Arbeitshilfe

Félicité

Film: 

Spielfilm von Alain Gomis
Frankreich, Senegal, Belgien, Libanon 2017, 123 Min., OmU, FSK 12

Inhalt

Félicité (Véro Tshanda Beya) ist Sängerin einer Band in einer Bar in Kinshasa, der Hauptstadt der DR Kongo. Sie singt mit dieser umwerfend rauen Stimme zu diesem rasant polyphonen Sound, der den Verstand frei fegt. Jede Nacht steht sie dort. Die Gäste trinken und manchmal fixt der Beat sie an zu tanzen. Wenn sie nicht singt, sitzt Félicité da, als ginge sie das Drumherum nichts an. Die Nacht hat zwei Seiten, sagt jemand. Draußen ist es noch dunkel als sie nach Hause geht.
Morgens stellt Félicité fest, dass der Kühlschrank kaputt ist. Es ist schon heiß. Félicité, kein Leichtgewicht, ruft Bandit (der Name ist kein Zufall), den Nachbarsjungen, der den Reparateur holt, ausgerechnet den Stammgast der Bar, Tabu (Papi Mpaka). Es entspinnt sich eine übel launige Unterhaltung über den Schwindel der vorherigen Kühlschrank-Lieferanten und Bastler. Félicité gibt von ihrem hart Verdienten, das sie im Schlafzimmer aufbewahrt, eine größere Summe für ein neues Gerät. Dann bekommt sie einen Anruf. Sie rennt sofort los. Unversehens unterbricht ein Symphonieorchester in blauem Neonlicht die Handlung und spielt einen Satz aus „Fratres“ des estnischen Komponisten Arvo Pärt. Das minimalistische Musikstück, das nach schrecklichen Vorahnungen klingt, setzt sich zu experimentellen Nachtbildern eines Waldes fort. Das Wald-Bild ist körnig, die Farben verschwimmen in der Bewegungsunschärfe.
Mit einem Mal sind wir im Krankenhaus. Félicités Sohn, Samo (Gaetan Claudia), hatte einen Motorrad-Unfall, der offene Beinbruch soll sofort operiert werden. Der Teenager liegt in einem Mehrbettzimmer. Félicité holt etwas zu essen und zu trinken, das Rezept für die Medikamente gibt sie einer hilfsbereiten Dame, die mit dem Geld, mit dem sie zehn Minuten zuvor noch einen Kühlschrank kaufen wollte, verschwindet. Sie hätte es besser wissen müssen, diese Frau war keine Besucherin, sie kommt nicht wieder. Das Geld ist weg, Félicité ist zu erschöpft um richtig aufzupassen. Hier deckt keine Krankenversicherung die Ausgaben. Wenn sie das Geld nicht bezahlt, wird das Bein amputiert. Die OP inklusive Bett und Verband kostet über eine Million CDF (umgerechnet ca. 500€). Auch besteht Félicité darauf, den Jungen in ein besseres Zimmer verlegen zu lassen. Die Musik setzt ein, der Job ruft. Wir sind wieder in der Nacht-Bar. Félicité verausgabt sich in einem frenetischen Stück, während Tabu, der Elektriker, den Hut herumgehen lässt. Die Musik der Band entschwindet, Arvo Pärts Orchestermusik erinnert an den Jungen, der im Krankenhaus liegt.
Nach dem Auftritt setzen sich die Musiker-Kollegen zusammen und besprechen, wie viel sie zur OP beitragen können. Félicité geht zu Fuß nach Hause, in die Nachtbilder der Stadt mischen sich Bilder des dunklen Waldes.

