Dokumentarfilm von Teboho Edkins
Südafrika, Deutschland 2015, 63 Minuten, OmU
Zwischen Eis und Feuer Zuerst hört man die Hunde. Dann sieht man sie, mit der Schafherde, die sie bewachen, den Hirten, die die Schafe über eine abschüssige Wiese treiben, in einer Landschaft, die man in Afrika kaum erwarten würde – mit Bergen bis zum Horizont, die Hänge von Schnee bedeckt, hingeweht in die weit geschwungenen Falten und Buchten zwischen braunen, verdorrten Erd- und Graswällen. Noch oft wird von der Kälte die Rede sein, von kalten Füssen zum Beispiel, die einer der Hirten dann mit Lappen umwickeln wird, ehe er sie in die Stiefel steckt. Afrika und Kälte – das ist eine der Irritationen, mit denen Teboho Edkins unsere Vorurteile unterläuft und die Lückenhaftigkeit unseres Wissens spürbar macht. Wie Jugendliche in der Phase des Erwachsenwerdens, des „Coming auf Age“, die Welt neu zu sehen lernen, so lehrt uns sein Film, mit anderen Augen zu sehen, unsere Wahrnehmung zu schärfen und unser Verständnis zu überprüfen, jenseits aller Thesen, Erklärungen und Verallgemeinerungen.
In Lesotho, in einem blinden Fleck der medialen Weltabbildung, hat Edkins über zwei Jahre hinweg vier Jugendliche in ihrem Alltag beobachtet, zwei Brüder und zwei Freundinnen aus dem Dorf Ha Sekake: Retabele und Mosaku Lehselo, die beiden Schafhirten, und Senate Mosothoane und Lefa Letsie, deren Großmutter, das ist gleich die nächste Überraschung, Häuptling des Dorfes ist. „Ich wollte Lehrerin werden, aber ich durfte nicht“, sagt die Großmutter, „ich musste Häuptling werden.“ Häuptling Letsie muss sich, wie man sieht, vor allem mit Papieren beschäftigen – was sie mit Vertrauen erweckender Ruhe und Gelassenheit hinter sich bringt. Mit ihr bekommen wir die unterste, lokale Ebene der Verwaltung Lesothos zu Gesicht.
Die Brüder in den Bergen haben andere Sorgen. Ein Lamm will nicht mehr trinken. Auch nicht, als sie es an den Euter der Mutter halten. Es sei zu erschöpft, heißt es. Mosaku, der Jüngere, will nicht aufgeben und macht noch einen zweiten Versuch, vergeblich. Das Lamm wird nicht überleben. Nur wenig später kommt der Tod ein zweites Mal ins Spiel. Ein Schaf ist geschlachtet worden. Die beiden Brüder ziehen es aus der Blutlache, die sich unter seinem Kopf gebildet hat, im Gras daneben liegt das Schlachtmesser. „Lasst es langsam sterben“, sagt der Mann, der die Schlagader durchtrennt hat, „es muss langsam ausbluten.“ So unverständlich uns diese Sätze bleiben mögen, so verstehen wir doch, dass wir mit Regeln in Berührung kommen, die wir nicht kennen. Regeln einer Welt, in der die Erfahrung des Todes ständig nahe ist.
Zurück zu den Mädchen, zurück ins Dorf. Dort lernt man nicht von der Natur, sondern in der Schule, die Unterrichtsprache ist Englisch. Die Lehrerin stellt Fragen, die Schülerinnen antworten im Chor. Rechnen, Mathematik, ist das Thema – ein abstrakteres Instrument als ein Messer, um die Welt zu bearbeiten. Eines der Mädchen darf sich auszeichnen, löst an der Tafel vor den anderen eine Aufgabe; Lefa traut sich nicht. Später erzählt Senate der Freundin, wie sie in einer Rangelei mit einem Jungen die Oberhand behielt, begeistert lachen beide über ihren Triumph. Die Schule scheint eher die Mädchen zu begünstigen.
Die Montage der Szenen bringt die Hirten in den Bergen und die Mädchen im Dorf immer wieder nahe zusammen, aber ihr Erfahrungsraum bleibt voneinander getrennt. Im Nachhinein fällt auf, dass sie niemals gemeinsam, in einem Bild, zu sehen sind. Was der Film ineinander verschränkt erzählt, sind Erfahrungen, Beziehungen und Situationen im Kontrast, in sich spiegelnden Gegensätzen.
Kontraste auch der Zukunftsbilder. Retabele weiß genau, was er will: hundert Schafe, zehn Kühe, zwei Pferde, zwei Ziegen, ein paar Hühner und Hunde. Dann könne er sich und seine Familie ernähren. Zweimal zählt er seinen Wunschbesitz auf. Er ist weit größer als das, was seinem Vater jetzt gehört. Dessen Besitz reicht nicht, um Retabele noch zur Schule schicken zu können, nicht einmal, um die Gebühr für das Scheren der Schafe zu zahlen. Und dann ist die Qualität der Wolle nicht gut genug für den Verkauf, man sieht den Schrecken im Gesicht des Vaters, als der Händler sie zurückweist. „Sie sehen nervös aus, Herr Lehsolo“, heißt es. „Ich bin immer nervös“, sagt der Vater, und alle lachen. Man sieht, wie die Sorgen an ihm zehren. Hundert Schafe kann er sich nicht einmal im Traum leisten.
