Teaser
Ferien in der Heimat

Vacances au pays
Dokumentarfilm von Jean-Marie Teno
Kamerun, Frankreich, Deutschland 2000, 75 Min.

Inhalt
Der Titel des Films „Vacances au pays“ hat eine doppelte Bedeutung: Er meint zum einen „Ferien in der Heimat“, was für den seit 1978 in Frankreich lebenden Regisseur Jean-Marie Teno bedeutet: Rückkehr in sein Heimatland Kamerun. Zum anderen verweist der Regisseur damit auf die Ferien, die er als Kind in seiner Heimatregion im Süden Kameruns verbracht hat. Um beides geht es in diesem Dokumentarfilm. Aus der Distanz des Heimkehrers spürt Teno mit seiner Kamera (Fehl)-Entwicklungen in Kamerun auf und vergleicht die heutige soziale und politische Lage mit persönlichen Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend in den sechziger Jahren, als - kurz nach der Unabhängigkeit - in seinem Land, wie überall in Afrika, eine hoffnungsvolle Aufbruchstimmung herrschte.

Er betrachte die Vergangenheit, um die Gegenwart besser verstehen und damit einschätzen zu können, welche Zukunft bevorstehe, erklärte Teno zum Ansatz dieses Filmes und seiner cineastischen Arbeit insgesamt. Während er in diesem Sinne bei seinen „Ferien in der Heimat“ Spuren der eigenen Vergangenheit verfolgt, trifft er auf desillusionierende Bilder über die gegenwärtige Situation Kameruns und verbindet beide Ebenen in seinem poetischen Off-Kommentar zu einer kritischen Reflexion über mögliche zukünftige Entwicklungen.
Ausgangspunkt seiner filmischen Reise durch Kamerun ist die Hauptstadt Yaoundé, die knapp 200 Kilometer von der Atlantikküste entfernt im Landesinnern liegt. 1965 kam Jean-Marie Teno - damals elf Jahre alt - mit seinen Eltern aus dem Süden des Landes hierher, um ein Gymnasium zu besuchen. Auch nach der Unabhängigkeit trug diese Eliteschule noch immer - wie schon in der Kolonialzeit - den Namen des französischen Generals Leclerc und auch die Unterrichtsinhalte blieben weiterhin „an Europa orientiert“. Europäische Vorstellungen von „Modernität“ und „Entwicklung“ wurden in dieser Schule als Ideale für Afrika angepriesen. Teno stellt sich rückblickend die Frage, was er „von dieser Erziehung halten soll, die aus uns neue Menschen machen wollte... All die Direktoren und Minister, die hier die Schulbank gedrückt haben, sind auf und davon. Und jetzt sieht unsere Schule ziemlich trist aus.“ Das alte Kolonialgebäude steht heute leer, eine riesige Mauer verbirgt seinen Verfall und auch Teno bleibt mit seiner Kamera außen vor. Denn niemand in den zuständigen Behörden mag ihm die Genehmigung erteilen, „die Überreste des Ortes zu filmen, der lange das angesehenste Gymnasium des Landes war.“
Als Teno mit der Kamera noch einmal dem dreistündigen Fußmarsch folgt, den er als Jugendlicher zu diesem Gymnasium zurücklegen musste, stößt er auf viele weitere Indizien für die Fragwürdigkeit der von Europa übernommenen Fortschrittsgläubigkeit der sechziger Jahre, so zum Beispiel auf Hochhäuser wie „in Manhattan“, erbaut von der Firma Shell und der Regierung, die damals „als modern“ galten, aber seit Jahren leer stehen. Und auf Autos, „überall Autos, ... gekauft, ausgeschlachtet und weiterverkauft“ - ein ganzes ehemals lebendiges Stadtviertel, in dem es früher Lebensmittelläden gab, „die uns zum Frühstück Margarinebrote verkauften, die wir in heiße Milch - Made in Holland - tunkten“, ist jetzt „ein Schrottplatz“. Heute gleicht Yaoundé „Manhattan nicht mehr als damals“. Ihr Wasser müssen die Bewohner der Armutsviertel noch immer aus dem öffentlichen Brunnen holen, „der Zeuge unserer ersten Küsse“ war. Mit bitterer Ironie verweist Teno darauf, dass das frühere Regierungsversprechen „Fließendes Wasser für alle im Jahr 2000“ inzwischen umgeändert werden müsse in „Fließendes Wasser für alle im Jahr 3000“.
Auch am Busbahnhof hat sich kaum etwas verändert. Noch immer - so erzählt ein Transportunternehmer - „herrscht hier Chaos“ und die Holzsitze in den staubigen Bussen erinnern den Filmemacher „an die mühsamen Reisen“ seiner Kindheit.
Wie früher tritt Teno von hier aus eine beschwerliche Reise gen Westen an. Sein Ziel ist das Dorf seiner Großeltern, in dem er als Heranwachsender seine Ferien verbrachte und das in den Augen der Städter damals als rückständig und damit zum Untergang verurteilt galt.
Schon am Stadtrand stoppen korrupte Beamte alle Fahrzeuge, um Mautgebühren zu erheben „als handele es sich um eine Autobahn“. Teno filmt, wie der Fahrer um den Preis der Weiterfahrt feilschen muss. „Noch ärgerlicher sind die inoffiziellen Stopps, willkürliche Sperren uniformierter, oft auch bewaffneter Männer, deren Häufigkeit im Verlauf des Monats variiert. Es sind wenige, wenn gerade Lohnauszahlung war, und zum Zahltag hin werden es immer mehr.“
Immerhin: die Straße nach Westen ist inzwischen asphaltiert, wenn auch gesäumt von hässlichen, hastig aufgebauten Dörfern, deren Bewohner von dem leben müssen, was sie an die Reisenden verkaufen können. Entsprechend hektisch ist das Gedränge der Straßenhändler rund um die Busse, wo immer sie einen Zwischenstopp einlegen.

