Teaser
Moloch Tropical

Spielfilm von Raoul Peck
Frankreich, Haiti 2009, 107 Minuten, OmU

Inhalt

Der Morgen beginnt mit einem strahlenden Sonnenaufgang über den Bergen. Auf einer der Anhöhen erhebt sich düster eine mächtige Festung. Darin, in seinem Bett, erwacht Jean de Dieu, der Präsident des Landes. Beim Ausstellen des Radioweckers fällt ein Wasserglas zu Boden, in dessen Scherben er während des Anziehens treten wird. Nebenan schläft Michaelle, seine Frau, die unwillig reagiert, als er ihr mit der Hand über den nackten Rücken streicht. Auf der Toilette sitzend probt der Präsident ein lateinisches Zitat, das die Rede zum heutigen 200. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes schmücken soll: „Bis vincit, qui se vincit, in victoria.“ (Doppelt siegt, wer sich besiegt im Siege.“)

Der Diener und Leibwächter, genannt Ti Coq, bringt eine Tablette. Nach einem Blick in die Zeitungen nimmt der Präsident einsam das Frühstück ein. Vor dem Schulgang sagt ihm seine kleine Tochter Guten Morgen. Sie beschwert sich über den Lärm des Helikopters über der Festung. Ein Diener führt das Mädchen durch das schwer bewachte Tor nach draußen. Mit ein paar Schritten auf dem Plateau der Festung versucht der Präsident, seine Konzentration zurück zu gewinnen. Im düsteren Verließ werden derweil die Hunde gefüttert, die den in einer Ecke hockenden Häftling bewachen.

Im Arbeitskabinett wird die Rede anlässlich des Unabhängigkeitstages aufgezeichnet. Mit Nachdruck in der Stimme sagt der Präsident der Korruption und jeglicher Ungerechtigkeit den Kampf an. An die Adresse Frankreichs richtet er die Forderung nach Rückzahlung der 150 Millionen Goldfranc, in Dollar umgerechnet 21 Milliarden, 685 Millionen, 130 Tausend, 517 Hundert und 48 Cent, die das Land der früheren Kolonialmacht als Entschädigung für die enteigneten und vertriebenen Plantagenbesitzer zahlen musste. „Ich liebe mein Vaterland“, schließt er feierlich und begibt sich, Michaelle unwillig beiseite schiebend, erschöpft in seine Privatgemächer.
Im Hof der Festung probt eine Militärkapelle die Nationalhymne und die der Länder, deren Vertreter zum Staatsakt erwartet werden. Einer der Musiker ist mit dem Dienstmädchen befreundet, das Jean de Dieu auch heute wieder sexuell zu Diensten sein muss, von ihm bezahlt. Auf dem Vorplatz treffen Schauspieler ein, die am Abend die historische Proklamation der Unabhängigkeit nachstellen sollen, und eine Sängerin aus Amerika. Es fehlt noch ein Pferd.

Am Sitzungstisch mit den engsten Mitarbeitern bekommt der Präsident einen Wutanfall, weil die Unruhen in der Stadt zunehmen. „Ich bin vom Volk gewählt“, wehrt er jeden Gedanken an Rücktritt ab. Das Radio sendet die vorher aufgezeichnete Rede des im Verließ malträtierten Wortführers des Aufstandes, der darin Jean de Dieu des Verrats an seinen Idealen, der Korruption und der Misswirtschaft  bezichtigt. Rachel, die leitende Ministerin und Vertraute des Präsidenten, bringt schlechte Nachrichten: die Absage mehrerer Diplomaten. Bestürzt telefoniert sie mit dem amerikanischen Botschafter, dessen Teilnahme unsicher geworden ist.