Bei Tagesanbruch ist Tabu am Kühlschrank zugange, wie jetzt häufiger. Félicité nimmt ein Motorrad-Taxi; er hat arrangiert, dass sie nur das Benzin bezahlen muss. Sie verbringt den Tag damit, bei Familie und Bekannten Geld aufzutreiben. Pärts Musik schwillt an und entschwindet. Die Tante macht ihr Vorhaltungen. Schau was aus Dir geworden ist. Ihre Mutter hätte gewarnt, sie sei zu hart, das würde ihr nicht guttun. Félicité bittet um Geld, so viel Du kannst und verschwindet. Sie verlangt ihre Außenstände in einem Restaurant. Der Boss lehnt ab. Félicité kommt mit einem Polizisten wieder, dann bekommt sie ihr Geld. Dafür muss sie auch den Polizisten bezahlen. Eine Frau gerät in Rage, hält ihr die Tochter hin, die Félicité bitte verkaufen möge, wenn sie Geld will. Selbst kleine Beträge erhält sie nur unter heftigem Gezeter.
Im Krankenhaus sitzt ein Mann hinter einer vergitterten Öffnung und kassiert das Geld für die Behandlungen. Er trägt die Summen in ein Buch ein. In Félicité Rechnung fehlen noch 120 Tausend CDF. Das weiß sie. Der Junge ist versteinert, isst nichts und bewegt sich nicht. Die Tour geht weiter. Samos Vater interessiert das Los des Sohnes nicht. Du wolltest mich loswerden. Du wolltest eine starke Frau sein. Du bist selbst schuld, hast einen Gangster großgezogen. Du bist zu nichts zu gebrauchen. Verschwinde! Er wird handgreiflich und schubst sie raus. Schließlich läuft sie durch ein wohlhabendes Viertel. Hohe Mauern umfassen die Grundstücke, es ist ruhig, grün und gepflegt. Félicité kann in ein Haus eindringen und bittet mit vollem Körpereinsatz um Geld. Der Hausinhaber gibt ihr und droht: Wenn Du nochmal hierherkommst, bringe ich Dich um. Den Angestellten droht er mit Entlassung, wenn sie noch einmal Fremde ins Haus lassen. Félicité ist verletzt, ihr T-Shirt ramponiert; sie bringt sich notdürftig in Ordnung und trommelt am nächsten Tor.
Als sie mit dem restlichen Geld in Krankenhaus ankommt, ist dem Jungen wegen einer drohenden Blutvergiftung der linke Unterschenkel abgenommen worden. Sie sackt in sich zusammen, die Stimmen entschwinden, Samo liegt in einem dunklen Zimmer. Ein klickender Rhythmus setzt ein. Die Band stimmt ein Gesangstück an. Die Musiker kommen einzeln ins Bild. Die Bar ist nicht besonders gut besucht, die Stimmung gedämpft, die Besitzerin hinter dem Tresen, Tabu ist auch da. Der Film wechselt wieder zur undurchdringlich dunklen Waldszenerie, Félicité liegt im Dickicht, taucht im Dunkeln ab.
Am nächsten Morgen schraubt Tabu am Kühlschrank, Félicité sitzt auf dem Sofa, schließt die Augen. Das Orchester kommt in bläulichem Neonlicht zusammen, sie spielen eine Arie. Die Musik ertönt weich und gehalten; eine visuelle Assoziationskette mit Straßen, Gärten, Passanten, die aus dem Auto gefilmt sind. Tabu hilft, Samo abzuholen. Die Krankenschwester hält einen Monolog über Wundpflege und Krücken. Tabu trägt den versteinerten Jungen zum Taxi, er umfasst ihn mit beiden Armen wie ein Baby. Auf der Fahrt nach Hause lässt Tabu seiner Begeisterung für den Ampelroboter made in DR Kongo freien Lauf. Kongo wird es weit bringen, Tabu wird es weit bringen. Ihr werdet mich im Fernsehen sehen, wie ich auf dem Mond stehe. Die Sterne sind unbedeutend für mich, Félicité… Tabu hat wohl ein bisschen verrückte Einfälle, aber sie beziehen sich faktisch auf die reichen Mineralressourcen und -industrie des Landes. Die Nachbarschaft kommt nach Hause, um gute Besserung und Mut zu wünschen. Nach einer Weile bittet Tabu sie auch wieder zu gehen. Félicité ist sprachlos und erschöpft, es gibt Blickkontakt, man muss nicht viel reden.
Abends steht Félicité auf der Bühne, Singen geht nicht. Sie geht von der Bühne und tritt in den Wald. Es gibt gluckernde Wasserläufe, Glitzerlichter, Grillen, Vögel. Die Band spielt, Jugendliche feiern bei einem Feuer. Die Kamera nimmt zusehends Tabu ins Visier, der gerne mit wechselnden Damen nach Hause geht. Er hebt Samo aus dem Bett, spricht mit ihm, bietet ihm Essen an. Samos Freundin geht genervt weg, die jetzt genau so eine Frisur mit Extensions hat wie Félicité sie gerade auflöst. Die Kamera lässt sich wieder nach draußen durch die Stadt treiben. Félicité im off:

Muss die Sonne aufgehen?
Die Nacht hat keinen Bruder, keinen Vater, keine Mutter.
Oh guter Schlaf.
Komm und belohne die, die die Nacht lieben.
Nur die Verrückten kennen sie nicht.
Sie kennen den kostbaren Geschmack des Saftes Deiner Früchte nicht.
Sie sehen nicht, dass Du von alten Zeiten kommst.
Und Du uns nahekommst.
Du hast die Schlüssel zum Paradies.

