Teaser
Die Ziege
Film

Ali, the Goat & Ibrahim

Spielfilm von Sherif El Bendary
Ägypten, Frankreich, Qatar, Vereinigte Arabische Emirate, Deutschland
2016, 98 Min. OmU

Ibrahim: „Du vergisst, dass ich verflucht bin.“
Ali: „Du bist nicht allein. Das ganze Land ist es.“

Kurzinhalt

Ali liebt eine Ziege, die für ihn Nada, seine gestorbene Verlobte, verkörpert; Ibrahim, ein Musiker und Toningenieur, wird von qualvollen Geräuschattacken geplagt. In dem Viertel Kairos, in dem sie wohnen, wird Ali als Narr verspottet, Ibrahim gilt als verrückt. Die beiden Außenseiter werden von einem Heiler auf eine gemeinsame Reise geschickt; Ali nimmt selbstverständlich seine geliebte Nada mit. Die Reise bringt sie einander näher, ohne an ihrer Situation etwas zu ändern. Nach ihrer Rückkehr wird Ali von Straßenrowdys überfallen, die eine offene Rechnung begleichen wollen. Ibrahim rettet ihn durch ein akustisches Inferno, das sie außer Gefecht setzt. Am nächsten Morgen ist Nada verschwunden, nachdem sie allen Bewohnern des Viertels im Traum erschienen ist.

Inhalt

Der Kopf eines rosafarbenen Teddybären wackelt auf uns zu. Er schwebt, von einer unsichtbaren Kraft im Bild gehalten, durch eine belebte nächtliche Einkaufsstraße Kairos, die Mundwinkel wie in einem Clownsgesicht lachend nach oben gezogen; dazu erklingen ein arabisches Lied, Straßengeräusche, Autohupen. Minutenlang, bis der ganze Vorspann bis zum Filmtitel abgelaufen ist, lacht er uns an. Erst später enthüllt die Kamera, was hinter seiner Bewegung steckt. Ein junger Mann trägt das Plüschtier auf seinen Schultern, steigt zu dem wartenden Fahrer in einen Minibus und verstaut den Teddy neben sich.

Der Vorspann hat uns nicht nur optisch getäuscht. Er scheint uns eine Komödie zu versprechen, vielleicht eine Farce, irgendetwas Lustiges und Unterhaltsames. Das weitere Schicksal des Teddybären wird uns eines Besseren belehren. Zuvor aber, mit dem ersten Schnitt, bringt uns die Kamera an einen anderen Ort. In einem Tonstudio arbeiten ein Sänger und ein Toningenieur an einer Aufnahme. Plötzlich mischen sich in die Musik andere Töne, ein Scheppern, ein Pfeifen, ein schrilles Kreischen. Noch könnte die akustische Attacke ein Rückkopplungseffekt sein, eine Fehlfunktion der Technik. Der Toningenieur bricht die Aufnahme ab und bittet den Sänger um einen weiteren Take. Auch dieser Versuch endet in einem akustischen Desaster. Das gequälte Gesicht des Aufnahmetechnikers verrät, dass der Lärm in seinen Ohren, in seinem Kopf wütet. Der Musiker macht ihm Vorwürfe, der Besitzer des Studios setzt ihn nach kurzem Streit auf die Straße: „Komm nie wieder, du Sohn einer Verrückten“, ruft er ihm nach. So stellt uns der Film eine seiner Hauptfiguren vor, Ibrahim – als einen Tontechniker, der an Tönen leidet. Verrückt, das Etikett bleibt an dem Entlassenen haften.

Inzwischen sind Ali, der Teddybärträger, und sein Freund Kamata, der mit einem klapprigen Minibus sein Geld verdient, auf der Heimfahrt von der Polizei angehalten worden. Der Polizeioffizier lässt sie seine ganze Herablassung, Arroganz und Aggression spüren. So kooperativ und respektvoll sie sich auch verhalten: nichts davon kann ihn zufriedenstellen. So reißt er erst einmal, als sie dem Befehl zum Aussteigen nicht schnell genug nachkommen, die verklemmte Seitentür des Busses ab. Sein Missfallen erregt jedoch insbesondere das naturgemäß stumm bleibende Plüschtier. Es sei, erklärt Ali, ein Geburtstagsgeschenk für Nada. Und liefert damit Grund für ironische Glückwünsche, aber auch für seine Beschlagnahme. Oder auch: seine Verhaftung. „Haben sie nach der Revolution Teddybären verboten?“, fragt Ali. „Sieht so aus“, meint Kamata. „Kauf keine Teddys mehr, sie bedrohen die nationale Sicherheit.“ Nur aus einiger Entfernung glauben sie, sich solche Frechheiten leisten zu können. Dann eskaliert die Situation. Der Polizist beschuldigt sie, im Bauch des Teddys Drogen versteckt zu haben, und als seine Einschüchterungsversuche nichts als Protest erregen, zieht er ein Messer und sticht wie wild auf das Stofftier ein – in dessen Bauch nichts als eine weiße Füllung steckt, Baumwolle oder Kunststoff. Erst mit diesem Teddymord hat der Polizeioffizier genug.

In seiner verbissenen Wut überhört und übersieht der Polizist den Hilferuf einer Frau, die sich in einem vorbeifahrenden Auto gegen die Belästigungen dreier Männer wehrt. In diesem Moment würde er wirklich gebraucht. Immerhin, Ali hat die Frau bemerkt und gesehen, wie einer der Männer ihr den Mund zuhält. Wenn er und Kamata endlich weiterfahren dürfen, steht gleich die Befreiung der Frau auf ihrem Programm. Es wird ein großes Spektakel: nachdem sie das Auto in einer entlegenen Straße entdeckt haben, setzen sie es mit Benzin und Molotow-Cocktails in Brand, machen sich die Überraschung der geschockten Männer zunutze und fliehen mit der Frau in ihrem Bus. Nour heißt die Gerettete und entpuppt sich als Straßenhure, die mit einem Kunden einig geworden war und plötzlich drei befriedigen sollte.