Für die Mädchen sieht es besser aus, viel besser. Vor allem für Senate, die es unter die zehn besten Schülerinnen des Landes geschafft hat und sich die Schule für ihre weitere Fortbildung selbst aussuchen darf; die Lesotho High School in der Hauptstadt Maseru soll es sein. Lefa, die die Freundin liebt, wird sie verlieren. „Ich will Psychologin werden“, sagt Senate. Und warum? Weil sie dann mit den Gedanken der Menschen arbeiten könne, erklärt sie. Und ergänzt: „Wenn ein Mörder vor Gericht kommt, kann ich verstehen, was er getan hat, und warum.“
Wie alle seine Beobachtungen lässt Edkins auch diesen irritierenden Satz einfach stehen, ohne Kommentar, ohne Erklärung. Mörder begreifen zu wollen ist ja nicht gerade das nächst liegende Motiv, um Psychologie zu studieren. Steckt eine persönliche Erfahrung dahinter? Oder geht es um den Wunsch, auch noch das Fremdeste verstehen zu können? Vielleicht ist es auch ein heimlicher Dialog mit dem Filmemacher selbst. Teboho Edkins, Sohn eines weißen Südafrikaners und einer Deutschen, wurde durch zwei Dokumentarfilme über junge südafrikanische Gangster international bekannt, „Gangster Project“ (2011) und „Gangster Backstage“ (2013, Hauptpreis der internationalen Jury bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 2014), beides Versuche, das Leben junger Südafrikaner hinter der Fassade des Gangstertums zu beschreiben, hinter den durch sie geweckten und auf sie projizierten Angst- und Gewaltphantasien. Man kann sich gut vorstellen, dass er den Jugendlichen von „Coming of Age“ davon erzählt hat.
Davor drehte Edkins drei Filme zum Thema AIDS, „Ask Me I’m Positive (2005), „Looking Good (2005) und den Kurzfilm „True Love“ (2005). AIDS, eines der Hauptprobleme Lesothos, bringt Edkins in „Coming of Age“ überhaupt nicht zur Sprache, ein weiterer Beleg dafür, dass es ihm auf „Information“ in einem allgemeinen oder statistischen Sinn nicht ankommt. Wer Informationen sucht, ist bei Wikipedia&Co besser aufgehoben. Ihn interessiert vielmehr, was ihn und uns mit seinen Protagonisten verbindet. Und was uns von ihnen trennt.
Wenn Senate aus Maseru zurückkehrt, ein Jahr später vielleicht, hat sich nicht nur ihre Frisur verändert, oder die Art, wie sie spricht und sich bewegt. Ein sozialer und kultureller Abstand trennt sie von ihrer dörflichen Herkunft, auch wenn Lefa sie mit Fragen löchert wie immer und so tut, als sei alles wie früher. In Wahrheit weiß sie längst, dass sie allein ist, und das Wiedersehen mit der Freundin kaum mehr als ein nostalgisches Ritual. Auch Lefa muss sich verwandeln. Auch sie lässt das Dorf hinter sich und tritt in eine kirchlich getragene High School ein, unterwirft sich neuen Regeln und legt sich eine komplizierte Flechtzopffrisur zu. Der Film verlässt sie in einem Gottesdienst und im Gebet – in einem Gespräch, in dem auch Einsame ein Gegenüber finden.
Die spektakulärste Wandlung vollzieht sich mit Retabele. Mit seinem kleinen Bruder, der im Gegensatz zu ihm noch zur Schule gehen darf, spricht er einmal über die Idee, ein Initiationsritual zu absolvieren, auch wenn es mit Gefahren verbunden sei. Am Ende des Films kommt er von einer solchen Initiation zurück, in einer ganzen Gruppe von Jugendlichen, die wie er zu jungen Männern gemacht wurden. Retabele ist nicht wiederzuerkennen. Seine Haut ist rot gefärbt, sein Körper von einer roten Wolldecke umhüllt, der Kopf mit einer Riesensonnenbrille und Plastikschmuck gekrönt, der Blick drohend, die Stimme um ein ganzes Register tiefer gelegt. In einem rauen Singsang hört man ihn mit den anderen Formeln hervorstoßen wie „Ich reite mein Blut“ oder „Ich bin ich selbst geworden, mein Blut.“ Einer, der gar nichts hatte, hat jetzt ein symbolisches Kapital gewonnen: Selbstbewusstsein, Gemeinschaftsgefühl, Stolz. Es ist nicht wahrscheinlich, dass er noch einmal mit Edkins und vor der Kamera über Einsamkeit oder Heimweh sprechen wird.
Coming of Age, erwachsen werden, ist – unter filmischen Genre-Vorzeichen – häufig eine Komödie, manchmal ein Drama, wie der Klassiker „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Rebel Without a Cause, USA 1955, Regie: Nicholas Ray, mit James Dean und Natalie Wood), manchmal eine Gesellschafts- und Zeitanalyse wie „Der Eissturm“ (The Ice Storm, USA 1997, Regie: Ang Lee). Ein Spielfilmthema, mit Erzählungen von unvergesslicher Freundschaft, den Enttäuschungen der ersten Liebe, dem ganzen Schultheater und dem Aufstand gegen Erwachsene und ihre Institutionen. Es wiederholt sich immer wieder und bleibt doch unerschöpflich.
Teboho Edkins erzählt mit den Mitteln des dokumentarischen Kinos, mit wunderbarer Beiläufigkeit, Genauigkeit und Zugewandtheit die gleiche Geschichte. Sie endet bei ihm mit ambivalenten Empfindungen, über einen sozialen Aufstieg und die Gefahr des Hochmuts, über die Suche nach Halt in der Hinwendung zur Religion, über eine kriegerische Ausformung von Männlichkeit. Zuletzt wird ein Feuer angezündet, das Zeichen der Verwandlung par excellence. Es vertreibt die Kälte, wenigstens für gewisse Zeit.
Autor: Karsten Visarius
Oktober 2018