"Argamshaa" spielt in einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, die für postsozialistische Großstädte typisch ist. Tugulder ist eines der Straßenkinder, von denen es in der Mongolei mittlerweile viele gibt. Tagsüber lebt er auf Ulan Bators Straßen, nachts schläft er zusammen mit anderen Straßenkindern im Keller eines abbruchreifen Hauses. Wenn er mit seinen Freunden den Tag verbringt, spielen sie, streunen durch die Stadt, versuchen ihr Glück beim Lose kaufen, arbeiten aber auch für professionelle Diebe. Dabei ist es Tugulders Aufgabe, sich von Hochhäusern abzuseilen, um in Wohnungen zu klettern und von innen die Türen für die Diebe zu öffnen. Er weiß, dass er etwas Unrechtes tut, benötigt aber das so verdiente Geld, um einen Grabstein für seinen Vater zu kaufen. Immer wieder hat er seine Mutter nach dem Grab des Vaters gefragt, doch sie hatte immer nur abweisend reagiert. Außerdem lebt sie inzwischen mit einem anderen Mann zusammen, für den Tugulder nur Verachtung empfindet. Eines Tages trifft er einen alten Mann, zu dem er Vertrauen fasst und mit dem er sich auch über den Tod des Vaters unterhalten kann. Als dieser erfährt, dass Tugulder in Diebstähle verwickelt ist, nimmt er ihn zu einem Lama-Tempel mit, spricht mit einem Priester und versucht, ihn mit der Religion vertraut zu machen. Als sein bester Freund Enkhee bei einer Diebestour abstürzt ist Tugulder untröstlich. Er beauftragt den Steinmetz, nun den Namen des Freundes in den eigentlich für den Vater bestimmten Grabstein zu meißeln, um sein Andenken zu bewahren. Ausserdem reift in Tugulder der Entschluss, mit diesem Leben Schluß zu machen. Doch als die Diebe erneut aufkreuzen, um ihn für einen Einbruch abzuholen, bleibt ihm keine Wahl. Weder muß er von einem Hochhausdach herabklettern, um in eine Wohnung einzusteigen. Als dort aber zufällig das Telefon läutet, nimmt er nach kurzem Zögern den Hörer ab und informiert die Wohnungsbesitzerin, daß gerade in ihre Wohnung eingebrochen wird. Erst danach öffnet er seinen Komplizen die Türe. Die Diebesbande, die der Polizei gerade noch entkommen konnte, spürt den Jungen in einem Außenbezirk auf und versucht, ihn mit einem Auto zu überfahren. Tugulder wird verletzt und kann sich gerade noch auf den Hof des alten Mannes retten.
Nansalmaagin Uranchimeg zu „Das Seil“:
F: Die Geschichte von ARGAMSHAA läßt die sozialen Veränderungen erkennen, die die Mongolei nach dem Ende des Kommunismus durchlebt. Zunehmende Kriminalität und wachsende Armut sind dabei offensichtliche Symptome. Was sind die wichtigsten Veränderungen?
A: Als der Film 1991 gedreht wurde hatte dieser Transformationsprozeß gerade erst begonnen, und wir befinden uns noch mitten in diesem Umbruch. Solch weitreichende Veränderungen bringen zwangsläufig Probleme mit sich. Ich denke, unsere Gesellschaft hat sich noch nicht festgelegt, wohin die Entwicklung gehen soll, sie hat noch keine Orientierung gefunden. Dieser Zustand eines Landes wirkt sich natürlich auf das Verhalten und die Befindlichkeit seiner Bürger aus. Vielleicht läßt sich die Situation, in der sich unsere Gesellschaft derzeit befindet, am ehesten mit einer bestimmten Phase in der Entwicklung von Teenagern vergleichen: die Kinder müßen sich verändern; aber es ist nicht leicht, alle sich ergebenden Probleme auf einmal zu lösen. Wir befinden uns derzeit in einem solchen Zwischenstadium. Der Aufbau des Sozialismus in der Mongolei war ein Irrtum, und er dauerte 60 Jahre. Diesen Irrweg zu verlassen, braucht nun auch viel Zeit. Aber meiner Meinung nach ist das Land jetzt auf dem richtigen Weg. In etwa 10 Jahren wird es uns besser gehen.
F: Wie sind Sie auf die Geschichte dieses Filmes gekommen? Ist dies das authentische Schicksal eines Jungen?
A: Das Leben selbst hat mich dazu gebracht. Damals gab es ungefähr 300 Straßenkinder in Ulan Bator. Sie haben sich z.B. in den Zügen herumgetrieben. Mittlerweile sind es sehr viel mehr geworden. Ihre Geschichten sprechen für sich.
Die Idee zu dem Film kam ganz unerwartet. Für mich war der Ausgangspunkt die Idee des Zusammentreffens eines sehr alten mit einem sehr jungen Menschen auf dem Friedhof. Dies war erfunden, bildete aber die Basis des Filmes. Normalerweise verabschieden sich die Menschen an diesem Ort - sie verabschieden sich von den Verstorbenen. Hier aber finden sich zwei einsame Menschen, Tugulder und der alte Mann. Dies war der wirkliche Anfang der Geschichte.
F: Ist der Darsteller des Tugulder selbst ein Straßenkind?
A: Nein, der Junge ist kein Straßenkind. Aber er hat viele Schwierigkeiten zu Hause. Er hat einen Stiefvater, und mit ihm gibt es oft Streit. Die Familie ist auch sehr arm und wohnt in einem sehr armen Stadtteil in der Nähe des Bahnhofs von Ulan Bator. Aber er ist kein Straßenkind. Als ich mit dem Drehbuch fertig war, ging ich auf der Suche nach einem Darsteller auch gezielt in die armen Stadtteile.
Nun unterscheiden sich aber die Dreharbeiten mit Kindern grundlegend von denen mit Erwachsenen. Kinder muß man gerade während der Dreharbeiten spielen lassen. Ich habe dem Jungen nur das in Erinnerung gerufen, was sein Leben an Schwierigkeiten mit sich bringt, wie sein Stiefvater mit ihm umgeht und wie ihn seine Mutter manchmal beschützen muß. Ähnliches geschieht mit ihm in dieser erfundenen Geschichte. Er mußte sich dabei nur an solche Situationen erinnern, um weinen zu können.
F: Können Sie etwas zur Figur des Großvaters sagen?
A: Diese Figur ist für die Geschichte erfunden. Aber es ist ein gewöhnlicher alter Mann, wie man ihn überall treffen kann, in der Mongolei aber eben auch in Japan oder in Deutschland. Nichts wünscht er mehr als ein lebendiges Wesen um sich. Und als er seine Hoffnung schon fast aufgegeben hat, geht sie doch noch in Erfüllung, als er Tugulder trifft. Und gerade diese Freude wollte ich mit diesem Film zeigen. (Auszüge eines Interviews, das B. Wolpert beim 16. Augsburger Kinderfilm Fest mit der Regisseurin führte)
Kurzinfos
„Diese Studie über Straßenjungs im Großstdtdschungel der postsozialistischen Mongolei erinnert im Stil an große Vorbilder des realistischen Kinos und ist auch als Dokument ein Fundstück. Die Mongolei ist eben nicht nur die weite Steppe mit wilden Reitern und verwehten Erinnerungen an die große Zeit des Dschingis Khan.“ Frankfurter Rundschau
„Bemerkenswerter Weise hat es dieser kleine Film nicht nötig, um die fadenscheinige Überbrückung einer bildlichen Fremheit zu buhlen.“ multimedia
Nominiert durch den Empfehlungsausschuß Medien (EAM)
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