Inzwischen nimmt Ibrahim an verschiedenen Orten die Geräusche der nächtlichen Stadt auf – die Laute von Tieren, das Schleifen und Hämmern von Handwerkern, die Sirene eines Autos. Dabei trifft er auch den heimkehrenden Ali, der bei seiner Mutter Nousa wohnt. Fast umgehend geraten Mutter und Sohn in Streit. Es geht, wie offenbar schon oft, um Nada, die sich als eine kleine weiße Ziege entpuppt. Für ihn ist sie Nada, seine Geliebte, ein Mensch in Gestalt einer Ziege, für sie eine Ziege und sonst nichts. Er mache sich in der ganzen Stadt zum Narren, wirft sie ihm vor, und verlangt, dass er endlich mit ihr zu einem Heiler gehe – sonst werde sie ihm Nadas Kopf auf einem Tablett servieren. Wütend verlässt er die Wohnung, mit Nada auf dem Arm. Kinder verfolgen ihn mit seinem Spottnamen, Ali, die Ziege.

Ibrahim datiert seine Aufnahmen – 19. Mai 2015 – und zeichnet weitere Geräusche auf; als er sie abhört, lösen sie erneut einen Anfall aus. Er lebt zusammen mit seinem Großvater, der unter den gleichen Symptomen litt und deshalb seine Trommelfelle durchbohrt hat, um gar nichts mehr zu hören; seine Mutter wusste der akustischen Folter nur zu entfliehen, indem sie sich umbrachte. Der Großvater macht sich Sorgen um den Enkel, weil er ihn noch nie so stark leiden sah. Beide spielen die Oud, die arabische Laute. Als der Großvater ein paar Töne anschlägt, lösen auch sie die quälenden Geräuschhalluzinationen aus. Ibrahim hofft, sich von ihnen befreien zu können, wenn es ihm gelingt, sie ebenfalls auf Band aufzuzeichnen.

Nousa hat Ali überredet, mit ihr zu einem Heiler zu gehen. Als sie aufgerufen werden, kommt ihnen aus dem Sprechzimmer Ibrahim entgegen, der in seiner Verzweiflung die gleiche Praxis aufgesucht hat. Der Heiler diagnostiziert, dass jemand schwarze Magie benutzt habe. Um den Fluch zu brechen, müsse Ali drei Steine in die „drei Körper des Wassers in Ägypten“ werfen: das Mittelmeer, das Rote Meer und den Nil. Vor der Praxis trifft Ali Ibrahim, dem der Heiler ebenfalls drei Steine und den gleichen Rat gegeben hat. Sie tauschen ihre Handynummern aus. Als sie sich trennen, vertauscht Ali versehentlich die Säckchen mit den Steinen.

Ali glaubt nicht an den Rat des Heilers. Als er jedoch wieder einmal in Panik nach der verschwundenen Nada sucht und seine Mutter ihm, als Schocktherapie, einen Ziegenkopf unter die Nase hält, erkennt er darin die Gelegenheit, der häuslichen Dauerfehde zu entkommen. Er ruft Ibrahim an mit dem Vorschlag, gemeinsam die ‚magische Reise‘ anzutreten. Ausdrücklich unterstützt von seinem Großvater, bricht Ibrahim auf. Am Bahnhof steigt er mit Ali und Nada in den Zug nach Alexandria.

Schon im Zug, wie später immer wieder, geraten Ali und Ibrahim in Streit – vor allem darüber, dass Ali Nada wie einen Menschen behandelt, während sie für Ibrahim eine Ziege bleibt. Ali wird aggressiv, Ibrahim ironisch. Von „Geräuschen aus dem Weltall“ gepeinigt, ist er jedoch kaum in der Position, sich über Ali lustig zu machen. Vor dem Bilderbuchpanorama von Alexandrias Strandpromenade ist erst einmal aller Streit vergessen. Ohne ersichtlichen Grund reißt Ibrahim mit einem Nagel heimlich ein Loch in sein Hemd. Ein Schneider, den sie aufsuchen, ist bereit, das Loch zu flicken. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er aus dem gleichen Viertel Kairos stammt wie sie, El-Darb El-Ahmar. Er kannte sogar Alis Vater: Ismael, den Fahrer, der mittlerweile gestorben ist und Ali den Minibus vererbt hat. Während des Gesprächs mustert Ibrahim die Fotos an den Wänden, darunter das Bild eines Jungen. Wie er Ali später gesteht, war der Schneider sein Vater, der ihn nicht mehr erkannt hat oder erkennen wollte, und der Junge auf dem Foto er selbst.

In einem Strandimbiss geraten Ali und Ibrahim erneut in Streit. Ibrahim entdeckt, dass er sein Portemonnaie vergessen hat; Ali zeigt sich großmütig und bezahlt für beide. Auch über die Fortsetzung der Reise sind sie sich nicht einig; Ali will zurück nach Kairo, Ibrahim weiter zum Sinai. Nada, die entscheiden soll, ist wieder einmal verschwunden. Eine Gruppe älterer Kinder hat sie umringt. Ali ist vor Angst wie gelähmt, Ibrahim holt sie zurück. Halbwegs versöhnt, werfen sie jeweils einen der Steine ins Meer und scherzen über ihre Heilungsaussichten. In der Nacht, die sie am Strand verbringen, erlebt Ali zum ersten Mal einen der Anfälle Ibrahims mit.

Am nächsten Morgen geht die Fahrt in einem vollbesetzten Van weiter Richtung Sinai; Ali hat für sich und Ibrahim die Vorderbank reserviert, den Fensterplatz für Nada. Um dieses Privileg bricht gleich wieder Streit aus. Beim ersten Stopp muss Ali aufs Klo und überlässt Nada Ibrahims Obhut. Während er mit seinem Handy Fotos der Landschaft macht, springt sie unbemerkt weg. Als Ali zurückkommt, ist er außer sich. Der Fahrer des Van will nicht warten und lässt sie stehen. Beide suchen stundenlang nach Nada, vergebens. Unter heftigen gegenseitigen Beschuldigungen trennen sie sich; Ibrahim geht zu Fuß weiter, Ali bleibt mit der Hoffnung auf Nadas Rückkehr zurück. Sein geduldiges Warten wird belohnt: ein Beduine mit Kamelen taucht aus der Wüste auf, Nada hat sich ihnen angeschlossen. Als stolzer und glücklicher Kamelreiter mit Nada auf den Armen folgt Ali Ibrahim, der vergeblich zu trampen versucht hat und bald eingeholt wird. Ein Pickup, dem Nada vor die Motorhaube gesprungen ist, bringt sie weiter, vorbei an einer Unfallstelle mit Toten und Schwerverletzten. Der Van, mit dem sie losgefahren waren, hatte einen Unfall. Ali glaubt, dass Nada sie durch ihr Verschwinden vor dem Tod gerettet hat.

