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Angano... Angano... Geschichten aus Madagaskar

Angano... Angano... Nouvelles de Madagascar
Dokumentarfilm von Marie Clémence Paes und César Paes
Frankreich 1989, 63 Minuten, OmU

„Geschichten... Geschichten... nichts als Geschichten. Ich erzähle keine Lügen, sondern erzähle weiter, was die Leute vor mir schon erzählten, und ihre Geschichten haben nicht aufgehört sich auszuweiten...“ Mit diesem Text leitet Randrijamahaziaro (der Prinz, der sich erinnert) sinngemäß den Film ein. Es ist dieser Satz, der wie ein Ritual am Ende jeder Erzählung gesprochen wird. Gleichsam wie ein „Amen“. Der aber auch dem Erzählten seinen Bedeutungsgrad und Rahmen gibt. Denn diese Geschichten sind überliefert von den Ahnen und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Es ist also etwas Lebendiges, was da im Prozeß des Weitererzählens geschieht. Die Geschichten werden vererbt, behalten, aber auch durch die Interpreten  erweitert, ergänzt, ja sogar aktualisiert.
Der Film angano...angano...basiert auf Mythen, Geschichten und Legenden, visualisiert aber auch gleichzeitig Landschaften, ihre Kultur und den Lebensalltag der Menschen in Madagaskar. Er ermöglicht so den Zugang zur Alltagskultur und Philosophie auf eine poesievolle Weise, die gleichzeitig die Realitäten der Gegenwart nicht übersieht.

Inhalt
Der Film beginnt mit der Schöpfungsgeschichte:
„Am Anfang gab es den Gott des Himmels und den Gott der Erde. Als der Gott der Erde zum Himmel hochschaute, sah er den wunderschönen Himmel mit seinem Mond und seinen Sternen leuchten. Aber auch der Gott des Himmels schaute auf die Erde herab und sah die wunderschöne Erde da unten mit ihren Flüssen, den Pflanzen und den Tieren. Der Gott der Erde wurde begierig auf den Himmel und der Gott des Himmels auf die Erde. Da enstand ein Krieg zwischen beiden. Der Gott des Himmels hat den Blitz auf die Erde geschickt, und der Gott der Erde hat die Berge hoch aufgestellt, um den Himmel anzugreifen.“ So berichtet der erste Erzähler und seine Geschichte wird begleitet durch Bilder der wunderschönen madagassischen Landschaft, die der Film vor den Augen der Zuschauer ausbreitet. Leuchtende Himmel mit Wolken, grüne Täler und malerische Sonnenuntergänge, sowie der Zorn der Elemente, der sich in Gewittern, Wolkenbrüchen, Donner und Wind zeigt, begleiten den Erzähler und seine Geschichte. In diesem Krieg gab es keine Sieger und keine Besiegten. Denn der Gott des Himmels und der Gott der Erde schlossen Frieden. Sie hatten sich geeinigt, den Menschen zu erschaffen. Der Gott der Erde formte ihn aus Lehm, und der Gott des Himmels gab ihm das Leben. Gleichzeitig sehen wir ein spielendes Kind, nackt am Strand, völlig seinem Spiel hingegeben. So entsprechen sich in diesem Film ständig Text und Bild, um sich gegenseitig zu verdeutlichen, zu erhellen. Die Bilder sind einfach und klar. Sie wollen nicht überreden, überzeugen, sondern setzen die Dinge einfach ins rechte Licht.
Doch die Geschichte geht weiter. Beim Tod des Menschen diskutieren die Beiden erneut. „Er gehört mir“, sagt der eine, „nein, mir gehört er; denn er lebt schließlich bei mir“, antwortet die Erde. Aber auch dieses Mal einigen sie sich auf das Teilen. Der Gott der Erde behielt den Körper, und der Gott des Himmels holte sich die Seele zurück. „Und hier seht ihr, warum das Leben - die Seele - des Menschen, wenn er stirbt, zum Himmel steigt und sein Körper auf der Erde bleibt“, folgert der Erzähler.
In diesem Film ist nichts zufällig. Er verfolgt seinen Plan mit Zielstrebigkeit, indem wir weitere Geschichten kennenlernen. Wie der Reis nach Madagaskar kam, erfahren wir so im Kommentar, während gleichzeitig Bilder zu sehen sind, wie der Reis bearbeitet wird, wie er wächst und gedeiht. Während eine alte Frau die Geschichte des Fabelwesens - dem Kalanoros erzählt - welches sie angeblich als Kind gesehen hat, versetzt der Film uns in die mythische, aber auch in die heutige Welt: Wir sehen Mädchen, die am Flussufer Geschirr waschen, und es emsig nach Hause bringen. Sie beeindrucken uns durch ihre Verantwortung und Selbständigkeit. Ebenso wird der Ursprung verschiedener Opferrituale mit den entsprechenden Szenen aus der Lebenswirklichkeit der Menschen im heutigen Madagaskar begleitet. Die Opfer-Schlachtung eines Zebu-Rindes, die nur in Verbindung mit ihrem kulturellen und religiösen Rahmen verstehbar wird, verdeutlicht den Ursprung dieser Tradition. Die Verbindung der Lebenden mit den Ahnen und ihrer Kraft wird bei der Totenbettung deutlich. Sie zeigt einen angstfreien, ja sogar heiteren und zärtlichen Umgang mit ihnen. Die Lebenden der Gegenwart und die Verstorbenen gehören zusammen. Aus dieser Verbindung kommt die Kraft für das Leben.
„Es sind wir selbst“, sagt ein junger Mann. Und auch hier wie im ganzen Film kommt ein gesunder Humor zu Tragen: „Wer ist das? Es ist Daisy... Drehe ihn nicht zu sehr. Wir werden ihn sanft hineinlegen“. Dies sind Dialoge, die beim Umbetten zwischen den lebenden Verwandten und Freunden geführt werden. Überall und immer sind die Ahnen zugegen, - der Tod - und das Leben.
Es wird aber auch deutlich, daß Tabus und Gebräuche nicht unveränderbar sind. Es genügte im Jahre 1928 ein Zebu zu opfern, um ein Tabu aufzulösen, das den Bau der Häuser aus Lehmbacksteinen verboten hatte (denn vorher war es nur den Toten erlaubt, in der Erde zu wohnen). „Im Namen des Fortschritts können wir heute nicht mehr die Tabus aufrecht erhalten. Wir dürfen nicht in unserer Entwicklung stagnieren“, sagt ein Erzähler.
Im letzten Teil des Films wird auch die neuere Geschichte, die Kolonialzeit Madagaskars, unter dem Licht der mündlichen Tradition mit Ironie beleuchtet. Es wird noch einmal die Bedeutung der oralen Tradition betont: „Die mündliche Geschichte ist unsere Geschichte“, sagt ein anderer Erzähler. „Und um die Geschichte zu lernen, mußt du mit den Leuten auf dem Land arbeiten (‘den Leuten aufs Maul schauen...’, wie wir es hierzulande sagen).“ Und noch einmal wird herausgestellt: „Die Geschichten formen den Geist, ein wenig wie die Philosophie“. Und: „Es ist nötig, daß jede Nation ihre eigene Tradition behält, damit die anderen Nationen davon erfahren können... Es kann ja sein, daß man daraus seine Lehren ziehen kann“.