Früher gab es nur eine Fähre über den Sanaga-Fluss, jetzt gibt es in dem Städtchen Ebebda eine Brücke. Fortschritt?
Teno stattet hier mit seiner Kamera dem Unterpräfekten der Region, Jean-Jacques Biya, einen Besuch ab. Vor einem Foto des diktatorisch regierenden Staatspräsidenten Paul Biya entblößt sich dieser Provinzpolitiker mit seinen hohlen Phrasen selbst. Durch den Bau der Brücke, so erzählt er stolz, habe Ebebda eine „geostrategischen Lage“ erhalten und sehe deshalb auch fast schon aus „wie eine große Stadt“. Tenos Bilder von abgeblätterten Häusern und ärmlichen Straßen dokumentieren das Gegenteil. Nicht einmal das Wichtigste, fließendes, sauberes Trinkwasser für die Bevölkerung, gibt es in Ebebda. Dafür ist das drei Kilometer entfernte Dorf Nachtigal, in dem früher die Fähre über den Fluss ablegte und das Teno aus seiner Kindheit noch als bunten, lebendigen Marktflecken in Erinnerung hat, heute verfallen und verlassen.
Der „erste Kapitän der Fähre“ sagt vor der Kamera: „Damals war das Leben hier sehr viel besser. Es gab Verkäufer, die Yams, Süßkartoffeln und Orangen anboten, fast alles, was es an Essbarem gibt... Nun leben wir wirklich erbärmlich.“
Hinter der Brücke weicht der dichte Regenwald langsam einer Savannenlandschaft und hier nutzen die Bauern die Ränder der asphaltierten Straße zum Trocknen ihrer Kakaobohnen. Als die Straße auf die westliche Hochebene ansteigt, erinnert sich Teno an die „diffuse Angst“, die er in dieser Gegend verspürte, weil „wir Kinder mit ansehen mussten, wie unsere Eltern von bewaffneten Männern durchsucht wurden“. Die Männer waren Kolonialsoldaten und suchten nach angeblichen „Buschrebellen“. „In Wirklichkeit waren das Patrioten, die dafür kämpften, dieses Land vom Kolonialismus zu befreien.“
Endstation der Busse aus Yaoundé ist die Stadt Bafoussam, in der 300.000 bis 400.000 Menschen leben, von denen die meisten - „wie meine Mutter“ - nach wie vor Bauern sind, deren Felder bis zu 40 Kilometer weit entfernt liegen. Teno erinnert sich an die langen Wege während der Maisernte und zeigt, dass die Menschen, 30 Jahre später, ihren Mais „noch immer mit der Hand“ anbauen. „Wir können weiter so produzieren wie vor 100 Jahren, aber mit Fernsehern und elsässischem Bier sind wir doch modern, nicht wahr?“
Das Dorf Mbieng, der Ferienort Tenos in seiner Kindheit, liegt 10 Kilometer außerhalb der Stadt. An seiner Schule in der Hauptstadt hatte Teno gelernt, dass Dörfer wie dieses rückständig und damit zum Untergang verdammt seien. Trotzdem behielt Teno positive Erinnerungen an das einfache Leben in diesem Dorf, in dem noch die traditionelle Kultur gepflegt wurde, mit ihren Tänzen und Masken und mit der Initiation der Jungen in das Wissen der Älteren. Selbst wenn damals die meisten Jugendlichen zur Ausbildung in die Städte zogen, so kehrten sie doch alle mindestens einmal im Jahr in ihr Dorf zurück: an einem Wochenende im August, an dem eine große Dorfversammlung mit Fußballturnier und anschließendem Fest stattfand. Im Film heißt es dazu: „Anfang der siebziger Jahre haben die Jungen das Treffen ins Leben gerufen, einen Fortschrittskongress, der die Generationen zusammenbringen sowie Raum für Diskussionen schaffen sollte... ein Freiraum, in dem die Probleme des Dorfes besprochen wurden und jeder reden durfte, unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Stellung... Eine seltene Erfahrung von direkter Demokratie in einem Einparteienstaat.“ Damals wurden bei diesen Treffen auch Gemeinschaftsarbeiten wie die Ausbesserung der Straße zum Gesundheitszentrum oder das Ausheben eines Bewässerungsgrabens beschlossen und umgesetzt.
Auch als Teno mit der Kamera in das Dorf zurückkehrt, steht dieser Kongress an. Doch heute kostet schon der Zutritt zum Fest Eintritt und an Verkaufsbuden und Bierständen lärmen Betrunkene. Bei aufdringlich moderierten Wettbewerben sind Schlüsselanhänger und Taschen „von Coca-Cola“, T-Shirts und „Panzani-Nudeln“ zu gewinnen und die Werbesprüche von „Sponsoren“ dröhnen aus den Lautsprechern. Nur einige wenige beklagen vor der Kamera die Kommerzialisierung ihres Dorfkongresses und erinnern mit Wehmut daran, dass er früher dazu gedient habe, Projekte im Dorf zu verwirklichen, „ohne auf Hilfe von der Regierung zu warten“. Heute - das zeigt der Film - ist das Dorftreffen zu einem „Bierfest“ verkommen. Selbst die Fußballspieler wollen nicht gegeneinander antreten, weil kein Preisgeld ausgesetzt ist. Als das Spiel letztlich doch noch angepfiffen wird, ist der Ball kaum zu sehen. Das Gras ist „stellenweise über einen Meter hoch“, weil der Platz nicht wie früher zuvor in Gemeinschaftsarbeit gemäht wurde. Dafür, so kommentiert ein Dorfbewohner verbittert, gelte der Kongress jetzt als „modern“ und „westlich“.
Damit enden die „Ferien in der Heimat“, wie der Regisseur resümiert, an „einem toten Punkt: Ich bin nicht in mein Dorf zurückgekehrt, um der Vergangenheit nachzutrauern, sondern um an die Niederlagen zu erinnern, die wir gestern und vorgestern erlitten haben, und die unsere Zukunft überschatten.“ Am Schluss des Film steht die Forderung, dass an die Stelle dieser fragwürdigen „Modernität“ endlich ein Konzept treten müsse, „das die Lebensbedingungen der Menschen in Afrika verbessert“. Auch eineinhalb Jahrzehnte nach Abschluss der Dreharbeiten zu diesem Film, hat Tenos Forderung nach einem selbst bestimmten Weg zu einem anderen, auf afrikanischen Erfahrungen und Werten basierenden Entwicklungsweg in seinem nach wie vor von Armut und Korruption geprägten Heimatland Kamerun nichts von seiner Aktualität verloren.