In einem Touristenressort am Roten Meer übernachten sie zu dritt in einem Zimmer; nach dem üblichen Streit und erneuter Versöhnung wünscht Ibrahim auch Nada gute Nacht. Beim Schwimmen am nächsten Tag werfen sie ihre Steine ins Wasser. Eine erneute Geräuschattacke beendet abrupt die gelöste Stimmung, Ibrahim ertrinkt beinahe, hilflos und desorientiert vor Schmerz. Am Abend führen sie ein vertrauensvolles Gespräch; Nada, meint Ali, beginne Ibrahim zu mögen. Am Strand treffen sie eine Gruppe fröhlicher junger Leute, sie trinken, singen und spielen Musik, eine schöne Frau flirtet mit Ibrahim. Später in der Nacht trifft er sie wieder, allein, sie umarmen und küssen sich – und wieder zerstört ein Anfall alles, heftiger noch als zuvor. Ibrahim schreibt Ali einen Abschiedsbrief und geht ins Wasser, mit Steinen um die Hüften gebunden, man sieht ihn untergehen.

Am Morgen wird der verkaterte Ali von Nada geweckt, findet den Brief und sucht den Freund, voller Angst und Schrecken. Er findet ihn beim Frühstück am Strand und beschimpft ihn empört. Er sei zu feige gewesen, entschuldigt sich Ibrahim. Ein Anruf Kamatas unterbricht sie mit der Nachricht, dass Ibrahims Großvater gestorben ist.

Zurück in Ibrahims Wohnung in Kairo tröstet Ali den Freund. Zum Abschied reicht er ihm die Oud. Nicht sie sei der Fluch; sie könne ihm vielleicht sogar helfen. Ibrahim beginnt zu spielen. Schon kurz darauf beginnt das Getöse in seinem Kopf und verschmilzt mit den Tönen des Instruments. Trotzdem spielt er weiter und stellt dabei den Kassettenrecorder an. Als er die Aufnahme später abspielt, ist nur die Oud zu hören; er weint.

Kamata hat sich inzwischen in Nour verliebt, die in Wahrheit Sabah heißt und die er heiraten will. Ihre Vergangenheit kümmere ihn nicht, nur die Zukunft zähle. Vor dem Imbiss, in dem er sich mit Ali getroffen hat, fahren die drei Männer vorbei, von denen sie Nour befreit haben. Am Abend erwischen sie Ali allein mit Nada auf der Straße, bedrohen und misshandeln ihn. Als sie erkennen, dass Ali nur um Nada besorgt ist, drohen sie, die Ziege zu schlachten und verlangen 20.000 ägyptische Pfund (etwa 1.150 €) als Ersatz für die Schäden an ihrem Auto. Mit Nada als Geisel lassen sie Ali für 15 Minuten frei. Er sucht Ibrahim auf und bittet ihn verzweifelt um Hilfe. Ibrahim schickt ihn zurück und verspricht, in wenigen Minuten nachzukommen. Als die Gauner Nada schon das Messer an die Kehle setzen, taucht Ibrahim aus dem Dunkel auf. Mit Mikrofonen, Verstärkern und Lautsprechern von Kopf bis Fuß verkabelt und selbst durch Ohrhörer geschützt, ähnelt er einem Wesen von einem anderen Stern und lässt einen infernalischen Lärm auf die Bande los, in höchster Lautstärke. Glühlampen und Windschutzscheiben zerspringen, im Wortsinn betäubt sinken Alis Angreifer nieder, unvermeidlich wird auch er gepeinigt. Das ganze Viertel scheint aus dem Schlaf hochzuschrecken; durch einen Torbogen sieht man Nada davonlaufen.

Am nächsten Morgen hat man die drei immer noch bewusstlosen Männer an Pfählen festgebunden, meterhoch über dem Erdboden, wie am Pranger. Alle haben von Nada geträumt, die ihnen „Dinge erzählt hat“, wie Kamata sagt. Endlich erzählt er Ibrahim Alis Geschichte: Nada war Alis Verlobte, in die er sehr verliebt war. Eines Tages gingen sie auf einer Brücke spazieren, und Nada fiel durch ein Loch im Geländer, ohne dass Ali es bemerkte. Als er sich umsah, stand an ihrer Stelle eine Ziege die für ihn fortan Nada war. Er wurde geisteskrank, sagt Kamata; nicht einmal ihre Verwandten habe er besucht.

Allmählich erholt sich Ali. Als er von den Träumen der Nachbarn erfährt, weiß er, dass Nada nicht wiederkehren wird. Sie selbst habe ihm vorausgesagt, dass sie ihn verlassen werde, sobald alle begreifen würden, dass sie keine Ziege sei. Am Himmel erscheint eine weiße Wolke in Nada-Gestalt. Auf einem Platz des Viertels wird eine Nada-Statue aufgestellt, an die Häuserwände Nada-Plakate geklebt und Nada-Graffiti gesprüht, mit der Zeile: „Nada ist in unserem Herzen“.

Ali und Ibrahim fahren mit einem Motorroller auf eine Brücke mit Blick auf die Stadt. Ibrahim beginnt, auf der Oud zu spielen, ohne dass ihn der Lärm überfällt. Er holt ein Säckchen aus seiner Tasche, Ali lächelt. Gemeinsam werfen sie die letzten zwei Steine in den Nil.