Die Regisseure und ihr Film
In diesem Film wollte das Ehepaar Marie Clémence Paes, die madagassische Vorfahren hat, und César Paes bewusst keine ethnographische Dokumentation schaffen. Sie haben auf eine beeindruckende Weise durch ihr großes Einfühlungsvermögen und ihr Können weit mehr erreicht. Ihr Zugang zur madagassischen Kultur führt über die Poesie, die Volkskunst des Erzählens der Mythen, Legenden und Märchen; transportiert auf eindrucksvolle Weise die Bilder zwischen dem imaginären und dem reellen Leben im heutigen Madagaskar. Sie haben den Erzählerinnen und den Erzählern das Wort gegeben, um zu berichten, wie sie die Geschichte ihrer Insel, ihrer Bewohner und deren Herkunft deuten und verstehen, so wie sie durch die „orale Literatur“ tradiert wurden.
Sie haben den heutigen Lebensalltag gefilmt und so die Natur, die Reisfelder, die Kinder, die Gebräuche des Volkes und der Familien, die Feste, die Opferrituale und die Viehherden zu einem Ganzen verwoben.
Der Film wurde ausgezeichnet als bester Dokumentarfilm beim 30. Festival del popoli in Florenz 1989 und erhielt den Library Award des Festivals Cinema du Reel 1989 in Paris.