Auf der Straße spotten zwei Frauen, dass für das Volk von den Rückzahlungen nur die 48 Cent bestimmt gewesen sind, die Frankreich aber verweigert. Am Festungstor verschafft sich die Mutter des Präsidenten Einlass. Nach einer kurzen Begegnung mit ihrem Sohn, der unwillig über die Störung ist, nimmt sie in der Küche Platz, wo riesige Fleischmengen für das Festmahl am Abend vorbereitet werden. Im Verließ setzt der Sicherheitschef die Folterung des missliebigen Journalisten fort. Auf Drängen Rachels gibt Jean de Dieu, nach einigem Zögern, seine Zustimmung, „die Unsichtbaren“, eine paramilitärische Schlägertruppe, auf die Demonstranten los zu lassen. Wenig später bestellt er den prominenten Häftling zu sich, dessen Äußeres der Sicherheitschef erst einmal wieder herstellen muss. Mit einem frugalen Mahl, das der Gefangene nicht anrührt, und schmeichelnden Worten versucht der Präsident, ihn auf seine Seite zu ziehen, ein Angebot, das der Mann mit Worten der Verachtung von sich weist. Man führt ihn hinaus, um ihn bei lebendigem Leib zu verbrennen. Jean de Dieu beobachtet die Szene vom Plateau der Festung.

Im Palast treffen weitere Absagen ein. Die Mutter pflegt den verletzten Fuß ihres Sohnes und beklagt sein Versagen. Fernsehbilder zeigen das Wüten der „Unsichtbaren“, eine Folterszene im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib und die Identifizierung des gefangen genommenen Diktators Saddam Hussein. Im Orchester bricht ein Aufstand gegen den autoritären Dirigenten aus. Gegenüber seinen Ministern weist Jean de Dieu wiederum jeden Gedanken an einen Rücktritt von sich, auch wenn nun auch der amerikanische Botschafter sein Erscheinen für den Abend absagt.

Der Festakt im Freien vereint ausschließlich farbige Vertreter der Dritten Welt. In seiner Festrede steigert sich Jean de Dieu, der einige Tabletten zu sich zu nehmen vergessen hat, in die Doppelrolle des Propheten und des Opferlamms hinein. Beim Festmahl im Inneren der Festung, der im Auftritt einer amerikanischen Sängerin gipfelt, kommt es zu einer Schlägerei, als der Präsident das Zimmermädchen zu einem obszönen Tanz zwingt und damit deren Musikerfreund provoziert, der sofort erschossen wird. Fluchtartig verlässt Jean de Dieu die Gesellschaft, entledigt sich seiner Kleidung und läuft nackt durch die Gänge der Festung hinaus in die Finsternis,  mal Worte von Johannes dem Täufer, mal solche des Evangelisten Johannes auf den Lippen. Nach einer Weile findet Ti Coq seinen Herrn und führt den Halluzinierenden zurück in die Festung.

Am Morgen danach legt Rachel dem wieder nüchternen Präsidenten im Beisein des amerikanischen Botschafters die Rücktrittserklärung vor. Noch einmal verweigert Jean de Dieu die Unterschrift, um sich dann doch dem Diktat des Amerikaners zu beugten. Mit Michaelle und der kleinen Tochter steigt er in ein Auto und tritt die Reise ins Pariser Exil an. Aus dem Radio erklingt Musik aus Richard Wagners „Götterdämmerung“. Ti Coq erschießt sich. Die Diplomaten, die Truppe der Schauspieler und die Sängerin sind fluchtartig auf und davon.

Versuch einer Lesart

„Ich bin vom Volk demokratisch gewählt.“ Ein halbes Dutzend Mal wird Jean de Dieu den Satz vor seinen Getreuen an diesem Tag wiederholen, ein letztes Mal am folgenden Morgen, als ihn die Umstände zwingen, die Rücktrittserklärung zu unterschreiben. Er ist tatsächlich gewählt worden, auf ihm lagen die Hoffnungen vieler Menschen. „Du hast uns verraten“, hält ihm der fast schon zu Tode malträtierte Rundfunkjournalist vor, als der Präsident ihn mit einem guten Essen auf seine Seite ziehen will. Verstehen kann und will er nicht, weshalb die Stadt gegen ihn im Aufruhr ist. „Das Volk ist gut“, redet er sich selbst gut zu und wird sich getreu seinem biblischen Namen, in die Doppelrolle eines Propheten und eines Opferlamms hineinsteigern.