Die Geschichte einer Heilung

Im Mai 2011 zeigte das Filmfestival Cannes in einer Sondervorführung den ägyptischen Kompilationsfilm „18 Days“. Er besteht aus zehn Kurzfilmen von sowohl jungen als auch etablierten ägyptischen Filmemachern, die sich alle auf die Tage vom 25. Januar bis zum 11. Februar 2011 beziehen – den Beginn der Massenproteste gegen den ägyptischen Präsidenten Muhammed Hosni Mubarak bis zu seinem vom Militär erzwungenen Rücktritt. In begreiflicher Euphorie wurde diese Zeitspanne damals als „ägyptische Revolution“ begriffen, verbunden mit der Hoffnung auf eine umfassende Demokratisierung des Landes. Die Machtübernahme von Abdel Fatah al-Sisi, dem Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee, und der Sturz der gewählten Regierung unter Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 machten diese Hoffnung zunichte. Inzwischen ist diese Zeit im Westen fast schon wieder vergessen und in Ägypten selbst tabuisiert.

Die Sondervorführung von „18 Days“ in Cannes war zweifellos als ein Signal der politischen Sympathie und Solidarität mit den Protestierenden in Kairo und anderen Teilen des Landes gedacht. In einem der zehn Kurzfilme führte Sherif El Bendary Regie. „Curfew“ (Die Ausgangssperre) handelt von einer Irrfahrt durch das nächtliche Kairo, die einem Großvater und seinem Enkel durch die vom Militär während der Unruhen verhängte Ausgangssperre aufgezwungen wird. Von gelegentlichen Passanten auf immer längere Umwege geschickt, schlafen sie schließlich in Sichtweite eines die Straße versperrenden Panzers in ihrem Auto ein. Am Morgen fährt der Panzer an den Straßenrand, für Großvater und Enkel ist der Weg nach Hause frei. Auf diesen ersten Schluss folgt ein zweiter – das Foto eines Panzers, auf dem der kleine Junge steht und in einer Geste des Sieges die Arme gen Himmel reckt. Auf dem Panzer steht „Nieder mit Mubarak“.

In der damals von Hoffnungen auf einen emanzipatorischen Aufbruch der arabischen Welt geprägten Stimmung ließ sich die skeptische, mindestens ambivalente Botschaft von Sherif El Bendarys Kurzfilm leicht übersehen: das Bild einer das Geschehen bestimmenden Armee als dominantem Machtfaktor, die durch den Aufstand ausgelöste Veränderung als ermüdenden Irrweg, der Triumph des Sieges als kindliche Fantasie und Illusion. 2011 konnte man den Film auch ganz anders lesen, als Bild einer durch den Aufstand unvermeidlich ausgelösten Desorientierung, die am Schluss, im Bündnis zwischen den Machtlosen und dem Militär, in einen friedlichen Sieg mündet. In diesem Sinne wäre das Foto zum Schluss das Gegenbild zu dem des einsamen Studenten, der sich den Panzern entgegenstellt, die 1989 in Peking die Studentenproteste auf dem Tian’anmen-Platz, dem „Platz des himmlischen Friedens“, gewaltsam erstickten – ein Bild, das ins ikonografische Gedächtnis der Welt einging. Walter Armbrust, ein inspirierter Beobachter der ägyptischen Revolution, hat übrigens notiert, dass damals so gut wie jedermann sein Kind auf einem Panzer fotografierte.

Einer der Produzenten von „18 Days“ war Mohamed Hefzy, seit 2018 auch Präsident des Internationalen Filmfestivals Kairo, mit seiner Firma Film Clinic. Er produzierte auch „Ali the Goat and Ibrahim“, Sherif El Bendarys ersten Spielfilm. Auf den ersten Blick ist darin von Politik nicht die Rede. Vielmehr erzählt er, wie schon der Titel ankündigt, von der Beziehung zweier sehr gegensätzlich gezeichneter junger Männer, die, verbunden durch ihre in einer psychischen Störung oder Abweichung begründeten Außenseiterrolle, sich auf einer gemeinsamen Reise einander annähern und schließlich Freunde werden. Diese Freundschaft bewährt sich schließlich in der Abwehr einer gewaltsamen Bedrohung. Eine kleine weiße Ziege erweitert das Männerduo zu einer Dreiecksbeziehung – in einem durchaus substantiellen Sinn. Denn nur wenn sie als das anerkannt wird, was sie in den Augen Alis ist, nämlich Nada, seine ehemalige Verlobte, ist eine engere, herzliche, freundschaftliche Beziehung zu ihm möglich. Dieser Prozess der Anerkennung ist die eine Hälfte des Dramas, von dem der Film handelt: ein Drama deshalb, weil Nada in den Augen aller anderen, auch der Kamera, und also auch für uns, immer eine Ziege bleibt. Die andere Hälfte des Dramas, in das umgekehrt auch Ali durch sein wachsendes Mitgefühl verstrickt wird, ist das Ibrahims: ob nämlich die akustische Folter, die ihn ein ums andere Mal überfällt, ihn zerstören wird oder ob er ihr standhält.

Unter Gesichtspunkten der Genrezugehörigkeit lässt sich „Die Ziege“ als buddy movie verstehen, wobei Ali eher den komischen, Ibrahim den tragischen Part übernimmt. Klassiker des Genres sind etwa die Billy-Wilder-Komödien mit Walter Matthau und Jack Lemmon (Der Glückspilz/The Fortune Cookie, USA 1966; Buddy Buddy, USA 1981) oder das Road-Movie „Die Letzten beißen die Hunde“ (Thunderbolt and Lightfoot, Michael Cimino, USA 1974) mit Clint Eastwood und Jeff Bridges; deutsche Beispiele sind die „Winnetou“-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker, aus neuerer Zeit auch „Knockin‘ on Heaven’s Door“ (Thomas Jahn, Deutschland 1997) mit Till Schweiger und Jan Josef Liefers oder „100 Dinge“ (Deutschland 2018) mit Florian David Fitz (auch Regie) und Matthias Schweighöfer. Häufig dominieren die komödiantischen Züge, aber auch gesellschaftskritische oder existentielle Motive finden ihren Raum. Für das Genre elementar ist die Kontrastspannung zwischen den beiden Hauptfiguren, bei Sherif El Bendary die zwischen dem lebenslustigen und emotionalen, manchmal auch leichtfertigen, dann wieder ängstlichem und schreckhaften Ali, der immer wieder vergisst, auf seine Nada aufzupassen und sich dann bittere Vorwürfe macht, und dem sensiblen, künstlerisch begabten, reflektierten Einzelgänger Ibrahim, der schwer unter der Bürde eines gemeinsamen familiären Schicksals leidet. Aber auch Ibrahim hat seine komischen Momente, wenn er etwa nach seinem missglückten Selbstmordversuch ein üppiges Frühstück in sich hineinstopft, und Ali kann umgekehrt tiefernst, ja sogar weise werden, wenn er seine Beziehung zu Nada erklärt. „Nada ist eine gute Seele“, sagt er einmal, „sie könnte in jedem Körper stecken.“ Oder wenn er auf Ibrahims Bemerkung: „Du vergisst, dass ich verflucht bin“, antwortet: „Du bist nicht allein. Das ganze Land ist es.“