Methodische Anleitung und Einsatzmöglichkeiten
Die Verwendung dieses Filmes wird vorwiegend zur Vertiefung und Erweiterung der Grundkenntnisse über das Land Madagaskar und seiner Menschen empfohlen. Mit entsprechender Vor- und Nachbereitung eignet er sich aber durchaus auch als Information zur Einführung in das Land.
Die nötigen Grundinformationen sollten durch Lektüre oder Referat für Gruppen vorher vermittelt werden. Insbesondere muß darin auch zur Bedeutung der mündlichen Kultur grundsätzlicher Art und insbesondere der mündlichen Tradition in Madagaskar informiert werden. Wunderbar wäre es, wenn auch da bereits eine Brücke zum volkstümlichen Erzählen unserer Kulturen in Europa geschlagen werden könnte. Wichtig ist, dass die vitale Bedeutung der mündlichen Erzählung für die Menschen in Madagaskar verstanden und bewusst wird. Es muss deutlich werden, daß diese Kultur bis heute das Leben in einem Land prägt, in dem erst im letzten Jahrhundert die lateinische Schrift eingeführt wurde. Dieses bedeutet mitnichten Kulturlosigkeit für die madagassischen Menschen. Es ist die besondere Qualität dieses Filmes, dass er die vitale Tradition der mündlichen Erzählung dieses Landes bewusst macht und plastisch werden lässt. (Für die Aneignung der Grundinformationen finden Sie Literaturhinweise im Anhang.)
Der Film "Angano... Angano..." ist geeignet für Zielgruppen verschiedenster Art, wenn die o.a. Voraussetzungen zutreffen. Er kann in der Bildungsarbeit für Erwachsene - Frauen und Männer - sowie Volkshochschulgruppen verwendet werden. Eine besonders gute Einsatzmöglichkeit wird im Rahmen der Vorbereitung des Weltgebetstags 1998 sein. Hier sollte der Film allerdings in Ergänzung zu anderen Informationen verwendet werden - insbesondere für die verantwortlichen Leiterinnen in der Vorbereitung.
Auch für die Schule kann er Verwendung finden, allerdings sind hier höhere Klassen und eine eingehende Vorbereitung  oder Projektarbeit Voraussetzung.
Die Konzentration auf Bilder und Text verlangt fast ein zweimaliges Anschauen, um seine Qualität voll erfassen zu können.
Trotz der erwähnten Einschränkungen stellt der Film einen Gegenpol zum allseits umgreifenden Afro-Pessimismus dar. Er wird allen empfohlen, die sich Zeit nehmen und die Mühe machen wollen, sich mit Respekt und Einfühlungsvermögen mit einer anderen Welt und Kultur zu befassen.

Filmgespräch
Nach Ansehen des Filmes bietet sich ein erstes Gespräch an. Zuerst sollen Klärungsfragen zugelassen, dann aber vom Leiter oder der Leiterin einige Schwerpunkte in der Gesprächsführung gesetzt werden, auf die er/sie sich gut vorbereiten muss.
Da der Film wenig Grundinformation zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturell-religiösen Situation Madagaskars direkt vermittelt, sollten einige wichtige Daten zum geschichtlichen, kulturellen und politischen Hintergrund zur Einführung oder beim anschließenden Filmgespräch ergänzend vorgetragen werden. Dazu gehört auch der Hinweis auf die traditionellen Literaturformen in Madagaskar. Poesie spielt im Leben der meisten Madagassen eine wichtige Rolle. Sie begleitet sie von der Geburt bis zum Tod. Das tritt bei allen sozialen Ereignissen zu Tage. In der traditionellen oralen Literatur Madagaskars gibt es deshalb auch verschiedene Formen:
Das Wechselgespräch in Versform - hainteny
Die Weisheitssprüche - ohabolana
Die Kunst der freien Rede - kabaryi
Die Rätselfragen -  ankamantatra
In letzter Zeit ist mehr von dieser oralen Literatur festgehalten worden. Bei der einheimischen Bevölkerung ist allerdings noch immer der mündliche Vortrag weitaus beliebter als die moderne schriftliche Form. Die vom gesamten Volk am meisten gepflegten Formen fließen in das Geschichtenerzählen und das Theater (Straßen-Theater) ein. So kann ein Straßen-Theater in der Form eines Wechselgesprächs auf höchst künstlerische Weise gespielt werden. Im Wechsel sind es immer zwei Verse, die eine Einheit bilden, auf die dann wieder zwei Verse antworten. Traditionelle Weisheit wird dabei mit Aktualitäten so geschickt verbunden, dass daraus ein spannendes, dramatisches Spiel werden kann.
Vielleicht hätte es auch noch Möglichkeiten gegeben, mehrere dieser Formen der mündlichen Überlieferung und aus verschiedenen Regionen des Landes einzubauen. Auch hätten mehr Frauen - der traditionellen Rolle des Geschichtenerzählens gemäß - zu Wort kommen sollen.
Insgesamt ist ein Übergang von der traditionellen oralen Literatur zur modernen Literatur auch in Madagaskar festzustellen. Hierbei haben sich moderne madagassische Autoren besonders verdient gemacht. Sie haben begonnen, die traditionelle Poesie zu sammeln und ins Französische zu übertragen. Dabei sind ganz neue Bilder aus der Geschichte, Geographie und Kultur des Landes aufgenommen und in französische Verse gebracht worden. Die erste Generation der französisch bestimmten literarischen Elite knüpfte an die traditionellen Werte des Landes der Ahnen an, ist aber auch durch die Zeit der Unabhängigkeit literarisch geprägt und gekennzeichnet.
Dieser Film ist alles andere als entlarvend. Er baut auch nicht auf eine entwicklungspolitische Analyse auf, bringt aber durchaus konkrete Hinweise zur aktuellen Situation in Madagaskar. So wird etwa die Nahrungsbeschaffung, die Rollenverteilung und Eigentumsverhältnisse zwischen den Geschlechtern, den Kindern und Erwachsenen, die Bedeutung der Tradition und ihre Auflösbarkeit im Verhältnis zur Entwicklung angesprochen. Die Frage nach der Bedeutung der Tradition in Madagaskar kann zur interessanten Diskussion über ihre Wertung in der eigenen Kultur führen. In engerem Zusammenhang hiermit steht auch die Frage nach den religiösen Hintergründen, die in dieser Geschichte deutlich werden und natürlich alle konkreten Fragen zur madagassischen Kultur.
Es können zu diesem Themenkreis Fragen formuliert und diskutiert oder in intensiverer Form einzeln aufgearbeitet werden. Beachten Sie aber bitte, dass Sie die TeilnehmerInnen nicht überfordern und wirklich genügend Zeit zur Verfügung steht.
Besser wird es in den meisten Fällen sein, den Film - oder mindestens Teile daraus - nach der Diskussion nochmals anzuschauen.