Tabu geht einen Trafo besorgen, auf dem Markt werden drei Diebe fast gelyncht; ein Gewitter kommt auf, Félicité und Tabu laufen in einer dichten Schnittfolge aufeinander zu. Der Sound der Band schwillt an. Félicité gleitet ins dunkle Wasser, das so dunkel ist wie die Bar, wo sie dann sitzt. Der betrunkene Tabu flüstert ihr ins Ohr, ich kenne Dich gut, ich kenne Deinen echten Namen, meine Nadel. Du hast mein Herz verwundet. Nimm die Dornen aus Deinem Herzen, denn Dein Herz ist für meine Hände gemacht …. es ist vielleicht ein Lied oder ein Gedicht, oder es ist Tabu, der dichtet. Er zieht mit einer anderen Frau ab. Félicité lächelt. Sie läuft durch die nächtliche Stadt an Imbissbuden vorbei, es ist Wahlkampf. Sie sitzt am Fluss, im Hintergrund sieht man Hafenanlagen. Am frühen Morgen legt sie sich zu Tabu ins Bett. Dann vermengen sich die Nacht-Bilder, die leere Bar, der Wald, Félicité, ein Okapi. Und es ist noch jemand anderes im Wald unterwegs.
Samo geht es besser. Er kann schon sitzen. Tabu will ihn zum Sprechen bringen; er bringt Bier. Auf Alkohol macht Samo die Entwicklung vom Baby zum Jugendlichen nochmal durch, liegt am Boden und quäkt. Tabu verliert sich in Lingala Reimen:

Du stammst von Leuten mit Würde ab.
Wir sind schöner als die Helden.
Wir sind die Wahrheit.
Wir sind schöner als Lügen.
Du bist alt genug, um wütend zu werden.
Werde wütend.
Alles muss immer wieder getan werden.
Ich werde bei Dir sein. Weil ich Dein Soldat bin.
Du wirst mutig sein. Weil Du keine Wahl hast.
Die Nacht wird Dir helfen.
Dann singen sie zusammen … Wenn ich abfucke, ist es nicht Dein Ding... oohh das Leben ist schön
(nach dem Song la vie est belle von Papa Wemba).

Félicité sitzt auf der Türschwelle. Tabu setzt sich zu ihr. Er kann nicht singen, aber er singt trotzdem pitié, mon amour, pité (hab Mitleid meine Liebe, hab Mitleid) ein Klassiker der kongolesischen Rumba von Tabu Ley Rochereau, seinem Namensvetter. Félicité lacht. Ich bin niemandes Frau, sagt sie. Ich bin niemandes Mann, sagt er. Später, Félicité ist wieder die halbe Nacht zu Fuß unterwegs, geht sie morgens zu Tabu und komplimentiert seinen Damenbesuch hinaus. Nicht dass es ihr zur Gewohnheit wird, so oft aufzutauchen, meint er. Sie lächelt. Sie: Ich habe Dich im Wald gesehen. Er: Du bist es, die ich suchte. Sie: Du hast mich gesucht? Hier bin ich.
Samo ist erstmals mit Krücken unter Leuten, er geht den Weg von zuhause bis zur Straße. Arvo Pärts Chormusik begleitet ihn, er steht auf der Verkehrsinsel, die Kamera umkreist ihn. Der im bläulichen Neonlicht getauchte Chor ist das Schlussbild, die Kamera bewegt sich zwischen den Reihen, verweilt auf einzelnen Gesichtern, damit wir sie sehen und nicht mehr vergessen.