Spätestens dieser Satz öffnet eine Tiefendimension des Films, die weit über das Lokalkolorit eines Kairoer Stadtviertels, die Postkartenansichten einer Rundreise von Kairo über Alexandria, den Sinai und zurück oder das Beziehungsgeplänkel zwischen zwei etwas seltsamen jungen Männern hinausgeht. Hinter der harmlosen Fassade des buddy movies handelt der Film von dem nicht benennbaren, in der Chiffre des „Fluchs“ angedeuteten Unglück der ägyptischen Gesellschaft und Geschichte. Es kommt zutage in der willkürlichen Gewalt eines Polizeioffiziers und seiner neurotischen Attacke auf einen harmlosen Plüschbären. Es steckt in dem visuellen Paradox einer abwesenden jungen Frau, die in Gestalt einer weißen Ziege „da“ sein soll. Und es macht sich in einer auch für den Zuschauer vernehmbaren, wiederkehrenden und schmerzhaften akustischen Störung bemerkbar. Schwarze Magie, so die Diagnose des Heilers, habe Ali und Ibrahim verhext. In der Gleichsetzung des persönlichen Leids mit dem des Landes macht der Film sie sich in einer überraschenden Wendung zu eigen. Vielleicht ist der Heiler, in dessen Wartezimmer ein Pfau von falscher Eitelkeit zeugt, doch kein Scharlatan, sondern hat eine zumindest metaphorisch zutreffende Einsicht zu bieten. Schließlich erweist sich auch seine Therapie, die Reise mit den drei Steinen, am Schluss als erfolgreich – wenn auch mit einem Augenzwinkern.

Es lohnt sich, die „Symptome“ der beiden Hauptfiguren näher zu betrachten – sind sie doch auch eine Art Rätsel, das zu lösen und zu verstehen der Film den Zuschauer aufzufordern scheint. Alis Nada, die Ziege, muss einen offenbar traumatischen Verlust kompensieren. Ganz gegen sein sonst umgängliches Wesen stößt er mit seinem Eigensinn, Tier und ehemalige Verlobte als eins zu sehen, seine Umgebung immer wieder vor den Kopf. Die spät, fast gegen Ende des Films erzählte Geschichte von Nadas plötzlichem und von Ali selbst erst im Nachhinein bemerktem Verschwinden macht den Schock begreiflich, den er in einer hartnäckigen „Verkennung“ von Nada und Ziege einerseits verdrängt, andererseits immer wieder neu heraufbeschwört. Fast unvermeidlich drängen sich psychoanalytische Kategorien für das Verständnis seines Verhaltens auf. In einer einleuchtenden Pointe weitet der Film diesen Befund auf das gesamte Kollektiv des Viertels aus (und potentiell auf die gesamte ägyptische Gesellschaft) – indem alle seine Bewohner seinen Verlust als ihren anerkennen. Und Nada in einer Tierfigur (wie im antiken Ägypten, in dem Tiere Menschen und Götter vertreten konnten) ein kollektives Denkmal setzen. Schließlich: statt Ali als Außenseiter und Verrückten zu verspotten und zu stigmatisieren, ermöglicht ihnen die Identifikation mit seinem Leid auch die Erinnerung an die eigenen Verluste. Den Verlust der Hoffnungen auf Befreiung, Demokratie und politische Teilhabe. Den Verlust von Menschen, die den Versuch der Selbstbestimmung mit Tod, Gefängnis und gewaltsamer Unterdrückung bezahlten. Das Leid von Frauen, die vergewaltigt und erniedrigt wurden. Und: den Verlust der Freiheit, von diesen Verlusten und Verletzungen reden und sie betrauern zu dürfen. Zensur und politische Justiz haben die Erinnerung an den „Arabischen Frühling“ und die „Revolution vom 25. Januar“, den Aufstand gegen die Diktatur Mubaraks, erstickt und tabuisiert. Unter diesen Bedingungen erzählt der Film eine vordergründig harmlose und unterhaltsame, hintergründig brisante Geschichte; und beginnt, indem er ein Stück Erinnerung zulässt, mit einem ersten Schritt zur Heilung eines kollektiven Traumas.

Auch Ibrahims Leidensgeschichte weist weit über ihn selbst hinaus. Sie greift zeitlich Generationen zurück bis zum Großvater, vielleicht sogar weiter, und räumlich über die Leinwand hinaus ins Kollektiv des Publikums, das gezwungen ist, den akustischen Tumult in seinem Kopf mit ihm zu teilen. Der Film verknüpft diesen disharmonischen Lärm mit zwei anderen Tonwelten – den Tönen, die Ibrahim mit seinem Mikrofon aufzeichnet und die ein akustisches Panorama seines Viertels bilden; und den Klängen der Oud, eines populären Instruments, in deren Melodien die Emotionen von Generationen widerhallen wie in einem akustischen Gedächtnis. Auch visuell stellt der Film Beziehungen zwischen Ibrahim und der Stadt her, indem er uns mit seinem Blick, von einer Dachterrasse aus, das Panorama Kairos zeigt, einmal überwölbt vom Nachthimmel, einmal bei Tageslicht. In dem Musiker Ibrahim, der von sich sagt, dass er schon als Kind jedes Instrument spielen konnte, das er anfasste, hat sich seine soziale Umwelt, die Stadt und ihre Geschichte in einem Klangbild niedergeschlagen: und dieses Bild ist ein betäubender Schmerzensschrei. Es ist ein synthetischer, technischer Klang jenseits allen kreatürlichen Ausdrucks, als habe sich menschliche Qual in ein tönendes Folterinstrument verwandelt. Mit Ibrahim hören heißt Schmerzen hören, die Schmerzen einer Leidensgeschichte über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg. In diesem monströsen Tongebilde fließen Gegenwart und Vergangenheit Ägyptens zusammen.