Der Zuschauer erfährt nicht, woher die Unzufriedenheit kommt und welche Forderungen erhoben werden. Einmal ist von Studenten die Rede. Wie hart die Hand des Sicherheitsapparates auf dem Volk lastet, verdeutlicht das Schicksal des inhaftierten Reporters, den man bei lebendigem Leib verbrennen wird. Wie unhaltbar die Zustände geworden sein müssen, zeigt die reihenweise Absage der Botschafter vor der Jubiläumsfeier. Den Ausschlag geben die Vereinigten Staaten. In diesem Widerspruch, von sich selbst das Beste zu denken, das Wissen um die drohenden Gefahren aber hartnäckig zu verdrängen, liegt der fast schon tragisch zu nennende Widerspruch des Präsidenten.

Andererseits taucht der Film seine Hauptgestalt von Beginn an in ein komisches Licht. Die Schlafmaske über den Augen, das Umstoßen des Wasserglases, in dessen Scherben der Präsident in einem übermütigen Moment beim Anziehen treten wird, mit der Folge, den Tag über humpeln zu müssen, das Gebaren auf dem WC, wo er die Sentenz von Publilius Syrus einübt („Bis vincit, qui se vincit, in victoria.“ – Doppelt siegt, wer sich besiegt im Siege.), ohne zu verstehen, dass für ihn von einem Sieg nicht mehr die Rede sein kann, dazwischen der Anruf der Mutter – dies scheint schon genug, die Hauptfigur ins Lächerliche zu ziehen. Der Adlatus Ti Coq bringt eine Tablette, die erste von mehreren, die er den Tag über einnehmen muss. An die Stelle des Respekts setzt der Film eine Art Kammerdienerperspektive. Wenn er dann gleich mehrmals das Zimmermädchen sexuell bedrängt und damit schließlich einen Eklat auf dem Staatsbankett verursacht, scheint dem Ansehen der Person vollends der Boden entzogen. Ein Staatspräsident, der nackt aus seiner Burg ins Dunkel der Nacht flieht, bis man ihn zurückholt, und der am Morgen von seiner Ministerin und dem amerikanischen Botschafters „zur Vernunft gebracht“ werden muss, damit er sein Leben und das seiner Familie rettet, verdient wenig Respekt.

Jean de Dieu verkennt die Zeit. Er will nicht wahrhaben, was mit ihm und um ihn geschieht. Mit Rhetorik und erotischen Eskapaden weicht er dem Ernst der Stunde hartnäckig aus. Seine Ratgeber müssen ihn erst mit Nachdruck darauf stoßen, wie besorgniserregend die Lage geworden ist. Auf den Straßen lacht man über seine Reden. Doch in die Welt außerhalb der Burg ermöglicht der Film nur wenig Einblicke. Streng und locker zugleich, beinahe wie ein Drama Shakespeares, wo die Tragik oft komische und die Komik tragische Züge aufweist, entwirft er das Drama eines Königs ohne Land.

