Spielfilm von Ousmane Sembène
Senegal 2001, 118 Min., OmU
Kurzinhalt
Der Schauplatz ist Dakar, Senegal. Die Protagonistin des Films ist die etwa 40-jährige Faat Kiné, Pächterin einer Tankstelle, unverheiratete Mutter zweier Kinder, einer Tochter, Aby, und eines Sohnes, Djip, die innerhalb der Filmhandlung ihr Abitur bestehen. Gezeigt wird Faat Kiné an ihrem Arbeitsplatz und in ihrem schönen Zuhause, ihre selbstverständliche, selbstbewusste Behauptung in unterschiedlichen Situationen, ihre Zurückweisung aller Versuche, sie wirtschaftlich oder persönlich auszubeuten. In ihrer Familie treten uns drei Frauentypen entgegen, drei Generationen: Die Mutter Faat Kinés, Maamy, die traditionellen, islamisch-patriarchalischen Gesellschaftsvorstellungen verhaftet ist, Faat Kiné selbst, die ein modernes Afrika, verkörpert, und die Tochter Aby, die für ein zukünftiges Afrika steht. Die Männer, der Vater Faat Kinés, die Väter von Aby und Djip, die Liebhaber..., werden allesamt als lächerliche Figuren, die auf ihrem Recht als Männer bestehen, gezeichnet, außer Djip, der Sohn, der ein neues Afrika repräsentiert, und Jean, der als selbstständiger Bauunternehmer und Witwer, der seine Kinder auch selbst aufgezogen hat, der neue Partner Faat Kinés wird.
Ausführliche Inhaltsangabe
Faat Kiné fährt in ihrem Auto zu ihrer Arbeitsstelle, einer Tankstelle. Im Auto läuft ein Radiokommentar über die Perspektivlosigkeit Afrikas. Ihre Kinder, die ihre Abiturprüfung vor sich haben, nimmt sie bis zu ihrem Arbeitsplatz mit, wo sich die Wege trennen. Die folgenden Sequenzen zeigen Kiné bei ihrer Arbeit, sie nimmt Telefonate entgegen, geht Papiere durch, gibt Anweisungen. In diesem öffentlichen Bereich suchen Kiné aber auch Personen aus ihrem Privatleben auf. Es werden Nebenhandlungen begonnen, die im Verlauf des Films fortgeführt werden. Der wichtigste Auftritt ist der von Abys Vater, der unter dem Vorwand, sich nach dem Abitur seiner Tochter zu erkundigen, versucht, Kontakt mit Kiné aufzunehmen, da sie inzwischen eine erfolgreiche Geschäftsfrau ist. Er war ihr ehemaliger Lehrer, wegen ihrer Schwangerschaft wurde Kiné kurz vor dem Abitur von der Schule verwiesen und von dem Vater des Kindes verlassen (Rückblende). Kiné weist seine Annäherung zurück und spricht ihm das Recht auf Anteilnahme an dem Erfolg seiner Tochter ab. Dass Aby ihr Abitur bestanden hat, teilt sie ihm nicht mit.
In dem zweiten Abschnitt des Filmes wird Kiné in ihrem Haus gezeigt, im Umgang mit ihrer Hausangestellten Adèle, mit ihren Kindern. Zentral ist die Begegnung zwischen ihr und ihrer Mutter, die mit ihrem zweiten Mann in Kinés Haus wohnt. Die erfolgreich abgeschlossene Schulzeit der Kinder veranlasst die Mutter, die Vergangenheit zu reflektieren. In ihrer Erzählung und in einer Rückblende wird Kinés Schicksal beleuchtet, als sie im Alter ihrer Kinder war: Ihr Vater wollte sie verbrennen, um mit ihr die Schande seines Hauses auszulöschen. Die Mutter rettete sie, litt ihr Leben lang unter den Brandnarben. Der Vater verließ die Mutter und enterbte Kiné. Kiné fand Arbeit, kam für ihre Kinder und allerlei Verwandte auf, ließ sich abermals auf die Versprechungen eines Mannes ein. Jetzt aber werde sie, so die Mutter, ihrem Namen gerecht – Faat Kiné, die Löwin. Die Kinder teilen Faat Kiné ihre Pläne nach dem Abitur mit. Während Djip zunächst an einer einheimischen Universität studieren will, träumt Aby von Kanada. Es kommt zur Auseinandersetzung mit Faat Kiné, da Aby nicht die Begrenztheit der finanziellen Mittel einsieht.