 

Die Filme von Jean-Marie Teno
Jean-Marie Teno wurde am 14. Mai 1954 in Famleng, im Südwesten Kameruns, geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in der Hauptstadt Yaoundé emigrierte er 1978 nach Frankreich und studierte in Valenciennes audiovisuelle Kommunikation. Danach lebte er in Paris, wo er mit „Les Films du Raphia“ eine eigene Firma für die Produktion und den Vertrieb von Filmen und Videos gründete, später in Südfrankreich. Neben der Arbeit an seinen eigenen Filmen war er auch als Cutter für das französische Fernsehen (u.a. für France 3) und als Filmkritiker tätig.
1999 gehörte Teno zu den Gründern der „Guilde africain“, einem Zusammenschluss afrikanischer FilmemacherInnen in Paris, engagierte sich für die (Wieder-)Belebung und Aufwertung der Dokumentarfilmprogramme beim panafrikanischen Filmfestival FESPACO in Ouagadougou und war als „Vertreter Afrikas“ zu Gast bei der Documenta 11 im Jahre 2002.
Teno arbeitete auch als Dozent an verschiedenen Universitäten in den USA und wurde als „artist in residence“ zunächst an die Universität von Kalifornien in Berkeley eingeladen, von 2007 bis 2008 auch an das Amherst College in Massachusetts.
1999 gehörte Teno zu den Gründern der „Guilde africain“, einem Zusammenschluss afrikanischer FilmemacherInnen in Paris.
Mit „Ferien in der Heimat“ setzt Jean-Marie Teno die Auseinandersetzung mit Themen fort, die auch im Mittelpunkt seiner früheren Filmen standen. Dazu gehört die Kritik an neo-kolonialen Strukturen und der anhaltenden Abhängigkeit Afrikas von Europa, sowie an korrupten afrikanischen Machthabern, die - an westlichen Schulen ausgebildet - fragwürdigen Vorstellungen von „Entwicklung“ und „Fortschritt“ folgen und damit letztlich den Kontinent zum Ausverkauf freigeben.
Nach Kurzfilmen u.a. über jugendliche Migranten in Europa („Schubbah“, 1983), die Rückkehr in seinen Geburtsort zum Begräbnis seines Vaters („Hommage“, 1984) und über einen Taxifahrer in Yaoundé („Fievre Jaune - Taximan“, 1985) thematisierte Teno schon in seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm „L’eau de Misére - Bikutsi Water Blues“ (1988) politische Fehlentwicklungen in Kamerun am Beispiel der mangelhaften Trinkwasserversorgung auf dem Land, wobei in dieser Collage auch die Musik aus Südkamerun um das Thema „Wasser“ kreist. In „Afrique, je te plumerai“ - „Die Macht der Wörter“ (1992) argumentiert Teno, dass eine Hauptursache für die Misére seines Landes die „Kolonialisierung der Köpfe“ sei. So dokumentiert er in diesem Film, dass Schüler in Kamerun noch immer mit Hilfe europäischer Bücher und Lehrmittel ausgebildet werden. Sie lernen deshalb eher, wo der Rhein und die Rhône fließen als der Nil und der Niger. Teno zeigt, dass die Elite seines Landes diese westlich geprägte Ausbildung durchlaufen hat und Kamerun nicht zuletzt deshalb bis heute wirtschaftlich und kulturell von Europa abhängig ist. Mit diesem vielfach preisgekrönten Film erlangte Jean-Marie Teno internationale Anerkennung als einer der wichtigsten Dokumentaristen Afrikas.

Mit „La Tête dans les Nuages“ (1994) folgte ein filmisches Essay über den Müll, die Stadt und die korrupte Bürokratie. Teno dokumentiert den Zusammenbruch der öffentlichen Verwaltung in der Hauptstadt Yaoundé, die - wie so vieles in Kamerun - nach europäischem Muster aufgebaut wurde und gerade deshalb im afrikanischen Kontext versagt. In seinem ersten und bislang einzigen Spielfilm „Clando“ (1996) thematisiert Teno die Repression, mit der die korrumpierte Führungsschicht Kameruns ihre Macht zu sichern trachtet und zeigt zugleich, dass Flucht und Migration nicht zur Lösung der politischen Probleme in Kamerun beitragen. Die Hauptfigur in dem Spielfilm „Clando“ ist ein Computerfachmann namens Sobgui. Weil dieser oppositionellen Studenten beim Kopieren ihrer Flugblätter hilft, wird er ins Gefängnis geworfen und gefoltert. Nach seiner Entlassung ist seine Existenz zerstört. Er sieht sich gezwungen zu fliehen und strandet schließlich Köln, das in diesem Film stellvertretend für die enttäuschten Hoffnungen afrikanischer Flüchtlinge auf ein besseres Leben im reichen Europa steht. So entscheidet sich Sobgui in der Schlussszene, nach Kamerun zurückzukehren, um dort für eine Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen.