Pecks Stilisierung setzte mit der Entscheidung, die Dreharbeiten in die von König Henri Christophe erbaute Zitadelle La Ferrière im Norden des Landes zu verlegen, einen wichtigen Akzent. Hier, in dieser Trutzburg der Selbstherrschaft, hätte auch ein König Richard Zuflucht nach der verlorenen Schlacht suchen können. Doch Jean de Dieu hat keine Schlacht verloren, denn er hat sie weder gewagt noch geschlagen. Er macht den Eindruck eines Träumers auf dem Präsidentenstuhl, ein Mann, der an seinen Worten Genüge findet und von den realen Verhältnissen möglichst verschont bleiben will. Er lebt in der Welt seiner guten Absichten, an die er denn auch den gefolterten Reporter erinnert, als dieser in einem Anzug und Hemd aus der Garderobe des Präsidenten, dazu kosmetisch präpariert, vor ihn gebracht wird. Die Szene erinnert, parodistisch gebrochen, an den Dialog des gefangenen Marquis  Posa mit dem spanischen König Philipp in Schillers Jugenddrama „Don Karlos“. Schiller lässt allerdings zwei dramatisch gleichwertige Gestalten gegenüber treten: den Repräsentanten des Staates und den Anwalt der Gedankenfreiheit. Bei Peck sind es ein fast schon machtloser Präsident und ein physisch gebrochener Volksvertreter.

Müssen wir uns Jean de Dieu als einen verschlagenen, bornierten Diktator vorstellen oder besser als einen Gefangenen guter Absichten, den die Angst vor dem Schicksal, vor dem Scheitern, vor den Verhältnissen, wie sie im Land herrschen, umtreibt? Hier oben, in der militärisch gesicherten Festung, muss er nichts darüber hören, wie das Volk gegen seine Herrschaft aufsteht, die von Versprechungen reich war, von deren Erfüllung dagegen offenbar arm. In der dumpfen Luft zwischen den dicken Mauern kann einzig die Mutter noch offen zu ihm sprechen: „Wie konnte es soweit kommen?“ Auch zwischen seinen Vertrauten ist der Präsident einsam geworden. Die Staatsgeschäfte besorgt Rachel, die leitende Ministerin, deren Hauptaugenmerk, neben der Niederschlagung der Revolte, dem Verhältnis zum amerikanischen Botschafter gilt. Sie sieht die Situation illusionslos und wird rechtzeitig ihre Sachen packen. Der Sicherheitschef  dagegen weiß, wie man mit Kritikern verfahren muss, während die Kulturministerin selbst im Angesicht des bevorstehenden Zusammenbruchs, oder gerade deshalb, eine sexuelle Affäre auf Kosten eines Untergebenen auslebt. Vornehme Kühle zeichnet die Präsidentengattin Michaelle aus, die bei Staatsakten wie diesem immer eine gute Figur macht. Am Morgen hat eine Berührung seiner Hand genügt, dass sie Jean de Dieu wie eine Katze anfuhr. Und dann ist da noch der Schatten des Präsidenten, Ti Coq, der von der ersten bis zur letzten Stunde des Tages weiß, was sein Herr braucht: am Morgen eine Pille und in der Nacht die führende Hand, als der sichtlich Verwirrte durchs Gelände stolpert. Ti Coq ist ein guter Mensch, nur ohne einen anderen Rückhalt als sein Pflichtbewusstsein und darum wohl das, was man eine verlorene Existenz nennt.

Wie sehr Raoul Peck eine zwischen Parodie und ernstem Drama chargierende Wirkung im Auge hatte, lässt sich auch an der Besetzung ablesen. Zinedine Soualem in der Hauptrolle, 1957 in Frankreich geboren, algerischer Abstammung, ist durch Arbeiten von Patrice Chérau und Ariane Mnouchkine bekannt geworden, scheute sich aber auch nicht, bei heiteren Komödie wie Dany Boons „Willkommen bei den Sch’tis“ vor die Kamera zu treten. Seine Darstellung Jean de Dieus kann ein Hohnlachen und Betroffenheit im gleichen Moment erzeugen. Über Sonia Rolland als Michaelle scheint nicht alles, aber einiges gesagt, wenn man weiß, dass die 1981 in Kigali geborene Tochter einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters im Jahr 2000 zur Miss France avancierte, ein Ehrenamt, dass sie vermutlich ebenso stolz ausfüllte wie ihre Rolle in „Moloch Tropical“: unnahbar und auf Lippen und Stirn immer die Andeutung spöttischer Verachtung. Woody Allen engagierte sie für seinen Erfolgsfilm „Midnight in Paris“. Mireille Melettus dagegen, die als Ministerin die Fäden in der Hand hält, ist  bereits aus Pecks erstem Spielfilm „Der Mann auf dem Quai“ von 1993 ein bekanntes Gesicht.