Im nächsten Filmabschnitt ist der Wechsel der Schauplätze häufiger: Kiné an der Tankstelle, aber auch als Geschäftsfrau unterwegs, Kiné mit ihren Freundinnen im Café, Kinés Begegnungen mit Djibs Vater. Eine Rückblende macht deutlich, warum sie den heruntergekommenen Mann so zornig abblitzen lässt: Als sie Djep erwartete, betrog er sie um ihre Ersparnisse, um sich, wegen Betrügereien von der senegalesischen Polizei verfolgt, nach Europa abzusetzen. Er wurde aber verhaftet und eingesperrt.
Während Faat Kinés Mutter ihre Tochter nach islamischem Brauch verheiraten wollte, diese Absicht aber aufgeben musste und nun Faat Kinés Kinder nach einem verlässlichen Partner für sie suchen, damit sie nach dem Auszug der Kinder nicht einsam sei, bestehen Faat Kiné und ihre Freundinnen auf einem selbstbestimmten Leben und eigener Partnerwahl. Das wird in verschiedenen Szenen unter jeweils anderen Blickwinkeln aufgegriffen: Faat Kiné beendet das Verhältnis mit einem Liebhaber, Faat Kiné zürnt ihren Kindern, weil sie sie zu bevormunden suchen.
Die Abiturfeier in Faat Kinés Haus am Ende des Films führt die wichtigsten Personen zusammen. Die Väter kommen, um an dem Erfolg der Kinder und an dem „Reichtum“ Kinés teilzuhaben. Sie verlangen, auf traditionelle Werte pochend, Respekt von ihren Kindern. Aber Djip, der auf die Wertvorstellungen des neuen Afrika verweist, vernichtet sie moralisch, und die feiernden Abiturienten, angeführt von Kiné und ihren Freundinnen, jagen die Väter aus dem Haus. Jean, ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Witwer, der wie Faat Kiné seine Kinder allein erzog, ein praktizierender Christ, kommt zu der Feier. Ihn haben die Kinder als Partner für ihre Mutter ausersehen. Aber unabhängig von ihrem Plan gab es schon ein Interesse der beiden aneinander. So endet der Film im Zimmer Faat Kinés mit deren erotischem Zehenspiel, das den schüchternen Jean einlädt.
Filmische Umsetzung
Der Film ist eine Hommage an die Frauen Afrikas, an ihre Solidarität, ihr Selbstbewusstsein, ihre Lebendigkeit und Schönheit, ihre Verlässlichkeit, die diesem „vergessenen und abgeschriebenen Kontinent“ eine Zukunft ermöglichen – trotz aller Widrigkeiten und Bürden, die Afrika zu tragen hat.
Der Film zeichnet zuallererst das Portrait einer afrikanischen Frau mittleren Alters, jener Faat Kiné, die ohne Hilfe der Väter ihre beiden Kinder Aby und Djip zu patenten, lebendigen, gescheiten Abiturienten großgezogen hat und als resolute Geschäftsfrau eine Tankstelle mit Autowerkstatt betreibt.