Jean-Marie Teno kämpft für diese Ziele mit seiner Kamera.
Wie viele afrikanische Filmemacher lebt er zwar überwiegend in Europa (Frankreich), weil er nur dort die finanziellen Mittel und technischen Voraussetzungen zur Verwirklichung seiner Filmprojekte findet. Aber Teno kehrt immer wieder in sein Land zurück, um mit seinen cineastischen Mitteln gesellschaftliche Missstände anzuprangern und politische Veränderungen einzufordern. In „Ferien in der Heimat“ (2000) formuliert er seine fundamentale Kritik an den von Europa übernommen bzw. aufgezwungenen Konzepten von „Entwicklung“, „Fortschritt“ und „Moderne“ auf besonders sensible Weise. Sein dokumentarisches Road-Movie ist keine pauschale Generalabrechnung mit dem europäischen (Kultur-)Imperialismus, sondern zeigt vielmehr an sehr genau beobachteten Details, welche absurden und zerstörerischen Folgen die unkritische Übernahme westlicher Konsumvorstellungen und die Missachtung der eigenen Kultur in einem Land wie Kamerun haben. Dies dokumentieren z.B. Bilder von Wellblechbaracken aus Tenos Heimatregion, die wie hässliche Fremdkörper in der tropischen Landschaft stehen, während die traditionellen Hütten mit ihren Grasdächern, die - wie der Filmemacher aus dem Off erzählt - früher hier standen, der Umwelt angepasst waren.
Die bizarren Auswüchse der importierten „Moderne“ offenbaren auch die Protagonisten, die Teno vor die Kamera holt. In diesem Film stehen dafür beispielhaft der stolze Bürokrat aus der Provinzstadt, der sich in seinem eitlen Gebaren und mit seinen Phrasen selbst entlarvt, und Dorfbewohner, die inmitten des zum kommerziellen Rummel verkommenen „Fortschrittskongresses“ über ihre enttäuschten Hoffnungen von einem unabhängigen, prosperierenden und auf den eigenen Traditionen basierenden Afrika reden. Hinzu kommt Tenos Kommentar aus dem Off, der nicht bloß Fakten und Zusammenhänge nennt, sondern in Form und Inhalt - wie in all seinen Filmen - neben den Bildern und Originaltönen eine dritte Ebene der Reflexion bietet. So erzählt Teno in „Ferien in der Heimat“ zu Bildern von seiner Reise durch das Land: „Der Respekt für die Älteren ist ein Grundwert unserer Kultur. Doch statt uns einfach neues Wissen beizubringen, hat uns die Schule dazu gebracht, unsere Kultur zu verachten. Aber wie soll man sich selber achten, wenn man seine Großeltern verachtet. Wie soll man andere achten ohne Selbstachtung?“
Der Verweis auf die eigene Geschichte und Kultur und auf positive Traditionen von Gemeinschaftssinn und Solidarität in Afrika gerät bei Teno jedoch nie zur Verklärung der Vergangenheit. Teno hält auch mit Kritik an patriarchalischen und hierarchischen Strukturen aus vorkolonialen Zeiten nicht zurück, zumal wenn diese bis heute nachwirken. So zeigte er schon in seinem Kurzspielfilm „La Gifle et la Caresse“ (1987) unter anderem afrikanische Formen des Machismo. Und bei der Arbeit an seinem Film „Ferien in der Heimat“ entstand parallel dazu noch die Dokumentation „Chef!“ (1999).
Teno beschreibt deren Entstehungsgeschichte wie folgt: „Am Wochenende des 20. Dezember 1997 reiste ich in mein Heimatdorf, um dort der Inauguration eines Monuments zu Ehren eines unserer vergangenen Chefs beizuwohnen. Geplant hatte ich, einige Tage lang die Tänze zu filmen. Aber am Morgen des zweiten Tages der Festlichkeiten wurde ich zufällig Zeuge einer Szene von Lynchjustiz, in der ein 16 Jahre alter Junge fast zu Tode gekommen wäre, weil er ein Huhn und vier Küken geklaut hatte. Einige Stunden später kaufte ich einen Souvenirkalender und entdeckte in ihm die ‚Goldenen Regeln und Gesetze des Ehemannes in seinem Hause’ - eine Reihe ausgesprochen frauenfeindlicher ‚Artikel’, die die eheliche Gemeinschaft definieren. Diese Vorfälle wurden zum Ausgangspunkt einer Reflexion über Machtmissbrauch in Kamerun - Land der Chefs, Land der Ungleichheiten.“
Jean-Marie Teno, das zeigt auch dieses Zitat, geht es um die Überwindung aller Formen von Machtmissbrauch in Afrika, sowohl der von außen aufgezwungenen als auch von denen, die innerhalb der afrikanischen Gesellschaften – z.B. aufgrund von patriarchalen Verhältnissen - auszumachen sind.
Dafür stehen auch seine jüngeren Filme. Wie schon die Dokumentation „Chef“ so war auch der Film „Le Mariage d’Alex“ (2002) ein Zufallsprodukt. Gebeten, die Hochzeit seines Cousins Alex in seinem Heimatdorf zu filmen, realisierte Teno erst vor Ort, dass er Zeugte einer dramatischen Familienzeremonie wurde: Alex heiratete seine zweite Frau, worunter die erste, wie die spontan eingefangenen Bilder offenbaren, deutlich litt.
In „Das koloniale Missverständnis“ („Le malentendu colonial“, 2004) geht Teno einmal mehr den historischen Ursachen für die neokoloniale Abhängigkeit Afrikas von Europa nach. Ausgehend vom deutschen Völkermord an den Herrero und der späteren Entwicklung Namibias dokumentiert der Film, dass die christliche Evangelisierung ein wichtiges Instrument zur kolonialen Eroberung des Kontinents war. Teno zitiert dazu Jomo Kenyatta, den ersten Premierminister Kenias, mit den Worten: „Als die Missionare ankamen, besaßen die Afrikaner das Land und die Missionare die Bibel. Sie lehrten uns zu beten – mit geschlossenen Augen. Als wir diese wieder öffneten, besaßen sie das Land und uns blieb nur die Bibel.“
In „Lieux Saints“ (2009) thematisiert Teno das Hauptproblem afrikanischer Filmemacher, das darin besteht, dass ihre Produktionen in den wenigen verbliebenen Kinos des Kontinents kaum laufen. Schauplatz des Films ist St. Leon, ein einfacher Stadtteil zwischen der Kathedrale und der Moschee von Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos. Dort findet seit 1969 das weltbekannte panafrikanische Filmfestival FESPACO statt. Für die Bewohner von St. Leon spielt dies indes kaum eine Rolle, denn sie müssen jeden Tag um ihr Überleben kämpfen und darum, in einer menschenfeindlichen Umgebung ihre Würde zu bewahren. So wie die drei Protagonisten des Films: der Djembé-Spieler Jules Cesar, der auch Trommeln baut; Abbo, ein fünzigjähriger Techniker, der eines Tages beschloss, Poet zu werden und seitdem jeden Tag einen neuen Text mit Kreide auf ein Stahltor schreib; und Bouba, der einen Video-Club betreibt, der nicht nur als Viertel-Kino dient, sondern auch als Gebetsstätte, also im doppelten Sinne zu den „heiligen Stätten“ („Lieux saints“) der Stadt gehört. Aber selbst in diesem Video-Club in Ouagadougou sind afrikanische Filme – wie Teno zeigt – nur selten zu sehen, weil sie auch von den Video-Händlern der Stadt, die als Hauptstadt des afrikanischen Kinos gilt, kaum vertrieben werden. Denn sie sind teurer als US-amerikanische, europäische oder auch indische Bollywood-Filme auf DVD.