Spätestens hier ist es an der Zeit, auf den historischen Hintergrund des Films hinzuweisen. Die Geschichte des Präsidenten Jean de Dieu, der vom Aufruhr im Land und von den amerikanischen Protegés zum Amtsverzicht gezwungen und ins Exil abgedrängt wird, ist keine Erfindung Raoul Pecks, sondern mit erstaunlicher Genauigkeit auf Persönlichkeit und Biographie des haitianischen Präsidenten Jean-Baptiste Aristide zugeschnitten. Im gleichen Jahr wie Peck, doch unter ärmlichen Verhältnissen, 1953 in Haiti geboren, konnte er die Schule des Salesianerordens besuchen und studierte anschließend Theologie und Psychologie. 1982 erhielt er die Priesterweihe. Bereits zu diesem Zeitpunkt war er aktiv am Widerstand gegen den Duvalier-Clan („Papa Doc“ und „Baby Doc“) beteiligt. Er kritisierte den Vatikan für dessen Haiti-Politik und wurde deshalb 1988 aus dem Salesianerorden ausgeschlossen. Als Hoffnungsträger der ärmeren Volksschichten gewann Aristide im Jahr 1990 die Wahl ins Präsidentenamt mit absoluter Mehrheit, wurde jedoch  wenige Monate später von einem Militärputsch aus dem Land getrieben. Dank des Eingreifens der USA konnte Aristide 1994 zurückkehren und regierte bis zum regulären Ende seiner Amtszeit im Jahr 1996. Bei der Präsidentenwahl im Jahr 2000 ging er erneut als Sieger hervor. Vorwürfe wegen Wahlmanipulationen wurden laut, seit 2002 herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, hinter denen auch der Duvalier-Clan gestanden haben soll, im Land. Anfang Februar 2004 entsandten Frankreich und die USA Truppen nach Haiti. Am 29. Februar erzwangen die USA den Amtsverzicht von Aristide, der sich allerdings während seines Exils in der Zentralafrikanischen Republik, in Jamaika und schließlich in der Südafrikanischen Republik noch immer als der rechtmäßige Präsident Haitis bezeichnete. Nach dem verheerenden Erdbeben kehrte er 2010 nach Port-au-Prince zurück.

Es musste verwundern, dass Raoul Peck bei der Pressekonferenz anlässlich der Aufführung seines Films auf der Berlinale 2009 „Moloch Tropical“ nicht zu eng mit der jüngsten Geschichte Haitis in Zusammenhang gebracht sehen wollte, sondern eine Parallele zu Potentaten wie Silvio Berlusconi zog. Die Unterschiede zwischen dem als Befreiungstheologen angetretenen, hoch gebildeten Mann aus dem haitischen Armenhaus und dem gerissenen Medienmogul Italiens, dazu die fundamentalen Kontraste zwischen den politischen Verhältnissen beider Länder sind jedoch zu groß, als dass sie unter einem Dach Platz haben könnten. Eher als zu Berlusconi ließen sich Parallelen zu manchem afrikanischen Herrscher herstellen, zum Beispiel zu dem bizarren libyschen Alleinherrscher Al-Ghaddafi, der die verfeindeten Stammesgruppen seines Landes mit Gewalt zusammen hielt, oder auch zu Saddam Hussein, an den der Film in einer kurzen Einstellung erinnert. Gewollt ist offenbar der Bezug zu Alexander Sokurows hoch ambitioniertem Film über das Treiben Adolf Hitlers in der Endzeit der NS-Herrschaft auf dem Obersalzberg, „Der Moloch“, aus dem Jahr 1999. Er könnte, bei aller Problematik des Vergleichs, zumindest den Titel angeregt haben. Doch der gescheiterte Befreiungstheologe aus Haiti ist eine viel zu solitäre Gestalt, um mit dieser verbrecherischen Unperson der Geschichte auf eine Stufe gestellt werden zu dürfen.