Faat Kiné ist durch und durch sympathisch gezeichnet, ohne charakterliche Mängel. Sie ist eine attraktive Frau, wunderschön gewandet, z.B. in ein safrangelbes traditionelles Kleid und dazu passenden Kopfschmuck bei dem Fest am Ende des Films. Immer frische Blumen stehen auf ihrem Schreibtisch in der Tankstelle. Voller Charme und Chuzpe, Entschiedenheit und Zuwendung begegnet sie den Leuten, die in die Tankstelle kommen, den Kunden, darunter solchen, die sie betrügen wollen, Bettlern, Blinden, die um ein Almosen bitten, Freundinnen, die tratschen wollen, Kollegen, die in ihrer Arbeit nicht erfolgreich sind. Trotz der Entbehrungen und Demütigungen, die ihr Leben begleitet haben, erscheint sie glücklicher als all die andern. Es wird viel gelacht in diesem Film. Und das Lachen geht von Faat Kiné aus.
Mit kompromissloser Härte begegnet sie allen Versuchen sie zu bevormunden, ihr ihre schwer errungene Unabhängigkeit zu nehmen, sie wirtschaftlich auszubeuten. Diese Härte erfahren vor allem die Väter ihrer Kinder, die, nachdem sie die junge schwangere Kiné verlassen und betrogen haben, an ihrem Erfolg teilhaben wollen. Aber auch ihre Mutter, die sie nach islamischer Tradition verheiraten will, brüskiert sie, indem sie die arrangierte Hochzeit platzen lässt. Andererseits leben ihre Mutter und deren zweiter Mann in Faat Kinés Haus, und diese begegnet ihnen mit der Ehrerbietung einer afrikanischen Tochter. Auch ihre Kinder, die sie von ihrem Plan, ihr einen Partner zu suchen unterrichten, weist sie zornig zurück. Ihrer Tochter, die sich ihr gegenüber als moderne Frau gibt, die schon Sex gehabt habe, dennoch nicht schwanger sei und ihr Abitur geschafft habe, begegnet sie mit zornigem Spott. Allein Kinés Entbehrungen und ihr Kampf für ihre Kinder habe ermöglicht, womit die Tochter jetzt auftrumpfe.
Konflikte werden ausgetragen. In dem Film wird diskutiert und gestritten. Und die Schlussszenen geraten sogar zum Tribunal über die Väter. Das ist ungewöhnlich. In den uns sonst zugänglichen Filmen bleiben die Spannungen verborgener, zeigen sich eher indirekt in der Haltung der Personen. In „Faat Kiné“ wird um Positionen gestritten, werden in Dialogen mit großer Gestik hohle Ansprüche entlarvt. Es geht nicht nur um die Position eines Einzelnen, sondern um einen gangbaren Weg für den Senegal, für Afrika. Die Personen sind immer auch Vertreter einer bestimmten Gesellschaftsschicht und der von ihr proklamierten Forderungen und Werte. Im Streit geht es um den ganzen Kontinent: „Embryo des Neoliberalismus“, „Kolonial-Afrikaner“, „Neger vom Dienst“, derlei Beschimpfungen tauschen die Dialogpartner aus. Die Dialoge werden weniger in Spielszenen umgesetzt als deklamiert. Kleine komödiantische, aber didaktische Exkurse fließen ein über den Konflikt zwischen Muslimen und Christen, zum Thema Safer Sex und Aids.