Würdigung und Kritik

Orchestrierung der Erzählstränge
„Félicité“ ist ein anekdotisch und assoziativ erzählter Spielfilm über die gleichnamige Musikerin einer Nacht-Bar in Kinshasa. Der Unfall ihres Sohnes Samo zwingt sie zum Äußersten; tagsüber treibt sie das für die Behandlung nötige Geld ein, nachts tritt sie auf. Sie schläft kaum, ist unfassbar erschöpft und gleichzeitig aufgekratzt. Sie behauptet sich mit Unnachgiebigkeit und Eigensinn. Sie ist keine Frau, wie alle anderen, sie ist sie selbst.
Die Spielfilmhandlung, die mit einer beobachtenden Kamera erfasst wird, findet an realen Drehorten statt, so dass unzählige Details des Alltags in den Film Einlass finden und der Fiktion einen dokumentarischen Stil verleihen: die Straßen Kinshasas bei Tag und bei Nacht, man sieht Beerdigungen, Gärten und Blumengestecke, die Wohnverhältnisse, Transport- und Nahrungsmittel, Mode, Frisuren und Schmuck, das Krankenhaus, einen Ampelroboter und wieder Straßenzüge.
Mit der Haupterzählung sind zwei zunächst surreal wirkende Erzählebenen verwoben, die den fiktional schwebenden Charakter des Films ausmachen.
Die eine Ebene zeigt Proben des kongolesischen Orchesters, das Arvo Pärts Komposition „Fratres“ (1977) spielt, deren sorgenschwere Musik die mentale Verbundenheit zwischen Mutter und lebensgefährlich verletztem Sohn nahelegt.
Die zweite Ebene, eine nächtliche Waldlandschaft, gehört zunächst Félicité allein, es ist ihr Wald, das Dickicht ihrer Herkunft vielleicht, der Wasserlauf ihrer Kindheit, auf die sie zurückkommt, wenn sie am Limit ist, sie Panik oder ein Sekundenschlaf erfasst. Félicité bricht nicht zusammen, sie zieht sich an diesen dunklen Ort zurück.
Im Zusammenspiel der drei Erzählspuren kommen verschiedene Realitäten zusammen, die äußere Realität des täglichen Lebens in der Millionen-Metropole Kinshasa, die Realität einer Musik, die das Orchestre National de Kinshasa spielt – das 1992 gegründete Orchester gibt es in der Tat –, und die innere der Hauptfigur zugedachte Dimension. Sie bilden einen orchestrierten Dreiklang von Spuren, die erst einander hart abwechseln, dann aber allmählich füreinander durchlässig werden und zusammen ein Bild der erlebten Wirklichkeit zeichnen (kein Bild der äußeren Tatsachen). Félicité bewegt sich zwischen ihren verschiedenen Zeiten, Geschwindigkeiten und Räumen.
Félicités kondensierter Realismus wiederum stellt ein komplexes Bild der Verhältnisse her. Das Gesundheitswesen ist Privatsache, Geld wird nicht über Bankkonten transferiert, sondern Bündelweise benutzt. Es gibt keine Sicherheitsvorkehrungen im Straßenverkehr, der Zustand der Straßen und Häuser in den dicht bevölkerten Vierteln steht in Kontrast mit den Wohnverhältnissen der Reichen. Die Lebensumstände in Kinshasa werden ganz prosaisch und kontrastreich sichtbar. Der Film bricht genau in den Momenten ab, wenn es zu einer sozialen Dramatisierung kommen könnte. Anstatt von außen auf die Verhältnisse zu schauen, schmeißt sich eine von der Dichte überwältigte Kamera (Céline Bozon) mitten hinein ins Leben, arbeitet mit Nähe und Distanz, Unschärfen, Hell- und Dunkel-Kontrasten. Die Figuren in diesem Bild (Afrikas, des Kongo, von Kinshasa) haben Geheimnisse, sie haben eine Vergangenheit und individuelle Geschichten, von denen wir nur Bruchteile erfahren. Sie sind aus Fleisch und Blut, Liebe und Musik, jenseits eines Armutsvoyeurismus, der Mitleid, Scham und Inferioritätskomplexe fortschreiben würde.