„Moloch Tropical“ trifft, nicht zuletzt dank der großartigen Darstellung Zinedine Soualems, vor allem und einzig die Person Jean-Baptiste Aristides und die chaotischen Umstände seines Sturzes im zweihundertsten Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit Haitis, allerdings als Parodie, als Hohngesang, bei dem die Enttäuschung des Autors und Regisseurs die Melodie angestimmt hat. Bei aller Komik schwingt dabei noch ein Rest von Respekt mit. Auskunft über Ursachen des Scheiterns kann Pecks Parabel in ihrer dramatischen Geschlossenheit nicht geben. Nur eine episch weit gefächerte Darstellung könnte die selbstzerstörerische innere Zerrissenheit des Landes seit seiner Geburtsstunde im Jahr 1804, als Jean-Jacques Dessalier den „Ersten freien Negerstaat“ postulierte, der sich zeitweilig spaltete, im blutigen Kampf der schwarzen und kreolischen Ethnien fast zerrieben wurde und immer wieder Diktatoren oder ausländische Mächte zum Eingreifen verlockte, erkennbar machen. Von diesem weit gefächerten Widerstand gegen den Theologen auf dem Thron ist im Film einzig die verbürgte Gestalt des Radioreporters Jean Dominique präsent.

Wer oder was aber, bleibt zu fragen, ist der tropische Moloch, der ständig nach neuen Opfern verlangt? Und wer ist hier das Opfer: allein der Reporter, der ermordet wird, oder vielleicht auch der mit seinen Ideen gescheiterte Präsident? Einen „gescheiterten Staat“ nennt der Haiti-Kenner Hans Christian Buch dieses Land, das einstmals die reichste Kolonie der Karibik war und in zwei Jahrhunderten – eine bloße Folge der Kolonisierung? - zu einem der ärmsten Länder Lateinamerikas herabsank. Auf den ersten Blick eine Parabel auf das Scheitern eines Diktators lässt sich der Film zugleich als eine schmerzvolle Abrechnung des Regisseurs mit seinem Heimatland verstehen, als Versuch, die Enttäuschung über das Scheitern dieses Staats an einem jüngsten Wendepunkt in einer fast schon farceartigen Tragödie zu gestalten.

An den Anfang des Films hat Raoul Peck einen Satz aus dem 3. Buch Moses (Kapitel 20, Vers 2) gestellt: „Wer unter den Kindern Israels eines dem Moloch opfert, der soll des Todes sterben und ich werde ihn aus seinem Volk ausrotten.“ Es ist ein hartes, wohl zu hartes Verdikt über Jean-Baptiste Aristide, auch wenn auf dessen Schuldkonto die Ermordung des Reporter Jean Dominique (und mehr) kommt. Denn  Aristide selbst ist ein Gescheiterter, den „der Moloch“ beinahe verschlungen hätte, begünstigt durch eigene Torheit und Versagen. Im Nachdenken darüber mündet der Film in einen politischen Diskurs, an dessen Endpunkt erst ein Urteil stehen sollte.