Flucht in die Taubheit, Flucht in den Tod, dass scheinen die einzigen Wege, um diesem Schmerz zu entkommen. Die Taubheit mag stehen für Ignorieren und Vergessen, der Tod für Resignation und Selbstaufgabe. Mit traditionellen Klängen wird man ihn nicht mehr lindern, besänftigen oder sogar lösen können. Auch nicht mit jenen operettenhaften Filmen, für die das klassische ägyptische Kino in der arabischen Welt berühmt war. Sherif El Bendary hat für Ibrahim eine andere Lösung gefunden. Zwar scheitert sein Versuch, die ihn quälenden Töne aufzuzeichnen und damit zu überwinden. Stattdessen gelingt es ihm, sich von einem passiven „Resonanzkörper“ des Leidens und Mitleidens in eine aktive Quelle bedrohlicher, schmerzhafter und betäubender Töne zu verwandeln. Wenn er vor den Ali mit Nadas Tod drohenden Kriminellen auftaucht, verspotten sie ihn noch als „Superman“ und „Retter“ oder sogar „Erlöser“ (saviour). Und für einen ironischen Moment hält auch der Film noch einmal inne für eine kurze Pause vor dem Kampf, wie in Superheldenfilmen üblich, um die Spannung noch zu steigern. Ibrahim muss eine der Batterien in seiner komplizierten Installation mit der Zunge befeuchten, damit die Kontakte funktionieren und die elektrische Energie fließen kann. Dann erst bricht das akustische Spektakel los, die Attacke der unerträglichen Töne, die seine und Alis Gegner niederstreckt. Nicht wohlgesetzte Worte, nicht Appelle an Vernunft und Menschlichkeit, sondern die Macht des Klangs setzt sie außer Gefecht. Das ist, mit einem Seitenblick auf das Kino Hollywoods, mindestens so überzeugend wie ein Laserschwert.

Alis Integration ins Kollektiv der Nachbarschaft, die in ihm sich selbst erkennt, und Ibrahims Verwandlung vom Leidenden zum Handelnden, als Musiker wie als Teil der Gesellschaft, bedeutet für beide, wie der Epilog des Films verrät, das Gelingen einer lang ersehnten, aber kaum noch erhofften Heilung. Sie wird ihnen wie durch ein Wunder geschenkt – und ist doch ganz folgerichtig, wenn man ihre „Krankheit“ als Symptom eines politisch-gesellschaftlichen Zustands begreift. Die „magische“ Seite des Films, die Heilreise mit den drei Steinen, kommt zum Abschluss, wenn sie die beiden letzten in den Nil werfen. Die andere, verborgene Seite besteht darin, dass er zur Sprache bringt, wovon in Ägypten heute nicht gesprochen werden darf. Und was andere nicht hören wollen.

Hintergrund

Der „arabische Frühling“ 2011 in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens, von Tunesien bis Syrien, beflügelte in unserer „westlichen“ Öffentlichkeit die Hoffnung, dass die Befreiung von jahrzehntelangen Diktaturen nach der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas 1989 nun auch in der arabischen Welt stattfinden würde. Sie vollzog sich zuerst (und nachhaltig auch allein) in Tunesien als „Jasmin-Revolution“, die durch die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers im Dezember 2010 in Gang gesetzt wurde und nach sich ausbreitenden Solidaritätskundgebungen und regimekritischen Protesten bereits am 14. Januar 2011 zur Flucht von Präsident Ben Ali nach Saudi-Arabien führte. Wie später auch in Ägypten errang bei den folgenden Wahlen eine islamistische Partei die meisten Stimmen, ließ sich jedoch auf eine Kooperation mit der säkularen Opposition ein und handelte mit ihr eine neue, demokratische Verfassung aus. Sie trat 2014 in Kraft und hat bis heute Bestand.

In Ägypten beginnen die Massenproteste gegen das seit 1981 an der Macht befindliche Regime Hosni Mubaraks, Nachfolger des von einer islamistischen Terrorgruppe ermordeten Anwar as-Sadat, am 25. Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) in Kairo und breiten sich auch auf andere Städte des Landes aus. Nach diesem Datum heißt der Aufstand in Ägypten auch „Revolution des 25. Januar“. Zu den Ursachen zählen die Unterdrückung der Opposition durch die Repression der Sicherheitskräfte – Mubarak regierte auf der Grundlage eines Notstandsdekrets seit 1982 –, fehlende Meinungsfreiheit, offenkundiger Wahlbetrug bei den offiziellen Parlamentswahlen 2010, verbreitete Korruption und eine Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen von unten nach oben durch eine neoliberale Wirtschaftsdoktrin, die zu wachsender Armut und Arbeitslosigkeit in hohem Umfang führte.

Das Regime versucht, durch Kontrolle der digitalen Kommunikationskanäle (Sperrung von Facebook und Twitter, zeitweise Abschaltung des Internet), Polizeigewalt gegen Demonstranten, Verhaftungen und die Ankündigung von Reformen die andauernden Proteste zu unterbinden. Der Versuch aufgeputschter, teils bezahlter und bewaffneter Befürworter des Regimes, die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz zu vertreiben, scheitert. Nach 18 Tagen tritt Mubarak am 11. Februar 2011 zurück, der Oberste Rat der Streitkräfte übernimmt die Regierungsgewalt. Nach dem Bericht einer Kommission ägyptischer Juristen vom April 2011 sind während der Unruhen 846 Menschen ums Leben gekommen.

