit ihr - zunächst als Befreiung. Als sie sich mit dem Ausflug an die Küste gleichsam am weitesten ins Revier Janviers vorwagt, führt sie zugleich die Entscheidung herbei.
Peck hat nach eigenem Bekunden in diesem Film auch Autobiographisches verarbeitet. So beginnt er schon mit einer auffälligen Parallele: Während der minderjährige Raoul nach Afrika auswandert, taucht die junge Sarah in eine Art inneres Exil ab. Besonders großen Wert legt der Regisseur denn auch auf die Authentizität der Darstellung: „Der Film basiert also auf persönlichen Erinnerungen, auf Nachforschungen, die ich im Verlauf der Jahre gemacht habe und auf einer wahren Geschichte. Alles an diesem Film ist authentisch.“ Authentisch sei sogar die Predigt des Priesters in der Kirche, die ein haitianischer Bischof genau so damals gehalten habe, unterstreicht Peck weiter.
Einen großen Teil seiner nachhaltigen Wirkung verdankt der Film den ausgezeichneten Hauptdarstellern, allen voran Toto Bissainthe als resolute Großmutter. Aber auch die junge Jennifer Zubar entwickelt bereits eine erstaunliche Leinwandpräsenz. „Der Mann auf dem Quai“ handelt nicht nur von politischen Machtverhältnissen, diese beeinflussten auch die Entstehung des Films. Nach dem Amtsantritt des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Haitis, Jean-Bertrand Aristide, wollte der Regisseur in Haiti drehen. Als jedoch im September 1991 das Militär putschte, musste er in die benachbarte Dominikanische Republik ausweichen.
Wie den vorangegangenen Film über Patrice Lumumba konnte der auf Haiti geborene und in Zaire aufgewachsene Peck auch den Haiti- Film nur als internationale Koproduktion mehrerer westlicher Länder realisieren. An „Der Mann auf dem Quai“ beteiligten sich eine Berliner Firma und das Zweite Deutsche Fernsehen im Rahmen des Projekts „Eine Welt“. Diese ZDF-Initiative will einen Beitrag zum interkulturellen Dialog zwischen Süd und Nord leisten, indem sie durch Koproduktion, Kofinanzierung oder den Vorabkauf von Rechten Kinofilme fördert, die Regisseure aus der sogenannten Dritten Welt für das einheimische Publikum - vorwiegend für Kinder und Jugendliche - herstellen.
Den haitianischen Kindern hat Peck übrigens seinen Film auch gewidmet - schließlich sind sie es, die unter der Gewaltherrschaft am meisten leiden. Schon allein deshalb, weil sie nicht fliehen können wie Sarahs Eltern. Ihre Großmutter bringt dieses Dilemma einmal im Dialog auf den Punkt: „Die Männer gehen, die Kinder bleiben.“

Zur Diskussion

„Der Mann auf dem Quai“ ist ein eminent politischer Film. Nicht dass er lautstark gegen die Militärdiktatur protestieren oder gegen die Unterwürfigkeit der Bevölkerung polemisieren würde. Nein, indem er Alltagsszenen in einem Provinznest schildert, zeigt er die Allgegenwart der Bedrohung umso eindrucksvoller. Etwa als Sarah mit ansieht, wie Janvier sich im Machtkampf mit Sarahs Vater schrittweise immer mehr herausnimmt, bis dieser schließlich kapituliert und ins Exil flieht.
Besonders eindringlich wirkt diese Darstellung durch den Verzicht auf plakative Gewalt, wobei sich Peck bewusst von der choreographierten und damit „aseptischen“ Gewalt in vielen amerikanischen Filmen absetzt. „Es ist keine physische Gewalt, es ist eine Gewalt, die sich in den Köpfen festsetzt, in die menschlichen Beziehungen einschleicht und lähmt. Es ist die Gewalt eines Blickes, einer Stille, einer harmlosen Geste, einer Person, die auf der Straße vorbeigeht. Darauf reagiert man unwillkürlich mit Angst und Selbstschutz.“ Pecks Film verharrt jedoch keineswegs in der Opfer-Perspektive. Lange lassen sich die Ohnmächtigen zwar peinigen, doch irgendwann setzen sie sich doch zur Wehr. So vollzieht der misshandelte Sorel am Ende eine späte Rache für die über Jahre hinweg erlittenen Demütigungen. Dieser „Mann auf dem Quai“, der sich jahrelang als vermeintlicher Narr ausgegeben hat, ist zugleich ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Tarnung. Das Politdrama trägt unübersehbar parabolische Züge. Da wir im Film nur wenige konkrete Informationen über die historische Duvalier-Diktatur erfahren, läßt sich die Darstellung der Unterdrückungsmechanismen ohne weiteres auf andere Systeme übertragen. Der Regisseur sagt dazu in einem Interview, das im Presseheft abgedruckt ist: „Es ging zuallererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzustellen, bevor es verloren geht - natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlichen Beziehungen beeinträchtigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südamerika und sogar in der Pariser Metro.“
Für die praktische Filmarbeit empfiehlt es sich, vor einer Vorführung einige Basisinformationen zur politischen Geschichte Haitis bereitzustellen und damit dem formal ohnehin anspruchsvollen Film den Weg zum Zuschauer zu ebnen. Eine knappe Übersicht mit Eckdaten findet sich im Presseheft. Besonders hervorzuheben ist dabei die Kontinuität der diktatorischen Verhältnisse auf Haiti bis zur Gegenwart: von der Terrorherrschaft des Francois Duvalier („Papa Doc“) von 1957 bis 1971 über die 15-jährige Tyrannei seines Sohnes Jean-Claude („Baby Doc“) von 1971 bis 1986 und die seit 1991 währende Militärherrschaft unter Führung von Raoul Cedras, deren Ende durch die Intervention der USA und der Vereinten Nationen besiegelt scheint. Gerade durch diese aktuelle Entwicklung ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Einbindung des Films in einen größeren Diskussionszusammenhang. So stellt sich beispielsweise die Frage, warum die internationale Gemeinschaft erst so spät eingegriffen hat - nach Schätzungen kamen unter dem Schreckensregime von Cedras 3.000 Menschen ums Leben. Und warum sieht sie den täglichen gravierenden Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern zu?

Zum Regisseur

Raoul Peck wurde 1953 in Port-au-Prince auf Haiti geboren. Nachdem der Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo angenommen hatte, zog die Familie für einige Jahre in die zairische Hauptstadt Kinshasa. Seine Schulbildung schloss er jedoch in einem dritten Kontinent ab: 1972 machte er in Frankreich das Abitur. In den achtziger Jahren absolvierte er in Berlin ein Studium an der Film- und Fernsehakademie. Peck ist außerdem ausgebildeter Wirtschaftsingenieur, Journalist und Fotograf.
Schon für seinen ersten langen Spielfilm „Haitian Corner“ erhielt er 1988 mehrere Preise. In dem essayistischen Dokumentarfilm „Lumumba - Tod des Propheten“ setzte er sich anschließend in sehr eigenwilliger Weise mit dem legendären ersten Ministerpräsidenten Zaires, Patrice Lumumba, auseinander. Auf dem XII. Fernseh-Workshop Entwicklungspolitik zeichnete die Jury die beiden letzten Peck-Filme im April 1994 als empfehlenswert aus, „weil sie auf der Höhe der filmischen Mittel den entwicklungsbezogenen Diskurs um die Dimension des interkulturellen Dialogs erweitern.“

Autor: Reinhard Kleber
Januar 1995

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