Einige Daten aus Haitis Geschichte

  • 1492 Entdeckung durch Christoph Kolumbus, der die Insel „Hispañola“ (Kleinspanien) nennt. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist die indianische Bevölkerung ausgerottet und wird durch Sklaven aus Afrika ersetzt.
  • 1697 Der Westteil der Insel gerät unter französische Herrschaft und prosperiert durch Zucker- und Kaffeeexport nach Europa.
  • 1791 Beginn des Aufstands unter Francois-Dominique Toussaint Louverture, der 1802 wegen der Befreiung der Sklaven nach Frankreich deportiert wird und 1803 im Fort de Joux stirbt.
  • 1804 Jean-Jacques Dessalines proklamiert die Unabhängigkeit von „Haiti“ („bergiges Land“) und ernennt sich selbst zum Kaiser.
  • 1806 Dessalines wird ermordet, Beginn der Kämpfe zwischen der Minderheit der Mulatten und den mehrheitlichen Schwarzen.
  • 1811 Im Norden entsteht eine schwarze Monarchie (Bau der Zitadelle „La Ferrière“), im Süden eine Mulattenrepublik.
  • 1820 Beide Länder vereinigen sich.
  • 1825 Frankreich verlangt von Haiti über 150 Millionen Goldfranc als Entschädigung für die Enteignung der französischen Plantagenbesitzer. (Die letzte Ratenzahlung erfolgt 1947.)
  • 1842 Ein großes Erdbeben verwüstet weite Teile der Insel.
  • 1849 Kaiser Faustin Soulonque proklamiert das Kaiserreich Haiti und führt einen grausamen Krieg gegen den abgespaltenen Osten.
  • 1859 Das Land wird wieder Republik. Häufig wechselnde Präsidentschaften.
  • 1915 Besetzung durch amerikanische Truppen, die bis 1934 im Land bleiben. Zwangsarbeit für große Teile der schwarzen Bevölkerung.
  • 1957 Wahl von Francois Duvalier („Papa Doc“) zum Präsidenten, der die mulattischen Eliten zurückdrängt.
  • 1971 Übergabe der Macht an den Sohn Jean-Claude Duvalier („Baby Doc“).
  • 1984 Verhängung des Kriegsrechts. Duvalier geht ins französische Exil.
  • 1990 Jean-Baptiste Aristide gewinnt die Präsidentenwahl als Kandidat des Volkes.
  • 1991 Ein Armeeputsch treibt Aristide ins Exil. Handelsembargo durch die OAS.  Massenflucht ins Ausland.
  • 1994 Nach einer Intervention der USA kehrt Aristide in sein Amt zurück.
  • 1996 Wahl René Prevals zum Präsidenten.
  • 2001 Wiederwahl Aristides.
  • 2002 Beginn bürgerkriegsähnlicher Zustände im Land.
  • 2004 Die USA erzwingen am 29.02. Aristides Ausreise.
  • 2006 René Preval wird Präsident.
  • 2010 Ein verheerendes Erdbeben zerstört Port-au-Prince und andere Landesteile. Die internationale Aufbauhilfe erweist sich als weitgehend ineffizient.
  • 2011 Jean-Claude Duvalier und Jean-Baptiste Aristide kehren ins Land zurück.
  • 2014 Im Juni Empfehlung des Auswärtigen Amtes: „Von nicht erforderlichen Reisen nach Haiti wird abgeraten.“

Zum Regisseur Raoul Peck

Raoul Peck wird 1953 in Port-au-Prince, Haiti, geboren. Weil sein Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo annimmt, zieht die Familie für einige Jahre nach Kinshasa (damals Léopoldville). Als Kind erlebt Raoul Peck die damaligen politischen Ereignisse um die Unabhängigkeit. Er verlässt Zaire als Jugendlicher. Ausbildung und Studium in den USA, Frankreich und in Deutschland; in Berlin studiert er Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB). Er ist zudem ausgebildeter Wirtschaftsingenieur, Journalist und Fotograf.
1994/95 lehrt er an der Tisch School of the Arts an der Universität New York.
1996/97 ist er Kulturminister in Haiti. Seit 2010 steht er dem Leitungsgremium der Filmschule La Fémis in Paris vor.