Mit „Une feulille dans le vent“ (2012), einem Portrait des Kameruner Oppositionellen Ernest Ouandié, der in Ghana im Exil eine Beziehung eingeht und dort eine Tochter zurück lässt, setzt Teno seine sehr persönlichen Rückblicke auf die Geschichte seines Landes fort.
Unter dem Arbeitstitel „Toutes voiles dehors“ geht Jean-Marie Teno im Jahr 2013 den Geheimnisse der Schleier nach, die Frauen im Niger tragen. Dabei ist der Plural im Titel („Voiles“) wichtig, da er all dessen Funktionen vom verführerischen Kleidungsstück bis zum politischen Statement nachgehen will. Als cineastische Reiseführerin hinter die Kulissen des Alltags von Niamey fungiert dabei die Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Antoinette Tidjani-Alou, die seit 20 Jahren im Niger lebt.
Tenos Filme basieren allesamt auf seiner zentralen Analyse, dass Gesellschaften, die sich ihrer eigenen Herkunft nicht bewusst sind und die nicht über eigene Bilder, Geschichte(n) und künstlerischen Ausdrucksformen verfügen können, keine selbstbestimmte Zukunft jenseits von Fremdbestimmung und traditionellen Hierarchien haben. Genau darin liegt die Bedeutung dieses mutigen Filmemachers - nicht nur für das afrikanische Kino, sondern für das Filmschaffen weltweit.
Dafür ist Teno auf internationalen Festivals von Berlin und Leipzig über Toronto, Yamagata und Rotterdam bis nach London und San Francisco mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Jean-Marie Teno zu seinen Filmen
„Der ganze Reichtum Europas wurde auf dem Rücken Afrikas angehäuft. Es ist höchste Zeit, dies anzuerkennen und diesen Prozess umzukehren. Europa muss den Preis für die rücksichtslose Ausbeutung unseres Kontinents zahlen, damit sich Afrika reorganisieren kann und seine Menschen endlich die Chance bekommen, ein vernünftiges Leben zu führen.“
„Es gibt Leute und auch Staaten, die behaupten, sie gäben viel Geld aus, um Kamerun und anderen afrikanischen Ländern zu helfen. Aber wenn man dann sieht, dass diese angebliche ‚Hilfe’ oft sehr gezielt bestimmten Wirtschaftssektoren zu Gute kommt, die vollständig in der Hand ausländischer Geschäftsleute sind, dann heißt das, dass dieses Geld aus Afrika auf direktem Weg nach Europa zurückfließt. Und dann sollen wir auch noch Schulden und Zinsen für diese Gelder zahlen, die nur eingesetzt wurden, um den ausländischen Unternehmen die Ausbeutung unseres Landes zu ermöglichen. Das ist wirklich lächerlich. Das ist nichts anderes als der Versuch, einen ganzen Kontinent über Generationen auszuhungern. Es hat einmal einer gesagt: Wir sollten eine große Mauer zwischen Europa und Afrika bauen und dann mal sehen, wie wir alleine zurechtkommen. Leute von außen, die behaupten, uns helfen zu wollen, kommen letztlich nur, um uns dabei zu helfen, uns selbst zu zerstören.“
„Als ich nach Kamerun kam, um mit den Arbeiten an dem Film „Afrique je te plumerai“ zu beginnen, war gerade eine Zeit vielfältigster politischer Bewegungen. Es gab einen Prozess gegen einen Journalisten, der verhaftet worden war, weil er in einem offenen Brief den Staatschef kritisiert hatte. Das heißt: Ich war sofort mitten drin in meinem Thema. Und ich konnte selbst die Gewalt des Staates gegen seine eigenen Menschen miterleben. Das hat mich so geschockt, dass ich beschloss, mich ganz darauf zu konzentrieren, zu analysieren, warum ein Staat in dem Maße Gewalt gegen seine eigenen Leute ausüben konnte. Und ich kam zu dem Schluss, dass die Gewalt der Armee, die Gewalt, die durch Zensur ausgeübt wird, und auch die Gewalt, die sich darin äußert, dass unserer eigenen Kultur jede Existenzberechtigung abgesprochen wird, angewendet wird, um ausländische Wirtschaftsinteressen zu sichern. Und diese Entwicklung begann schon vor Anfang dieses Jahrhunderts und setzt sich bis in unsere Tage fort. Deshalb kämpfen Menschen in Afrika dafür, endlich die Kontrolle über ihre Arbeitsbedingungen und über das, was in ihren Ländern passiert, selbst ausüben zu können.“
„Die Lösung für die Probleme beginnt in den Köpfen der Menschen. Deshalb begann ich darüber nachzudenken, was die Gedanken der Menschen prägt, die in Afrika leben. In meinem Film ‚Afrique, je te plumerai’ sind Kultur-Einrichtungen wie das Goethe-Institut, British Council oder auch das französische Kulturzentrum Beispiele für die bis heute bestehende koloniale Präsenz Europas in Afrika. Auch wenn ihre Veranstaltungen auf sozialem und kulturellem Gebiet sehr interessant sind, so kommt es doch darauf an, endlich mehr über unsere eigene Kultur zu erfahren und unsere eigene Geschichte kennen zu lernen.“ (Aus einem Interview des Autors mit Jean-Marie Teno, geführt 1993 beim panafrikanischen Filmfestival in Ouagadougou, Burkina Faso)
„Bei den Vorbereitungen zu meinem letzten Film bin ich auf ein sehr eindrucksvolles Beispiel für das Missverständnis von Moderne gestoßen: den Zusammenbruch des Bankensystems in Kamerun, das einfach aus der Kolonialzeit übernommen wurde. Das Ziel der kolonialen Banken war nie, die Wirtschaft vor Ort, in Kamerun selbst, zu fördern. Vielmehr halfen diese Banken den großen europäischen Unternehmen, so viele Reichtümer wie möglich aus unserem Land herauszuschaffen. Nach der Unabhängigkeit hat unsere Regierung zwar ihre eigenen Leute in die Aufsichtsräte dieser Banken entsandt. Aber diese Leute gehorchten stets ergeben der Regierung, und wenn diese Kredite aufnehmen wollte, wurden sie ihr gewährt, auch wenn klar war, dass die Gelder nie zurückgezahlt würden. Das Geld stammte natürlich von den kleinen Leuten, den einfachen Bankkunden, die bald mit leeren Händen dastanden. Da konnte jemand kommen und eine Million Francs bei einer Bank einzahlen und zwei Minuten später, wenn er 100.000 davon wieder abheben wollte, erklärten ihm die Kassierer der Bank, es sei kein Geld mehr da. Als Folge dieser Entwicklung erlebte bei uns das traditionelle Kreditsystem der sogenannten ‚Tantin’ einen enormen Aufschwung. Das heißt: die Leute legen privat Geld zusammen und entscheiden selbst darüber, wem sie damit für welches Projekt einen Kredit gewähren. Der wesentliche Unterschied ist, dass dieses Geld vor Ort, in unserem eigenen Land investiert wird. Seit die Gründung von Kooperativen in Kamerun wieder erlaubt ist, sind viele solcher Finanzkooperativen entstanden, die genau funktionieren wie die traditionelle ‚Tantin’. Die Regierung und einige Großkopferten spotten zwar darüber, dass die Kooperativen von Amateuren geführt würden. Aber der Landwirtschaftsminister hat inzwischen zugeben müssen, dass erst das traditionelle Kreditsystem der ‚Tantin’ die Wirtschaft in den Dörfern wieder ans Laufen gebracht hat. Selbst Staatsangestellte deponieren heute ihr Geld lieber bei diesen Kooperativen als bei den Banken. Und die Banken führen deshalb einen regelrechten Krieg gegen diese Initiativen von unten. Das heißt: Wir erleben hier zum ersten Mal, dass die Leute, weil es um ihr Geld geht, ein importiertes System wie das Bankwesen in Frage stellen und merken, dass sie mit ihren eigenen traditionellen Mitteln viel weiter kommen. Inzwischen vertreten selbst führende Ökonomen die Ansicht, dass es höchste Zeit ist, ein afrikanisches Wirtschaftssystem zu entwickeln, das unseren kulturellen Gewohnheiten und Traditionen entspricht und von den Menschen verstanden und akzeptiert wird. Das habe ich am Beispiel der ‚Tantin’ ja auch in meinem Spielfilm ‚Clando’ gezeigt.“ (Aus einem Interview des Autors mit Jean-Marie Teno, geführt 1997 in Paris)