Literaturhinweise
Die Oralliteratur in Afrika als Quelle zur Erforschung der traditionellen Kulturen.
Hrsg. von W.J.G. Möhlig, Hermann Jungraithmayer, und Josef Franz Thiel
Ed. par
Berlin: Reimer, 1988. - 328 S.

Ki-Zerbo, Joseph
Mündliche Überlieferung als Geschichtsquelle
Geschichtswissenschaft; Mündliche Überlieferung; Afrika
UNESCO Kurier, 31 <1990>, H. 4, S. 38-41

Razafintsalama, Adolphe
Der Madagasse angesichts der Krankheit
Concilium, 27 <1991> H. S. S. 140-145
(guter Hintergrundartikel zum madagassischen Menschenbild, und zum Verständnis des Alters und Todes.)

Rudolf Schenda,
Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa, Göttingen 1993

Madagaskar mit Seychellen, Mauritius, Réunion und Komoren,
Maisie Därr, Wolfgang Därr, Reise KNOW-HOW Verlag Därr GmbH, 1990

Mahefa, Andri; Madagaskar; Länder-Artikel in: Handbuch der Dritten Welt, hrsg. v. Dieter Nohlen und Franz Nuscheler, Bonn 1993, 3. Auflage, Band 5, S. 238-257

Bittner, Alfred, (Hrsg.)
Madagaskar, Mensch und Natur im Konflikt, Basel 1992

Osterhaus, Andreas,
Madagaskar, Beck-Verlag München 1997 (Beck’sche Reihe 867: Länder)

Roth, Rolf B.
Madagaskar. Land zwischen den Kontinenten, hg. vom Lindenmuseum Stuttgart,
Katalog zur Ausstellung, Stuttgart 1994 (Restauflage)

Dünkelsbühler, Gaspard
Madagassische Schattenspiele. Ein Bilderbogen aus der Frühzeit der Entwicklungshilfe, Lembeck-Verlag 1986

Moks Nasoloarisoa Razafindramiandra
Reichtum und Probleme madagassischer Literatur, Bonn 1983

Verschwörung im Regenwald. Ida Pfeiffer’s Reise nach Madagaskar,
Schönbach-Verlag Hannover 1991

Märchen aus Madagaskar, (Hrsg.: Moks Nasoloarisoa Razafindramiandra),
Eugen Diederichs- Verlag 1988, Reihe „Märchen der Weltliteratur“


Autor: Maly Krebs
Oktober 1997

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