Filmographie (Auswahl)

  • 1982 De Cuba traigo un cantar
  • 1984 Merry Christmas Deutschland
  • 1988 Haitian Corner (bei EZEF)
  • 1991 Lumumba - Tod des Propheten (bei EZEF)
  • 1993 Der Mann auf dem Quai (bei EZEF)
  • 1994 Haiti, Warten auf die Rückkehr
  • 1997 Chère Catherine
  • 2000 Lumumba (bei EZEF)
  • 2001 Profit, nichts als Profit! (bei EZEF)
  • 2005 Sometimes in April
  • 2006 L’Affaire Villemin
  • 2009 Moloch Tropical (bei EZEF)
  • 2013 Tödliche Hilfe*
  • 2015 Mord in Pacot (bei EZEF)

Vorschläge für das Filmgespräch und zur Nacharbeit mit dem Film

  • Es ist auffällig, dass sich durch die Jahrhunderte immer wieder deutsche Autoren der Geschichte Haitis zugewandt haben: Heinrich von Kleist, Die Verlobung von St. Domingo; Anna Seghers, Die Hochzeit von Haiti, Das Licht auf dem Galgen; Heiner Müller, Der Auftrag; Hans Christoph Buch, Die Hochzeit von Port-au-Prince. Was könnte der Grund dafür sein?
  • Worin lagen die Motive der Vereinigten Staaten für ihr mehrmaliges politisches und militärisches Eingreifen in Haiti?
  • Gibt es Parallelen zwischen der Entwicklung Haitis und afrikanischer Länder, so z.B. zu Liberia, als Nachfolgestaat freigelassener schwarzer Sklaven?
  • Sind die Ursachen für die „verfehlte Geschichte“ Haitis hausgemacht oder eher im Eingreifen ausländischer Mächte zu suchen?
  • Welche Aufschlüsse gibt der Vergleich zwischen der Geschichte Haitis und der seiner Nachbarstaaten, insbesondere Kubas?
  • Mit welchen Mitteln setzt Raoul Peck in seinem Film ironische und sarkastische Akzente? Kommt der Musik dabei eine eigenständige Rolle zu?
  • Wo liegen die Stärken, wo die Grenzen dieser Parabel? Welche Szenen bleiben besonders in Erinnerung?
  • Worin lag die Bedeutung der katholischen „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika? Ist sie noch aktuell?

Literaturhinweise

  • Walther L. Bernecker, Kleine Geschichte Haitis. Frankfurt a. M. 1996
  • Werner Pieper, Haiti besser verstehen – Vergangenheit, Gegenwart und Ausblicke nach dem Beben. Löhrbach 2010
  • Hans Christoph Buch, Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat. Berlin 2010
  • Philippe Soupault, Der Neger. (1927)  Heidelberg 1982
  • Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt. Frankfurt a. M. 1964
  • Jacques Roumain, Herr über den Tau. Hamburg 1950
  • Jacques Stéphen Alexis, Die Mulattin. Hamburg 1985
  • René Depestre, Hadriana in all meinen Träumen. Düsseldorf 1990

Filmhinweise

Raoul Pecks Haiti-Filme sind nahezu alle bei EZEF erschienen (weitere Informationen im Katalog):

  • Der Mann auf dem Quai (L'Homme sur les Quais)
    Raoul Peck, Haiti, F, CD, D 1993, Spielfilm, 105 Min., OF m dt. UT
  • Haitian Corner
    Raoul Peck, USA, D 1988, Spielfilm, 98 Min., OF m dt. UT
  • Profit, nichts als Profit! (Le Profit et rien d'autre)
    Raoul Peck, Haiti, F, 2009, Dokumentarfilm, 57 Min., OF m dt. UT
  • Tödliche Hilfe (Assistance Mortelle)
    Raoul Peck, Haiti, F, D, 2001, Dokumentarfilm, 100 Min., OF m dt. UT
  • Mord in Pacot
    Raoul Peck, Haiti, F, N, 2014, Spielfilm, 130 Min., OF m dt. UT

Autor: Hans-Jörg Rother
10/2014

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