Auch nach dem 11. Februar kommt es immer wieder zu Protesten und Demonstrationen. Bei ihrer Unterdrückung spielen verstärkt sexualisierte Gewalt gegen Frauen eine Rolle, so bei der erniedrigenden Untersuchung von Demonstrantinnen auf ihre „Jungfräulichkeit“ nach der brutalen Räumung eines Zeltlagers auf dem Gelände des ägyptischen Museums in der Nähe des Tahrir-Platzes durch Soldaten, Militärpolizei und bezahlte Schlägertrupps am 9. März.

Am 19. März findet eine Volksabstimmung über eine Änderung der Verfassung mit Bestimmungen für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die von den islamistischen Muslimbrüdern, den Salafisten und der ehemaligen Staatspartei unterstützt und von den Wählern mehrheitlich angenommen wird.

Vom 28. November 2011 bis 11. Januar 2012 finden Parlamentswahlen statt. Die Muslimbrüder und die Salafisten erringen 70% der Sitze. Am 14. Juni wird die Wahl vom Obersten Gericht für ungültig erklärt und das Parlament aufgelöst.

Vom 23. Mai bis 17. Juni 2012 finden die Präsidentschaftswahlen statt; der Kandidat der Muslimbrüder Muhammed Mursi, siegt knapp über den vom Militär eingesetzten Premierminister Ahmad Shafiq. Am 12. August ernennt Mursi Abd al-Fattah al-Sisi, Mitglied des Militärrats, zum Verteidigungsminister. Die Maßnahmen der Regierung Mursi provozieren massive Proteste, die zum Teil vom Militär und Vertretern des alten Regimes geschürt werden. Am 3. Juli 2013 putscht das Militär unter al-Sisi gegen Mursi und setzt ihn ab. Am 14. August 2013 werden etwa 1000 Muslimbrüder bei Kundgebungen zur Unterstützung Mursis getötet.

In den folgenden Jahren verschärft das von al-Sisi geführte Regime die Repression, hunderte von politischen Gegnern werden zum Tode verurteilt, die Revolution vom 25. Januar tabuisiert und kriminalisiert. Nach seinem Rücktritt als Armeechef und neuerlichen Präsidentschaftswahlen wird al-Sisi am 3. Juni 2014 mit 97% der Stimmen zum neuen Präsidenten Ägyptens erklärt. Seine Herrschaft gilt inzwischen als deutlich repressiver als die Mubaraks. Nach einem Bericht der Bundeszentrale für politische Bildung sollen seit 2013 mindestens 40.000 politische Häftlinge zusätzlich im Gefängnis sitzen. Der gleiche Bericht verweist auch auf eine wachsende Zahl von „forced disappearances“, also das ungeklärte Verschwinden von Hunderten vor allem junger Ägypter, die von den Polizeikräften oder dem Inlandsgeheimdienst ohne juristisches Verfahren verschleppt, gefoltert oder hingerichtet wurden.

Die Resultate des „arabischen Frühlings“ sind auch in den meisten anderen Ländern deprimierend. In Libyen und im Jemen kam es nach dem Sturz der jeweiligen Machthaber zu Bürgerkriegen, ebenso wie in Syrien, in dem sich Baschar al-Assad durch Unterstützung vor allem Russlands und des Iran in einer von Seiten des Regimes auch mit Chemiewaffen geführten, völlig entgrenzten Auseinandersetzung gegen die Opposition behaupten konnte. Die Proteste in Bahrain wurden mit Hilfe Saudi-Arabiens unterdrückt. Die Demonstrationen in Saudi-Arabien selbst wurden gewaltsam erstickt. In Oman, Jordanien und Marokko ließen sich die Proteste durch Regierungsumbildungen oder Reformmaßnahmen befrieden.

Es lässt sich nur spekulieren, was ein Erfolg des „Arabischen Frühlings“ im bevölkerungsreichsten Land der Region, eben in Ägypten, für die ganze arabische Welt bedeutet hätte. Sein Scheitern jedenfalls hat Chancen und Hoffnungen einer ganzen Generation zunichte gemacht. Im Juli 2017 wurde die Bevölkerung auf 97 Millionen Einwohner geschätzt, etwa ein Drittel ist unter 15 Jahren. Auch die Revolution vom 25. Januar war in großem Umfang ein Protest der Jugend. Für sie leistet der Film Sherif El Bendarys ein Stück Trauerarbeit.

Zum Regisseur

Sherif El Bendary (manchmal auch: Sherif Elbendary), geb. 29. September 1978, ist ein ägyptischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent. Nach Abschluss seines Studiums absolvierte er das Ägyptische Filminstitut (2002-2007), an dem er heute Regie lehrt. Seine Filmografie umfasst die Kurzfilme Six Girls (Set banat, 2005); Rise and Shine (Sabah elfoll, 2006); At Day’s End (Sa’et asary, 2008); Curfew (2011, Teil der Filmanthologie 18 Days); On the Road to Downtown (Fi altariq le west elbalad, 2011), und sein Spielfilmdebut Die Ziege (Ali Mizah wa Ibrahim/Ali the Goat and Ibrahim, 2016). 2019 gründete er die Produktionsfirma Africa Films (s.u. Filmhinweise)

Didaktische Hinweise

Die politische, soziale und psychologische Deutung des Films als Auseinandersetzung mit dem Scheitern des „Arabischen Frühlings“ in Ägypten versteht ihn als Parabel. Sie verknüpft zwei voneinander getrennte Ebenen. Die erste ist die der in filmischen Bildern erzählten Geschichte, die ihre eigene Logik, Kohärenz, Dramaturgie und Bedeutsamkeit besitzt – und besitzen muss, um als Film überzeugend zu sein. Als Drama zweier beschädigter, als verrückt geltender Außenseiter, ihrer Annäherung und kollektiven Reintegration benutzt er Genremotive des buddy movies und Roadmovies, aber auch des Märchens und der Legende wie das der magischen Heilung (und Rettung) in einer Ausnahme- und Krisensituation. Die zweite Ebene ist die einer Bedeutung zweiten Grades, die einzelne Motive als Metaphern und die erzählerische Konstruktion als (Re)Imagination geschichtlicher Erfahrungen begreift.