Ressourcen der Filmerzählung
Im Gegensatz zum Bild des durch Kriege gezeichneten Landes, stellt „Félicité“ das Tableau eines reichhaltigen Angebots an Ressourcen dar. Schon die Filmfiguren sind von beeindruckender Körperlichkeit und Präsenz, sie kennen sich selbst ziemlich gut, sie mögen sich und es ist ihnen egal, was andere über sie denken. Ihr Eigensinn ist bezaubernd. Die Kamera versinkt in die vielen unterschiedlichen Gesichtern als wären es Landschaften, in den Tumult der Trinker in der Bar, in die Bewegungen der Tanzenden, in den Wortschwall des Arztes (der tatsächlich Arzt ist), in die Tiraden des Ex-Ehemannes, in den Straßenverkehr, in Nachtbilder, in die Haltung der Musiker, die echte Musiker sind usw.
Zu „Félicités“ realem Bodensatz gehört der grandiose, umgangssprachlich §15 (article quinze, »débrouillez-vous!«; auch »sytème D«) genannte Paragraph in der imaginären Verfassung zum Einfalls- und Erfindungsreichtum der Kongolesen. „Not macht erfinderisch“ ist eine Ressource, die dort zum Einsatz kommt wo Geräte, Instrumente, Ersatzteile fehlen. Man muss erfinden, basteln und so lange an den Dingen herumschrauben, bis sie wieder funktionieren.
Die ulkige Kühlschrank-Reparatur, die sich als roter Faden durch den Film zieht, der mindestens so viel Pflege braucht wie das operierte Kind (1), die Musik der Kasaï Allstars und anderer Bands verdankt sich dieser Praxis. Sie spielen auf selbst gebauten und elektrisch verstärkten
Instrumenten. Und selbst das Orchestre National de Kinshasa baute mangels Instrumenten anfangs selbst welche – wie in „Kinshasa Symphony“ dem Dokumentarfilm von Claus Wischmann und Martin Baer (2010), dem Portrait des ungewöhnlichen Symphonieorchesters (2) zu sehen ist.
Geld ist eine Ressource, es wird gutgeschrieben, ausgezahlt, nachgezählt, eingesteckt und ausgegeben. Es fließt in offiziellen weniger sichtbaren Kanälen ebenso wie es in der informellen Infrastruktur, die der Film beäugt, ständig umverteilt wird. Beiträge und Preise werden unentwegt verhandelt und geleistet, sei es im Kreis der Kollegen, in der Familie, in der Nachbarschaft, unter Bekannten, ja selbst die unnahbaren und unbekannten Reichen (ein Moment utopisch politischer Fiktion) werden angehalten, ihren Beitrag zu zahlen. Jede Leistung rechnet sich in Geld, der Kühlschrank genauso wie eine Operation oder die Fahrt mit einem Motorrad-Taxi. Wer hat, leistet sich medizinische Hilfe und Pflege. Hilfe kann es also nicht umsonst geben, und auch die physische Integrität ist ein käufliches Gut, das man sich leisten und verteidigen können muss. Natürliche Ressourcen kommen in Tabus Begeisterung für den technologischen Fortschritt (dem Ampelroboter und die Raumfahrt) zur Geltung, d.h. der Rohstoffreichtum, der Ursache der Kriege seit den Unabhängigkeitsbestrebungen ist und der Bevölkerung absolut nichts nützt. Tabu hat recht:
Ohne die im Kongo abgebauten Mineralien (Diamanten, Gold, Coltan, Kobalt, Mangan, Kupfer, Blei, Uran, Zink, Zinn) wären keine Smart-Phone- und keine Raumfahrt-Technologie möglich, die jedoch andere reich macht. Dass er von den Sternen und Galaxien schwärmt und die Erde viel zu klein findet, gehört wie der Zustand der Trunkenheit, den er so liebt, zu seinem Bedürfnis nach high sein. Tabu, seine „Hoheit“, hat ein Zimmer im ersten Stock, von dessen vergittertem Balkon er ringsherum die Ebenerdigen überblickt wie von einem Hochsitz. Er möchte sich aus dem Überlebensmodus erheben, er will raus, er sucht die Schwerelosigkeit. Die Levitation liefern vorerst Alkohol, Musik, Poesie und die sexuelle Anziehungskraft seiner Nachtbekanntschaften, die Gegenmittel zur Schwerkraft sind (und aber auch deren Verstärkung), viel lieber würde er hoch hinaus.
Félicités Ressource ist die Nacht, ihr imaginärer Fluchtpunkt die Wasser- und Pflanzenwelt, ihre Technik die Teleportation. Sie bewegt sich horizontal, quer durch die Stadt und von Dimension zu Dimension. Sie geht ins Wasser, jedoch nicht (wie Frauen in europäischen Geschichten) um zu sterben, sondern um bei sich zu sein. In ihrer Wald-Vision kommen Pflanzliches und Organisches
zur Geltung und erinnern an die Existenz eines ausgebeuteten, bedrohten, wenn nicht längst zerstörten Ökosystems. Félicités Erschöpfung ist eine Allegorie auf die erschöpften Ressourcen. Als Kind wäre sie fast gestorben, damals hieß sie noch Kipanga, das Glück über ihr Überleben hat ihr einen neuen Namen eingebracht. Sie ist eine fiktive Figur, die für die Dauer des Films einer echten Band, den Kasaï Allstars, beitritt. Mit der Mitgliedschaft erhält Félicité auch eine Familie (die Sängerin der Kasaï Allstars, Mua-Mbuyi, spielt ihre Tante) und eine kulturelle Herkunft (der Provinz Kasaï), und sie erbt damit auch eine komplizierte Geschichte. In „Félicité“ materialisiert sich dieses Erbe, das gleichzeitig erst durch sie generiert wird.
„Félicité“ verkörpert die Ankunft der Musik aus dem Kasaï in der Metropole, Tabu die urbane Musik Kinshasas, Lingala Rumba(3,) die er ständig zitiert. Die Verbindung zwischen der einst totgeglaubten aber heute ganz lebendigen Kipanga/Félicité aus der Provinz und Tabu, dem Schwerenöter aus der Hauptstadt, wird keine harmonisch romantische Symbiose, sondern allenfalls ein libertäres Gespann, das Vergnügen daran findet, den Powerplay auf Zentrum und Peripherie, Mann und Frau über die Musik zu verhandeln. Spürbar wird der Reiz an einem noch nicht ganz, wohl aber möglichen anderen Liebes-Verhältnis zueinander.