Ousmane Sembène versteht sein Kino als „Abendschule des Volkes“. Sein Film soll Bewusstsein bilden, beitragen zur Findung eines selbstständigen afrikanischen Wegs. Dabei ist die Familie der Ausgangspunkt für die politische Reflexion. Das Leben Faat Kinés und die Pläne der Kinder stehen für eine mögliche Zukunft Afrikas. Djip, der 17-jährige Sohn Faat Kinés, wird von seinen Freunden „Prési“ genannt, er selbst vertritt den Berufswunsch, der künftige Präsident vom Senegal zu werden. Immer wieder werden im Film Bildungswege reflektiert: Erst auf ein Studium in Dakar sollen Ausbildungsjahre im Ausland folgen, so beschließen es Kinés Kinder. Kinés selbst hart erarbeitete wirtschaftliche Unabhängigkeit erlaubt ihr schließlich ein Leben außerhalb der Fesseln des Patriarchats. Ihre Selbstbehauptung ermöglicht es ihrem Sohn am Ende des Films auf dem Abiturfest, in einer großen Abrechnung die Ansprüche der Vätergeneration, die nicht auf Verdienst sondern auf Tradition beruhen, zurückzuweisen und einen selbstständigen Weg für sich und seine Generation zu proklamieren. Auf Kiné und ihren Freundinnen und den von ihnen erzogenen Kindern liegt die Hoffnung Ousmane Sembènes. Dabei erzählt der Film in anderen Randepisoden, dass ein eigenständiger afrikanischer Weg nicht nur aus dem afrikanischen Traditionalismus herausführen muss, sondern auch neokolonialistische Tendenzen und koloniale Verformungen bekämpfen muss. In Lebensbezügen des Alltags werden traditionelle und „moderne“ Verhaltensweisen gezeigt: z.B. Kiné benutzt ihr Auto wie selbstverständlich, ihre Kinder benutzen den Bus. Kiné raucht in der Öffentlichkeit, wird dafür von ihrer Tochter als „mutig“ und „modern“ bezeichnet, darf das aber nicht in ihrem eigenen Haus. Es wird weitgehend Französisch gesprochen, mit Maamy spricht man Wolof.
Kinés Vergangenheit kommt in drei Rückblenden ins Bild. Sie zeigen, wie drei Männer, ihr eigener Vater und die Väter ihrer beiden Kinder, ihr Leben zerstören wollten, bzw. ihre Zukunftspläne zunichte machten, sie und ihre Kinder im Stich ließen und selbst nie zur Verantwortung gezogen wurden. Dies ist der Hintergrund, von dem sich umso strahlender Kinés Selbstbehauptung abhebt und vor dem die Ansprüche der herankriechenden Väter der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Die filmische Handlung vollzieht sich an wenigen Tagen zwischen der Abiturprüfung von Aby und Djip und dem Fest, das den Erfolg von Mutter und Kindern feiert und den neuen Lebensabschnitt markieren soll. In dieser begrenzten Zeit fährt die Protagonistin, eine mobile Geschäftsfrau, kreuz und quer durch das moderne Dakar von ihrem Arbeitsplatz zur Bank, zum Café, zu ihrer Wohnung, die allen Komfort bietet, aber der Blick des Zuschauers wird immer wieder auf afrikanische Einrichtungsgegenstände gelenkt. Die Silhouette von Dakar wird in der Totalen ins Bild gesetzt, ebenso die Straßenführung der Hauptstadt. In diesem Zeitausschnitt, auf diesen Schauplätzen wird das Bild der heutigen senegalesischen Gesellschaft entworfen in seiner Auseinandersetzung zwischen den Generationen, den Geschlechtern, den Klassen, entworfen von einem Regisseur, der zwar behauptet, Antworten nicht zu wissen, aber dennoch für ein zukünftiges Afrika auf eigenständige Frauen und eine selbstbewusste jüngere Generation setzt.
Biografische Notizen zu Ousmane Sembène
Geboren 1923 in Zuguinchor, Senegal, gehörte von 1942 bis 1946 der Französischen Kolonialarmee an, hielt sich mehr als 10 Jahre in Frankreich auf, wurde Mitglied der Französischen KP und des Kommunistischen Gewerkschaftsbundes, engagierte sich für die algerische Befreiungsbewegung FLN, bereiste Europa, China und Vietnam (1958), Afrika. 1961/62 Ausbildung an der Filmhochschule Maxim Gorki in Moskau.