Im Fall von „Die Ziege“ ist diese Zweideutigkeit durch die Zensur erzwungen. Ihre Lesbarkeit bedarf eines eigenen Trainings, das sich an Meinungsfreiheit gewöhnte Menschen ersparen können. Allerdings kennen auch sie Konstellationen des zweifachen oder gar mehrfachen Sinns. So sind psychoanalytische Motive und Konstruktionen wie Trauma, Verdrängung und Verschiebung längst in das Alltagswissen eingesickert; der Film nutzt sie vor allem für den ganzen Komplex von Alis Nada-Obsession. Einen anderen Bezugsrahmen eingeübter Mehrdeutigkeit bildet die ästhetische Erfahrung selbst; sie erlaubt auch uns, in Ibrahim eine verletzliche künstlerische Sensibilität zu erkennen, die auf seine Welt und seine Zeit reagiert, ja ihnen ausgeliefert ist.

Parabel und Metapher sind im Bereich des Films eher ungewöhnliche, von der Filmtheorie nur am Rande beachtete ästhetische Figuren. Für sie zerfällt die Welt des Films in der Regel in die Bereiche des Realismus, der jede Überhöhung meidet, oder der puren Illusion, die sich selbst genügt. Dennoch gibt es große Filmparabeln. Eine knappe Auswahlliste findet sich in den Literatur- und Medienhinweisen. Eine ausgeprägte Nähe zur Parabel haben insbesondere Kurzfilme, ein Bereich, in dem Sherif El Bendary bis zu „Die Ziege“ ausschließlich gearbeitet hat; auch „Curfew“ gehört dazu (s.o.).

Parabeln und Metaphern können nur funktionieren, wenn Künstler und Publikum einen gemeinsamen Erfahrungsschatz teilen. Was für ägyptische Zuschauer eine Selbstverständlichkeit ist, muss von einem deutschen oder europäischen Publikum in der Regel erst erarbeitet werden. Obwohl die Bürgerkriege in Libyen, Syrien und dem Jemen die Weltöffentlichkeit heute noch beschäftigen, ist der „Arabische Frühling“ fast schon völlig verblasst, wenn auch der Zustand der gesamten Region ohne ihn kaum verständlich ist. Und damit auch die anhaltende europäische Flüchtlingskrise, die zu einem Grundsatzkonflikt der Europäischen Union geworden ist.

Didaktische Hinweise

Der Film eignet sich für den Einsatz in der Oberstufe und für die Erwachsenenbildung; insbesondere für Seminare und für Gruppen, die sich mit Nordafrika, dem Arabischen Frühling bzw. Menschenrechten befassen. 

Anregungen zum Filmgespräch

Zur Einführung des Films ist es für ein Publikum mit eher geringem Vorwissen zum Arabischen Frühling oder dem ägyptischen Kino sicherlich hilfreich, kurz über die kulturell und politisch spezifischen Hintergründe der Entstehungszeit des Filmes zu informieren.

Mögliche Fragen für ein Nachgespräch

  • Welche Erwartungen hatten Sie nach der Eröffnungssequenz mit dem Teddybären an den Film?
  • Wie lässt sich das Agieren der Polizei in dieser Situation charakterisieren? Wie lässt sich der Einsatz der jungen Männer für Gerechtigkeit charakterisieren?
  • Was erfahren wir über die Familien von Ali und Ibrahim? In welchem soziale Umfeld leben sie? Welche Rolle spielen die – abwesenden – Väter?
  • Welche Sequenzen des Films oder welche Stilmittel erinnern Sie an genretypische Erzählweisen, die Ihnen aus europäischen oder US-amerikanischen Filmen vertraut sind?
  • Welche Bedeutungen wachsen Alis „Verrücktheiten“ im Fortgang der Filmhandlung zu? Wie wird dies im Laufe der filmischen Erzählung genutzt und schließlich aufgelöst?
  • Wie beschreibt der Film das Verhältnis zwischen Männern und Frauen? Wie werden Frauen, wie werden Männer typisiert?

Literatur- und Medienhinweise

  • Bundeszentrale für politische Bildung: Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Bonn 2016; Bezug: www.bpb.de
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier: Innerstaatliche Konflikte. Ägypten (2017), www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/182905/aegypten
  • Scott Anderson, Zerbrochene Länder. Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017
  • Walter Armbrust: Martyrs and Tricksters. An Ethnography of the Egyptian Revolution, Princeton & Oxford, 2019
  • Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag, München 2016

Filmhinweise:

Fast alle Kurzfilme  von Sherif El Bendary, auch „Curfew“ und der mittellange Dokumentarfilm „On the Road to Downtown“, der sich auch auf die Proteste auf dem Tahrir-Platz bezieht, sind auf der Plattform vimeo abrufbar
https://vimeo.com/user34530456.

  • Kairo 678
    Mohamed Diab. Ägypten 2010, 100 Min., OmU, Spielfilm
    Bezug DVD: EZEF
  • Le Challat de Tunis - Das Phantom von Tunis
    Kaouther Ben Hania. Tunesien, Frankreich 2014, 90 Min., OmU, Spielfilm
    Bezug DVD: EZEF

Filmische Parabeln

  • Los versos del olvido – Im Labyrinth der Erinnerung
    Alireza Khatami. Frankreich, Deutschland, Niederlande, Chile 2017, 92 Min. OmU, Spielfilm
    Bezug DVD: EZEF
  • Der Würgeengel (El angel extermindador). Luis Buñuel. Mexiko 1962
  • Der Wind wird uns tragen. Abbas Kiarostami. Iran, Frankreich 2001
  • The Killing of a Sacred Deer. Yorgos Lanthimos, Irland, Großbritannien 2017
  • Bis dann, mein Sohn. Wang Xiaozhuai, VR China 2019

 

Autor: Karsten Visarius
Redaktion: Bernd Wolpert
Juli 2020

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