„1992 hatte ich mich in dem Film ‚Afrique je te plumerai’ (‚Die Macht der Wörter’) mit meiner Schulzeit auseinandergesetzt, um herauszufinden, was von dieser Erziehung geblieben war, die aus uns Afrikanern fast ‚weiße’ Menschen machen sollte. Schleichend hatte sich mit dieser Erziehung in der Gesellschaft eine Hierarchie etabliert, in der ganz unten der Bauer stand, der oft arm und des Lesens und Schreibens unkundig war. Für manche ist ‚Bauer’ noch immer ein Schimpfwort. Dabei sind wir alle in Afrika südlich der Sahara Kinder, Enkel oder Urenkel von Bauern. Zwischen dem ‚Bauern’, der wir sind, und dem ‚Weißen’, der wir nie sein werden, steht dieser verschwommene, dehnbare und vieldeutige Begriff der Moderne, die den Bauern im Dorf mit Neid auf den Bauern blicken lässt, der in die Stadt gezogen ist - in eine dieser Städte, die wie grobe Abbilder von europäischen Städten anmuten. Indem sie die äußeren Zeichen der westlichen Welt übernommen und aufgewertet hat, hat sich die afrikanische Gesellschaft - auf ihrer Suche nach der ‚Moderne’ - immer tiefer in die Sackgasse manövriert, und hat dabei ihre Eliten Tag für Tag ein bisschen mehr von den Sorgen ihrer Mitbürger entfernt.“
„Meiner Ansicht nach stellt die Rückkehr in die Dörfer eine sowohl reelle als auch metaphorische Lösung für das heutige Afrika dar, das sich bei dem Wettlauf um eine Moderne von Prunk und Glanz in einer gesellschaftlichen und ökonomischen Sackgasse festgefahren hat. Diese Heimkehr würde es ermöglichen, neue Kenntnisse und Werkzeuge in das Dorf zu bringen und könnte auf lange Sicht die Einstellung der gesamten Gesellschaft gegenüber der ländlichen Welt verändern. Die Kluft zwischen Land und Stadt zu schließen - im Hinblick auf Infrastrukturen und auf die Entscheidungsebenen - diese Zielsetzung würde die afrikanischen Eliten vielleicht dazu zwingen, sich mehr damit auseinander zu setzen, was um sie herum geschieht. Durch eine Modernisierung der Landwirtschaft mit lokalen Mitteln würde sich auch das Bild vom Bauern verändern und die gesellschaftliche Hierarchie, die auf einem falschen Verständnis von Moderne beruht, in Frage gestellt.“ (Aus dem Exposé Jean-Marie Tenos zu seinem Film „Ferien in der Heimat“)

„Das digitale Zeitalter hat die Produktikon, Distribution und Präsentation von Bildern rund um die Welt grundlegend verändert. Schon mit geringen Budgets können heute unabhängige Filme produziert und gezeigt werden. Aber für viele in den Städten und Dörfern Afrikas bleiben sie unerreichbar, sie haben keinen Zugang zu eigenen afrikanischen Bildern. Dort, wo Bildung und Wissen am Nötigsten wären, werden die Menschen weiterhin im Dunklen gehalten – ohne Hoffnung.“ (Auf der Internetseite des Filmemachers zu Lieux Saints“ von 2009, www. jmteno.us)

 

Einsatzmöglichkeiten des Films „Ferien in der Heimat“
Film, Texte und Interviews von Jean-Marie Teno bieten reichhaltiges Material, um in der Oberstufe, in der Erwachsenenbildung und in der Internationalismusarbeit am Beispiel Kameruns die Fragwürdigkeit westlicher Entwicklungskonzepte für Afrika zu thematisieren. Insbesondere im Rahmen der aktuellen Debatten um die Folgen der Globalisierung bietet der Film eindringliches und doch unaufdringliches Anschauungsmaterial. Dabei ist eine zumindest knappe Einführung zur Geschichte, politischen Entwicklung und sozialen Lage Kameruns (s.u.) ratsam, um Verweise darauf im Film (etwa bei dem Interview mit dem Provinzpräfekten vor einem Portrait des langjährigen Präsidenten Paul Biya) verstehen und einordnen zu können. Vertiefen ließe sich die Diskussion durch die Einbeziehung von Literatur aus Kamerun, die auch in deutschen Übersetzungen vorliegt. (Eine Übersicht über die in deutscher Sprache verfügbaren Titel bietet die von der „Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika“ in Frankfurt herausgegebene Publikation „Quellen“. www.litprom.de). Auch die Musik aus Kamerun, die Teno in seinen Filmen verwendet, kann herangezogen werden. So hat der Saxophonist Ben’s Belinga, ein Jugendfreund Tenos aus Kamerun, nicht nur die Musik für die Dokumentation „Ferien in der Heimat“ geliefert, sondern auch für Tenos Spielfilm „Clando“. Und letztere liegt auf CD vor.
Soweit es die Sprachkenntnisse zulassen, sind im Rahmen von Debatten und Seminaren über Entwicklungspolitik, Kulturimperialismus und afrikanische Zukunftsperspektiven auch die anderen Filme von Jean-Marie Teno sehr zu empfehlen. Von allen gibt es französische und englische untertitelte Fassungen; außer „Ferien in der Heimat“ sind auch die Filme „Das koloniale Missverständnis“ und „Lieux Saints“ bei EZEF mit deutschen Untertiteln erhältlich.
Vergleichend bzw. ergänzend können dazu auch Film wie „Süßes Gift“ (2012) von Peter Heller über Fluch und Segen der „Entwicklungshilfe“ gezeigt werden. (s. Medienhinweise unten)

 