Erzählungen und Romane: darunter „Der schwarze Hafenarbeiter“ (1956), „Meines Volkes schöne Heimat“ (1957), „Gottes Holzstücke“ (1960), „Harmattan“ (1964), „Weiße Genesis“ (1965), „Die Postanweisung“ (1965), „Xala“ (1973), „Der Letzte des Reiches“ (1981).
Dokumentar- und Spielfilme: darunter „Le Mandat – Die Postanweisung“ (1968), „Xala“ (1975), „Ceddo“ (1977), „Camp de Thiaroye“ (1987), „Guelwaar“ (1992), „Faat Kiné“ (2001)
Sembène Ousmane über sich selbst:
„Ich bin kein Linksintellektueller. Ich bin überhaupt kein Intellektueller..., was mich interessiert, ist, die Probleme meines Volkes darzustellen... Ich möchte die Lebensfreude aller Menschen teilen. Ich weiß natürlich, daß ich im Vergleich zum senegalesischen Bauern oder Arbeiter wesentlich bevorteilt bin. Aber mit meiner Familie lebe ich das afrikanische Leben. Ich habe zur Zeit die gleichen Probleme wie alle anderen Leute. So habe ich etwa wie alle anderen Leute das Problem mit dem Reis. Jeden Monat muss ich 300 Kilogramm Reis finden, um die verschiedenen Mitglieder meiner Familie zu ernähren. Und gerade dies erlaubt es mir, den Sorgen des durchschnittlichen Senegalers Ausdruck zu geben.“
„Ich wurde mir bewusst, dass ich in Afrika, angesichts der ungeheuer hohen Analphabetenrate, mit dem Buch nur eine beschränkte Anzahl von Leuten erreichen konnte. Ich wurde mir bewusst, dass der Film im Gegensatz hierzu die großen Massen erreicht.“
„Ich fahre aber fort zu schreiben. Vor allem Kurzgeschichten. Was mich aber zum Kino gebracht hat, ist die Tatsache, dass ich mich in meinen Büchern in Französisch ausdrücke. 80% meines Volkes sprechen aber kein Französisch. Und von den 20%, die die Sprache Molières sprechen, nehmen sich nur wenige Leute die Zeit zu lesen. In Afrika ist das nun einmal so. Das konstatiere ich ganz einfach... So muss man eben feststellen, dass die Literatur nicht weit führt..., das Kino aber ist für alle zugänglich. Ich habe es deshalb für vernünftiger gehalten, mich dem Filmemachen zuzuwenden. Mit dieser Ausdrucksform bin ich sicher, die Massen zu erreichen. Für mich ist das Kino die beste Abendschule ... Aber ich habe den Roman nicht aufgegeben.“
(entnommen dem Klappentext: Sembène Ousmane, Chala, Peter Hammer Verlag 1979)
Portrait von Ousmane Sembène
(Auszug aus dem Artikel aus der Tageszeitung TAZ vom 15.1.2004 von Max Annas)
„... Ousmane Sembène ist am 1. Januar 81 Jahre alt geworden, und mit „Faat Kiné“ kommt sein siebter von bislang acht Langfilmen in deutsche Kinos. Sembène steht für vieles zugleich. Er war einer der großen Künstler der afrikanischen Unabhängigkeit, seine Romane betrachteten diesen Prozess aus der Perspektive der Arbeiterklasse, deren Bewusstwerdung für ihn wesentlicher Teil der Emanzipation von der französischen Kolonisation war. In den 60er Jahren war Sembène einer der Pioniere des afrikanischen Kinos, experimentierte mit Doku- und Spielfilmen, bis er den klassischen Eineinhalb-bis Zweistünder als sein Format entdeckte. Manche Sujets hat er sowohl zwischen Buchdeckeln als auch als Filme veröffentlicht, wobei er zweimal den Filmstoff zuerst entwickelte. Nach seinem Film „Guelwaar“ (1992) hatte sich Sembène mehr als acht Jahre Zeit gelassen, bevor er zuletzt zwei neue Werke fertig stellte.