Der Regisseur Alain Gomis

Der 1972 in Frankreich in einer senegalesisch/guinea-bissauischen Familie geborene Regisseur studierte Kunstgeschichte und Film an der Sorbonne in Paris. Seine Filme bieten alternative Sichtweisen auf den afrikanischen Kontinent zu den Mainstream-Medienbildern und Krisendiskursen. Seine Film-Charaktere sind gezwungen sich im rassifizierten Umfeld mit ihrer schwarzen Identität zu beschäftigen und werden empfindliche Gradmesser der Beziehungen zwischen dem Westen und Süden, aber auch zwischen geopolitischen Lagern und ökonomischen Interessen.
Nach ersten Videos und Kurzfilmen, darunter „Tourbillon“ (1999) und „Petite Lumière“ (2002) drehte Alain Gomis seinen ersten, in Locarno mit dem Silbernen Leoparden ausgezeichneten Spielfilm L’Afrance“ (2002). Der Film zeichnet das Portrait eines Migranten, der sich entscheiden muss, in Paris aber ohne gültige Papiere zu bleiben, oder nach Senegal zurückkehren. Sein Spielfilm „Andalucia“ (2008) setzt die Beschäftigung mit schwarzer Identität fort, er wurde für das Festival Venice Days nominiert. „Tey/Aujoud’hui“ (2012), der im Wettbewerb der 62. Berlinale lief und als senegalesischer Beitrag für den besten fremdsprachigen Film für den Oscar nominiert wurde, setzt sich mit Endlichkeit und Tod auseinander und markiert vorerst das Ende des romantischen schwarz-diasporischen Identitätsdiskurses, mit dem sich Gomis seit Beginn seines Filmschaffens beschäftigt hatte. Mit „Félicité“ beginnt eine neue Phase, die die Quellen der afrikanischen Lebenskräfte aufgreift undzu freieren Narrativen verarbeitet. „Félicité“ ist damit auch sein erster Film mit einer weiblichen Hauptfigur. Der Film erhielt 2017 den Silbernen Bären der 67. Berlinale und den Etalon du Yenenga, die höchste Auszeichnung des FESPACO in Ouagadougou. 2018 erhält Alain Gomis außerdem den Geneviève McMillan-Reba Stewart Fellowship in Distinguished Filmmaking des Harvard Film Archive in Zusammenarbeit mit dem Film Study Center, Harvard University. Den Film widmet Alain Gomis dem burkinischen Filmemacher Adama Sallé (1981-2014) und dem kongolesischen Fotografen, Maler und Produzenten Kiripi Katembo (1979-2015). Beide starben an Krankheiten, die rechtzeitig erkannt und bei guter Medikamentierung nicht tödlich verlaufen.

Hintergrundinformationen

Von der Musik der Gegenwart zur Geschichte
„Félicités“ Erzähllogik entwickelt sich aus dem geopolitischen Knotenpunkt: Kinshasa ist das Epizentrum der kongolesischen Rumba oder Rumba Lingala. Der Kulturwissenschaftler Manthia Diawara hielt fest, Kinshasas Kultur würde von mehr als 200 Bands bestimmt, die jede Nacht spielten (4). Kinshasa ist wohl nicht nur die Hauptstadt eines der bevölkerungsreichsten und flächenmäßig größten Länder des afrikanischen Kontinents, sie feiert Musik als ihr Leitmedium, dessen Spur sich in kongolesischen Filmen bis zu „Félicité“ durchzieht(5). Musik ist viel mehr als nur Entertainment. Sie ist in den Worten des Literaturnobelpreisträgers Wole Soyinka Quelle der Regeneration und Ort des kulturellen Willens (6). Die Musik des Kasaï Allstars Orchesters in „Félicité“ entspringt indes nicht der Rumba Lingala-Linie, sondern ist, wie der Name ankündigt, musikalisch in der Provinz verortet. The Kasaï Allstars (7) verknüpft eine Vielfalt musikalischer Traditionen. Das Kollektiv, das sich in Kinshasa durch die Initiative des belgischen Free-Jazz und Electro- Musikers und Produzenten Vincent Kenis8 2008 zusammengefunden hat, versammelt Musiker*innen aus mehreren Bands (Masanka Sankayi, Basokin und anderen), die alle aus der südöstlichen Provinz Kasaï und aus sehr unterschiedlichen, mitunter verfeindeten musikalischen Traditionen kommen, zu einer „Super-Band“(9). Die Band ist eine flexible Formation, die mehrere Platten und CDs herausbrachte (10).