Wissenswertes zu Kamerun
Die Republik Kamerun liegt im Westen Zentralafrikas und ist von tropischem Regenwald an der Küste und Savannenlandschaften im Inland geprägt, die im Norden in wüstenartige Steppen übergehen. Aus den Hochebenen ragen Berge bis zu 4.000 Metern Höhe auf. Auf einer Fläche, die um ein Drittel größer ist als Deutschland, leben rund 15 Millionen Menschen. Ursprünglich Heimat der Bantu, wanderten später auch Fulbe und islamische Siedler ein. Im Nordwesten entstand das Emirat Adamaua, während an der Küste die Douala lebten. Wie Königreiche wurden die verschiedenen Gebiete des Landes von Oberhäuptern (Chefs) regiert, die ihr Land gegen Angriffe aus dem Norden (dem heutigen Nigeria) verteidigten. Insgesamt gab es mehr als hundert unterschiedliche Sprachen und Dialekte und auch eine regionale Schriftsprache.
Der Name Kamerun stammt von dem portugiesischen Seefahrer Fernando Po, der 1472 in einer Mündung an der Küste auf große Schwärme von Garnelen (Camerones) stieß und den Fluss entsprechend benannte. Ihm folgten europäische Händler, die auch in dieser Region Afrikas auf die Jagd nach Sklaven und Palmöl gingen. 1884 brachte Gustav Nachtigal die Oberhäupter der Douala dazu, einen Vertrag zu unterschreiben, wonach das Küstengebiet unter deutsche „Schutzherrschaft“ gestellt wurde. Damit war die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Kamerun ein Jahr später auf der Kongo-Konferenz in Berlin, bei der die Kolonialmächte Afrika untereinander aufteilten, Deutschland zugesprochen wurde. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die deutsche Herrschaft wurde in brutalen Kolonialkriegen niedergeschlagen. Die Deutschen beschlagnahmten die fruchtbaren Gebiete, enteigneten die einheimischen Bauern, trieben damit Tausende in den Hungertod und entvölkerten ganze Landstriche. Nach dem Ersten Weltkrieg drangen französische und britische Kolonialtruppen in das Land ein, wobei Frankreich den größeren westlichen Teil besetzte. Die neuen Kolonialherren verschärften die Ausplünderung noch, um Erdnüsse, Baumwolle, Kautschuk, Bananen und Tee für die heimischen Märkte anbauen zu lassen. Dabei degradierten sie viele der traditionellen Chefs zu Handlangern ihrer Kolonialverwaltung.

Wie überall in Afrika so formierten sich auch in Kamerun nach Ende des Zweiten Weltkrieges politische Bewegungen, die für die Unabhängigkeit kämpften. Der „Union des Populations du Cameroun“ (UPC) gelang es als einer der ersten Unabhängigkeitsbewegungen südlich der Sahara, befreite Gebiete zu schaffen und gegen massive französische Militärangriffe zu verteidigen. Um den Einfluss der militanten UPC zu untergraben und auch nach der am 1.1.1960 gewährten Unabhängigkeit weiterhin politisch die Fäden ziehen zu können, protegierte Frankreich die konservative Union Camerounaise (UC), deren Führer Alhajij Ahmadou Ahidjo zum ersten Präsidenten des Landes wurde. 1966 fusionierte seine Partei mit anderen zur „Union Nationale Camerounaise“ (UNC), während die radikale UPC in den Untergrund oder ins Exil getrieben wurde. Per Referendum wurde 1961 die Wiedervereinigung des Landes mit dem britisch-kontrollierten Teil beschlossen. Ahidjo regierte das Land bis 1982 in diktatorischer Manier und ließ Tausende Oppositionelle in die Gefängnisse werfen, foltern und ermorden. Auch unter seinem Nachfolger, Paul Biya, und nach der Umbenennung der Einheitspartei UNC in „Rassemblement Démocratique du Peuple Camerounais“ (RDPC) sollte sich an der repressiven Herrschaft in Kamerun trotz anderslautenden Versprechungen nichts ändern. Um sich nach manipulierten Wahlen (in denen er 1984 angeblich bis zu 99,9 Prozent der Stimmen erhielt) weiter an der Macht halten zu können, ließ Biya demokratische Organisationen und Parteien verbieten. Und als es zu Putschversuchen gegen sein Regime kam, starben Hunderte Oppositionelle. Nach seiner fragwürdigen Wiederwahl im Jahre 1988 schaffte Biya das Amt des Premierministers ab, verschärfte, um jede Kritik an seinem Vorgehen zu ersticken, die Zensurmaßnahmen und ließ zahlreiche Journalisten verhaften. Während eine kleine, korrupte Elite sich weiter mit Hilfe der Erdölförderung vor der Küste bereicherte, wurden große Teile des Landes in den achtziger Jahren dem wirtschaftlichen Verfall preisgegeben. Als die Weltmarktpreise für die Hauptexportprodukte des Landes (Erdöl, Kaffee, Kakao und Baumwolle) einbrachen, deren Ausfuhr ohnehin maßgeblich von französischen Unternehmen kontrolliert wurde, zwang der Internationale Währungsfond (IWF) Kamerun Ende der 1980er Jahre ein Strukturanpassungsprogramm auf (Importeinschränkungen, Kürzung von Sozialausgaben, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen etc.), das die Verelendung der Bevölkerung weiter verschärfte.
Auf dem Höhepunkt der Krise forderten oppositionelle Gruppen  Anfang der neunziger Jahre die Demokratisierung des Landes, eine Verfassungsreform, und die Wiedereinführung der 1972 abgeschafften föderalen Verwaltung. Mit Streiks unter dem Motto „Tote Städte“ legten sie zeitweise das öffentliche Leben lahm, doch den brutalen Einsätzen der Polizei fielen schließlich Dutzende Demonstranten zum Opfer. In den 1990er Jahren mussten zwar weitere Parteien zugelassen werden, doch hielten sich die RCDP und Präsident Biya mit gefälschten Wahlen, Koalitionen mit konservativen Splitterparteien und brutaler Repression weiter an der Macht. Biya ließ zahlreiche seiner politischen Gegner ermorden und verhaften. Und Folter blieb in den Gefängnissen Kameruns an der Tagesordnung.
Bei all dem konnte Biya stets auf die Unterstützung Frankreichs bauen. Weil sein Regime dem Westen genehm war, wurde es mit überdurchschnittlich hohen Krediten und Geldern der sogenannten „Entwicklungshilfe“ alimentiert. Dabei fungierte die Bundesrepublik Deutschland hinter Frankreich als zweitgrößter Geldgeber. Die von der französischen Regierung erzwungene Abwertung der an den Francs gebundenen und auch in Kamerun gültigen westafrikanischen Währung CFA um 50 Prozent führte Mitte der 1990er Jahre zur weiteren Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, brachte der in zahlreiche Korruptionsaffären verwickelten Regierung jedoch zusätzliche Kredite des IWF und der Weltbank ein. Um seine Wiederwahl zu sichern, ließ Biya 1997 nur drei von sechs Millionen Stimmberechtigten wählen. Die anderen wurden von der Regierung als angebliche „Ausländer“ von der Wahl ausgeschlossen. Die meisten der zuvor zugelassenen Oppositionsparteien boykottierten daraufhin die Wahlen. Ende 1997 entzündeten sich neue Proteste von Oppositionellen und Umweltgruppen an dem von der Regierung unterstützten Projekt internationaler Ölfirmen (Shell u.a.), eine Pipeline aus dem Tschad quer durch Naturschutzgebiete und Regenwälder Kameruns bis zur Atlantikküste zu bauen. 1998 kam es bei Streitigkeiten mit dem nördlichen Nachbarland Nigeria um fisch- und ölreiche Grenzgebiete zu militärischen Zusammenstößen. Fast ein Fünftel des Staatsbudgets wurde in dieser Zeit für das Militär ausgegeben.
Trotz wachsender Opposition und einer Beschränkung der Amtszeit des Staatspräsidenten durch eine zwischenzeitlich verabschiedete Verfassung, gelang es dem seit 1982 autokratisch amtierenden Präsidenten Paul Biya 2008 erneut, die Mandatsbegrenzung wieder aufheben und sich 2011 erneut für weitere sieben Jahre in seinem Amt bestätigen zu lassen. Nach offiziellen Angaben erhielt er 78 Prozent der Stimmen. Allerdings hatte mehr als ein Drittel der Kameruner wegen offenkundiger Unregelmäßigkeiten die Wahlen boykottiert.
Mehr als 50 Jahre nach der Unabhängigkeit ist die Gesellschaft Kameruns zerrüttet. Während die Mehrheit der Bevölkerung bei einem Durchschnittseinkommen von nur mehr 2.114 Dollar im Jahr unter prekären Lebensbedingungen leidet, wird das Land vom Clan des schon mehr als drei Jahrzehnte herrschenden Präsidenten sowie von korrupten Staatsbeamten und Polizisten in seinen Diensten ausgeplündert, deren Willkür auch die marode Justiz nicht einzuschränken vermag.
Im Jahre 2012 betrug die Lebenserwartung in Kamerun 52 Jahre, mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte in Armut, 10 Prozent mussten mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen. Mit diesen Indikatoren rangiert Kamerun nach dem „human development index“ der Vereinten Nationen von 2013 auf Rang 150 (von 186 Staaten) und damit in der untersten Gruppe der ärmsten Länder der Welt.
Zusammengestellt nach:

  • Instituto del Tercer Mondo; The World Guide 2001/2002 - An alternative reference to the countries of our planet, Oxford 2001
  • Nohlen, Dieter/Nuscheler, Franz (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 4: Westafrika und Zentralafrika, Bonn 1993
  • Weltbank; Weltentwicklungsbericht 2000/2001 - Bekämpfung der Armut, UNO-Verlag, Bonn 2001
  • Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bericht über die menschliche Entwicklung 1998, Bonn 1998
  • United Nations Development Programme, Human Development Report 2012, www.hdr.undp.org
  • www.auswaertiges-amt.de (Länderbericht Kamerun, 2013)

 

Literaturhinweise und Links

  • Haus der Kulturen der Welt, Berlin (Hrsg.), Filmwelt Afrika, Berlin 1993, darin: Interview mit Jean-Marie Teno von Karl Rössel
  • Gutberlet, Marie-Hélène/Metzler, Hans-Peter (Hrsg.), Afrikanisches Kino, Arte Edition, Horlemann Verlag, Unkel/Rhein; Bad Honnef 1997, darin: Ukadike, Frank N., Stimmen des Dokumentarfilms - Allah Tantou und Afrique, je te plumerai
  • trigon-film magazin, Nr. 11, Basel (Schweiz) 2000, darin: Girsberger, Sabine; Freie Marktwirtschaft ist in Kamerun eingezogen - Das afrikanische Filmessay „Vacances au pays“. Ruggle, Walter, Von der „Maladie Colonial“ - ein Gespräch mit dem Filmemacher Jean-Marie TénoTeno/Der Filmemacher Jean-Marie TénoTeno. Und: TénoTeno, Jean-Marie; Afrikaner wollen afrikanische Filme sehen - Zur Situation des Kinos in Afrika
  • Freunde der Deutschen Kinemathek, Vacances au Pays; Internationales Forum der Berliner Filmfestspiele, Filmbeschreibung Nr. 20, Berlin 2000, darin auch: Interview mit Jean-Marie TénoTeno
  • Wolpert, Bernd; Afrique - je te plumerai, Afrika - gerupft, aber mit erhobenem Haupt, in: 15. Französische Filmtage Tübingen-Stuttgart, Festivalkatalog 1998, S. 135ff
  • Hegner, Doris & Scherer, Bernd M. / Haus der Kulturen der Welt (Hg.); Manthia Diawara; African film – new forms of aesthetics and politics; München, Berlin, London, New York 2010. Darin u.a. Jean-Marie Teno: „Le malentendu colonial“, S. 314 f.
  • Internetseite von Jean-Marie Teno: www.jmteno.us
  • Internetseite und Datenbank von FilmInitiativ Köln e.V. (Veranstalter des Afrika Film Festivals „Jenseits von Europa“) mit Texten zu Jean-Marie Teno und seinen Filmen: www.filme-aus-afrika.de


Filmhinweise
Das koloniale Missverständnis
Ein Film von Jean-Marie Teno, Deutschland, Frankreich, Kamerun, 2004
78 Min., Dokumentarfilm, Bezug DVD: EZEF

Sacred Places
Ein Film von Jean-Marie Teno, Kamerun, Frankreich 2009
70 Min., Filmessay, Bezug DVD: EZEF

Der deutsche Regisseur Peter Heller hat eine Reihe von Dokumentarfilmen in Kamerun gedreht:
1985  Kamerun
1988  Die Mulattin Else
1996  Der Herbst des Despoten
1997  Manga Bell – Verdammte Deutsche

In seinem Film Süßes Gift (2012) kommt Peter Heller zu einer ähnlich kritischen Schlussfolgerung wie Jean-Marie Teno, wonach die sogenannte „Entwicklungshilfe“ seit der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Länder vor 50 Jahren eher für die Geber aus Europa und ihre Geschäftsinteressen von Nutzen war als für die Empfänger in Afrika, die dadurch eher in weitere Abhängigkeiten gerieten. Der Film kann deshalb vergleichend bzw. ergänzend zu den Dokumentationen von Jean-Marie Teno eingesetzt werden. (Verleih: www.wfilm.de)

 

Autor: Karl Rössel (FilmInitiativ Köln e.V., www.filme-aus-afrika.de)
Juni 2013

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