Es gibt kaum einen Künstler des Kontinents, der Gelegenheit hatte, so viele historische Bruchstellen zu bearbeiten. Nach der formalen Unabhängigkeit von Europa waren das nacheinander die Ausbildung afrikanischer Eliten, für Sembène ein Quell des Bösen, und später dann die neuen Abhängigkeiten afrikanischer Länder durch Entwicklungshilfe aus dem Norden. Für Sembène hängen diese beiden Probleme eng miteinander zusammen. In „Le Mandat“ („Die Postanweisung“, das Buch stammt von 1966, der Film von 1968) lässt er einen armen Mann durch seine Gemeinde irren. Der hat Geld aus Paris geschickt bekommen, kann aber ohne einen Pass die Anweisung nicht einlösen. Ignorante Beamte lassen ihn schmählich im Stich.
Diese Hilflosigkeit ist in „Guelwaar“ (1992 als Film, als Buch 1994 erschienen) längst gewichen. Ein Dorf, eigentlich tief gespalten über einen religiösen Konflikt, versammelt sich, um einen Transport mit Nahrungsmittelhilfe aufzubringen und das Getreide in den Staub zu schütten. „Man muss seinem Nachbarn helfen, wenn sein Haus niedergebrannt ist“, kommentiert Sembène. „Aber ausländische Hilfe von westlichen Geberländern, verkleidet als so genannte internationale Kooperation, muss aufhören. Wo sind die Ergebnisse dieser Investitionen? Keine Straßen, keine Krankenhäuser, keine Schulen, keine Universitäten... Aber okay, eine korrupte bourgeoise Elite wird reicher und reicher und kriegt nie genug."
Zum Film kam Sembène als bereits etablierter Romanschreiber. Er war als Mitglied der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg und verbrachte die Zeit von 1948 bis 1960 in Frankreich, wo er bei Citroen und in den Docks von Marseille arbeitete. Er wurde Mitglied der Kommunistischen Partei und begann zu schreiben, zunächst in Französisch, dann in Wolof, der senegalesischen Mehrheitssprache. 1961 und 1962 studierte er in Moskau Film, denn er war trotz der Hinwendung zum Wolof unzufrieden. In einer weitgehend nicht lesenden Gesellschaft waren ihm die Möglichkeiten der Einflussnahme viel zu klein. „Ich habe immer betont, dass Kino in Afrika etwas von einer Abendschule hat. Im gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaften hat Kino etwas von fortlaufender Ausbildung. Aber wir müssen gute Filme machen, die unsere Kämpfe genau treffen.“
Immer wieder gefragt, wie er die Rollen als Romancier und Filmemacher unter einen Hut kriegte, antwortet Sembène gern mit einem Bild: „Man kann doch Holzfäller und Bildhauer zugleich sein.“ Der Vergleich des Künstlers mit dem Arbeiter ist typisch. „Wie kann ich als Künstler, als Zeuge meiner Zeit und Mitglied meiner Gesellschaft, meinen Beitrag leisten wie der Schneider, der Schuhmacher und alle anderen? Ich frage mich immer, warum die Gesellschaft Künstler braucht. Wir haben gewählte Politiker, die verantwortlich sein sollten für das, was sie tun. Auf der anderen Seite bin ich so etwas wie ein unsichtbarer Beamter, den die Leute immer wieder um Rat fragen. Dafür brauchen wir Künstler.“
Wenn man nach einer Leitlinie für Sembènes Schaffen sucht, stößt man immer wieder auf eine Aussage: Afrika kann es allein schaffen. „Ich bestreite den Gedanken, dass Afrikas Möglichkeiten Grenzen haben. Was uns fehlt, sind visionäre Politiker mit klaren Ideen. Unsere Führer kennen nur die Politik von Essensrationierung und Nährwert. Punkt. Aber wir leben nicht vom Brot allein. Sehen Sie auf diesen Kontinent. Nur Künstler sind in der Lage, sich zu organisieren...“
Didaktische Hinweise
1. Im Film treten drei verschiedene „Frauentypen“ auf, die für die drei Generationen einer Familie stehen: Maamy, die ein traditionelles Bild von der Gesellschaft vertritt, Faat Kiné, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, Aby, eine Abiturientin.