Politischer Hintergrund
Mit dem Entstehen des Kolonialreichs Belgisch-Kongo (1908) wurden Territorien und Grenzen gewaltsam neu bestimmt; auch noch zum Zeitpunkt der Erlangung der Unabhängigkeit (1960/61) wollte Belgien der Rohstoffe wegen von der Abspaltung Süd-Kasaïs profitieren und unterstützte mit belgischen Streitkräften die Sezession gegen die kongolesische Zentralregierung des damaligen ersten Premierministers des unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba (1925-1961), dessen Ermordung bis heute Rätsel aufgibt. Das Gebiet der Provinz Kasaï (flächenmäßig fast zwei Mal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland) wurde nach der Unabhängigkeitserklärung der DR Kongo (unter der Präsidentschaft von Mobutu Sese Seko) immer wieder neu gespalten und zusammengelegt, ein Spielball der wechselnden politischen Akteure; es gehörte zeitweise zu verschiedenen Provinzen, dem Kasaï-Central, Kasaï-Oriental, Lomami und Sankuru.

Vorschläge für das Filmgespräch

Anknüpfungspunkte des Films für den Unterricht bieten sich im Rahmen der Fächer Politik/Sozialkunde, Ethik/Religion, vor allem aber für Kunst, Musik und Medienerziehung. Dabei verbietet es sich, die Vorführung des Filmes zu unterbrechen, d.h. er ist eher für den Projektunterricht, für die außerschulische und für den Einsatz in der Erwachsenenbildung geeignet.
Die im Folgenden genannten Anregungen oder kontextualisierten Fragen sollen helfen, unterschiedliche thematische Zugänge zum Film zu eröffnen. Sie verstehen sich als Anregungen – mehr nicht!

  • Félicité lebt in einem Land ohne Krankenversicherung. Wer besorgt das Verbandmaterial, die Medikamente, Essen und Trinken? Das Bett? Was genau kann sich Félicité leisten und was will sie für ihren Sohn leisten? Auch in Deutschlandwerden gerade in Krankenhäusern Kinderwagen, Geldbörsen und Wertsachen gestohlen; Patient*innen sind hier schutzlos und Besucher*innen abgelenkt. Bringen sie diese Dinge zusammen.
  • Zeichnen Sie ein ökonomisches Panorama der Stadt Kinshasa: die Sichtbarkeit und der Umgang mit Geld der kleinen Leute, der Wohlhabenden und welche Architekturen und Transportmittel damit zusammenhängen – die Geldbündel im Kleiderschrank, der Schalter im Krankenhaus usw. Was erfahren wir in diesem Zusammenhang über Leute, die Félicité um Geld bittet und was über die Bar und ihre Gäste?
  • Der Film „Félicité“ ist eine Fiktion, spielt in einem realen Setting (wie z.B. auch die Tatort-Serie im deutschen Fernsehen). Versuchen Sie zu unterscheiden, was im Film „echt“ (in Wirklichkeit existiert) ist, und was „erfunden“ (inszeniert) wurde. Prüfen Sie den Nachspann dazu. Überlegen Sie entlang von Figuren und Szenen und halten Sie solche schillernden Momente fest, in der Wirklichkeit und Fiktion nicht unterscheidbar sind.
  • Nehmen Sie sich die Geschichte der Kühlschrank-Reparatur vor. Was hat es mit dem Reparieren des Geräts auf sich, warum dauert das so lange? Was findet gleichzeitig im Raum zwischen Félicité, Samo und Tabu statt, was wird da „repariert“?
  • Im Dienstleistungssektor spricht man von humanen Ressourcen; im Film kommt eine Vielfalt anderer Ressourcen zum Tragen, mineralische, natürliche, ökonomische, aber auch praktische und kulturelle Ressourcen. Erörtern Sie die politischen Dimensionen des Begriffs entlang des Films.
  • „Félicité“ ist ein Film, über die Kraft der Musik und den Wunsch, sich vom anstrengenden Alltag zu erholen. Welche Arten von Musik kommen im Film zusammen? Was passiert mit den Menschen, die die Musik machen und die die Musik hören? Was lösen die Musiken bei Ihnen aus? Diskutieren Sie, woher diese Musiken kommen und wie sie im Film eingesetzt werden.
  • Die Nacht und die gespenstische, traumartige oder auch transzendente Wirkung der Dunkelheit spielt in der Geschichte und für die Ästhetik des Films eine wesentliche Rolle. Durch das Kunstlicht (insbesondere Neonröhren) und die technische Begrenztheit der Kameras und Optiken wirken nächtlich gefilmte Bilder oft unnatürlich und sogar surreal. Sammeln Sie in “Félicité“ Dunkelheitseindrücke und versuchen Sie, ihnen Orte und Personen zuzuordnen.
  • Was machen die Menschen nachts in Kinshasa (was machen Menschen nachts in deutschen Städten oder auf dem Land)? Was bedeutet tiefe Dunkelheit in den verschiedenen Kulturkreisen Ihrer Zuschauer*innen-Herkunft und was könnte Dunkelheit an einem Ort wie der Demokratischen Republik Kongo konkret, allegorisch und symbolisch bedeuten?

Literaturhinweise

  • Tom Burgis: Der Fluch des Reichtums. Warlords, Konzerne, Schmuggler und die Plünderung Afrikas, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018.
  • Albert Kalonji Ditunga Mulopwe: Congo 1960. La sécession du Sud-Kasaï, lavérité du Mulopwe, Paris: L‘Harmattan 2005
  • David van Reybrouk: Kongo. Eine Geschichte, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014.
  • Ludo de Witte: Regierungsauftrag: Mord. Der Tod Lumumbas und die Kongo-Krise, Leipzig 2001

Filmhinweise

  • Lumumba
    Raoul Peck; Kongo, Haiti, F, D 2000, Spielfilm, 112 Min., OF m dt. UT
  • Petite Lumière – Kleine Forscherin
    Alain Gomis, Senegal, F 2002, Kurzspielfilm, 15 Min., OF m dt. UT
  • Der Preis der Schulden – Die neue Abhängigkeit Afrikas (Le salaire de la dette)
    Jean-Pierre Carlon, Mali, Kongo, Frankreich 2010, Dokumentarfilm, 30 Min., OF m dt. UT

Bezug aller Filme: www.ezef.de

(1) Sie erinnert an Alain Gomis’ frühen Kurzfilm „Petite Lumière“, in der ein kleines schlaues Mädchen hinter das Geheimnis der Kühlschrank-Beleuchtung kommt.

(2) Vgl. https://www.theguardian.com/music/2013/may/09/scratch-orchestra-of-kinshasa-congo;
Die Site des Orchesters unter der Leitung von Armand Diangienda): http://www.oskimbangu.org.

(3) Vgl. Tabu Ley Rochereau, Franco T.P. OK Jazz, Papa Wemba, Werasson und andere. Siehe auch Carsten Höller: »Fara Fara« – a Film Not Made, Berlin: Humboldt Books 2001

(4) Vgl. Manthia Diawara, African Cinema, Politics and Culture, Bloomington 1992.

(5) Vgl. Kin Kiesse (Mweeze Ngangura, 1982), La vie est belle (Mweeze Ngangura, 1987) über Viva Riva (Djo Mungo, 2012), Kinshasa Kids (Marc-Henri Wajnberg (2012)

(6) Vgl. Chimurenga Chronic, 2017, Sonderband “Who Killed Kabila”, Kap. 6, “Music As Power”, S. 57.

(7) Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Kasai_Allstars.

(8) Experimentarmusiker der Band Aksak Maboul und Honeymoon Killers, Produzent der Zap Mamas und Konono No. 1 und Herausgeber der Congotronics Serie bei Crammed Discs, Komponist der Filmmusik von One. Two. Three. von Vincent Meessen (2015) über die Spuren der kongolesischen Situationisten M’Belolo Ya M’Piku.

(9) Vgl. http://felicite-lefilm.com/kasai-allstars/.

(10) In the 7th moon, the chief turned into a swimming fish and ate the head of his enemy by magic, Kasaï Allstars, Crammed Discs, Congotronics #3, 2008; Beware the Fetish, Kasaï Allstars, Crammed Discs, 2014; vgl. außerdem Around Félicité, DoppelCD, Crammed/Indigo 2017 mit OST, Kasaï Allstars Kinshasa Symphony Orchestra unter der Leitung von Heritier Mayimbi und Johnny Balongi Nsanga (Chor).

Mai 2018
Autorin: Marie-Hélène Gutberlet
Redaktion: Bernd Wolpert