- Welche Werte vertreten diese drei Frauen?
- Welche Aussagen der drei Frauen stützen das jeweilige Lebensverständnis?
- Wie kommunizieren sie miteinander?
- Inwieweit akzeptieren sie die Maßstäbe der anderen?
2. Im Film treten verschiedene „Männertypen“ auf, die ebenfalls unterschiedlichen Generationen zuzurechnen sind und unterschiedliche Traditionen verkörpern:
Der Vater von Faat Kiné, die Väter von Aby und Djip, Jean, der Bauunternehmer und spätere Partner von Faat Kiné, Djip, der 17-jährige Abiturient, der Präsident vom Senegal werden will.
- Welche Werte vertreten diese?
- Welche Aussagen stützen das jeweilige Lebenskonzept?
- Wie kommunizieren sie mit- und gegeneinander?
3. Die Personen des Films gehören unterschiedlichen Religionen an (Muslime, Christen...)
- Wie beeinflusst die jeweilige Religion die Lebenswirklichkeit der Personen?
- Wie schätzt der Film die religiöse Frage ein?
4. Der Film thematisiert – vor allem durch die Frauen – das Sexualverhalten in der Gesellschaft:
- Wie wird dieses charakterisiert?
- Welche Aufklärungsimpulse gibt der Film?
5. Im Film geht es um ein gegensätzliches Verständnis von den Werten Afrikas.
- Welche Positionen werden genannt?
- Wer repräsentiert sie?
- Traditionalismus, Kolonialismus, Neokolonialismus, Afrozentralismus: Wie sieht der Regisseur die Zukunft Afrikas?
6. Ousmane Sembène erhebt den Anspruch, das Kino sei „Abendschule des Volkes“.
- Was meint er damit?
- Was lernt das Volk in dieser Schule?
7. Stellen Sie diesen Film in Beziehung zu anderen Filmen von Ousmane Sembène.
- Worin unterscheidet sich dieser Film (seine Filme) von anderen afrikanischen Filmen?
Literaturhinweise
- Papa Samba Diop u. a.: Ousmane Sembène und die senegalesische Erzählliteratur. München: text + kritik, 1994; darin: Heinz Hug: „Vom alltäglichen Leben des Volkes und seiner Größe sprechen“ - Der Schriftsteller und Filmemacher Ousmane Sembène. S. 53-147
- Ousmane Sembènes Roman Guelwaar - Ein afrikanischer Heldenroman ist, mit einem Nachwort von Heinz Hug, 1997 im Wuppertaler Peter Hammer Verlag erschienen. Dort erschien auch Sembènes Roman Xala in einer neuen Übersetzung (1997).
- Im Berliner Oberbaum Verlag wurden die Romane Weiße Genesis (1983), Die Postanweisung (1988) und die Erzählungen Der Voltaer - Niiwam - Taaw (1992) veröffentlicht. Der Frankfurter Lembeck Verlag brachte 1988 den Roman Gottes Holzstücke heraus.
- Axelle Kabou, Weder arm noch ohnmächtig, Basel 1993, Lenos-Verlag
- Fernand Jung; Südlich der Sahara - Filme aus Schwarzafrika, KoPäd Verlag, München 1997
- Marie-Hélène Gutberlet / Hans-Peter Metzler (Hrsg.), AFRIKANISCHES KINO. Horlemann-Verlag, Unkel/Rhein; Bad Honnef 1997
Brigitte Pfäfflin und Georg Friedrich Pfäfflin
Februar 2004