Dokumentarfilm von Alice Schmid
Schweiz 1999, 26 Minuten
Inhalt
Verschwommene Bilder, tanzende Schatten in schwarz-weiß, Schemen mit Waffen in den Händen, Menschen mit erhobenen Händen – so beginnt der Film von Alice Schmid. Es ist ein wiederkehrendes Motiv, das immer wieder eingeblendet und variiert wird. Dies sind die Bilder, die die fünf Jugendlichen – Melvin, Maud, Roberta, Josephine und Glasgow - nicht mehr loslassen.
April 1999 in Liberia – der Bürgerkrieg ist vorbei, aber die Geschichten dieser Jugendlichen mussten heimlich aufgezeichnet werden, um sie nicht zu gefährden.
Bilder der zerstörten Stadt Monrovia
Das Studio von Radio Talking Drums: Der Sprecher kündigt ein Hörspiel der Theatergruppe von „Talking Drums“ an unter dem Titel: „Anarchie ist keine Lösung für unsere Gesellschaft“. Er erzählt von Tausenden ehemaliger Kindersoldaten, die ums tägliche Überleben kämpfen, indem sie stehlen und sich prostituieren. Das Hörspiel handelt von ihnen: Ein Kriegsveteran fragt eine Journalistin, ob sie den Artikel über sie geschrieben habe. Als sie bejaht, wird er handgreiflich, weil sie angeblich Lügen verbreitet habe. Sie solle lieber schreiben, dass sie das Land verteidigt und denen, die jetzt an der Macht seien, geholfen hätten. Ein anderer versucht sie zu beruhigen, indem er ihnen eindringlich sagt, dass Gesetzlosigkeit keine Lösung sei, sondern dass sie versuchen sollten, den Dialog miteinander aufzunehmen. Dann erscheint der Moderator und wiederholt beschwörend: „Anarchie ist keine Lösung für unsere Gesellschaft.“
Der Film lässt einzelne Jugendliche - Melvin, Maud, Glasgow, Roberta und Josephine - ihre Geschichte erzählen, immer wieder unterbrochen von den Schwarz-Weiß-Bildern der Erinnerungen, der Träume und Gedanken, die sie verfolgen. Heute sind sie Anfang 20, haben nichts gelernt außer kämpfen und fühlen sich vergessen, überflüssig, verbittert, allein gelassen mit ihren Erinnerungen, ihren Schmerzen, ihrer Verbitterung, ihrer Hoffnungslosigkeit.
Da ist Melvin, 22 Jahre alt, blind. Er ist verbittert, weil er heute allein ist, von allen verlassen, ohne irgendeine Hilfe, wo er doch nur „gekämpft hat, um mich und das Land zu schützen“. „Ich habe auch für euch gekämpft“, meint er, „und deshalb hole ich mir manchmal das Brot mit Gewalt, das ihr mir nicht gebt.“ Früher, meint er, hätte er jeden Tag etwas zu tun, mit den anderen Spaß gehabt und sich frei bewegen können, aber heute, da er blind sei, könne er nichts mehr tun. Wenn er die Augen schließe, sehe er das Leben an sich vorbeiziehen.
Da ist Maud, 21 Jahre alt, die erzählt, dass sie zwölf Jahre alt war, als der Krieg begann und sie mit ihrer Mutter flüchten musste. Zwei Tage und zwei Nächte seien sie gelaufen, durch den Wald und irgendwann seien sie von Rebellen angehalten worden, die sie Madussi gerufen hätten. Als die Mutter ihnen sagte, dass sie keine sei, sie als Mutter müsse das ja wissen, schlugen sie der Mutter ins Gesicht. Man ließ sie schließlich gehen und wieder wanderten sie weiter. Maud sagte schließlich ihrer Mutter, dass sie das nicht lange durchhalten könnten und sie deshalb zu den Rebellen ginge. Sie sprang auf den erst besten Lastwagen und schloss sich den Rebellen an. Maud hat miterlebt, wie ihr Freund direkt neben ihr erschossen wurde. Sie musste sich ständig wehren gegen die sexuellen Übergriffe der Rebellen. Maud erzählt, wie sie jeden Morgen ihren „Einsatzort“ genannt bekamen und Munition erhielten. Oft mussten sie tagelang laufen und sie hatte nie Zeit zum Schlafen. Sie war immer allein, musste sich allein ernähren und durchschlagen, ohne Vater und Mutter und sie erzählt, dass sie heute nichts tut, außer den ganzen Tag zu schlafen. Ihre Mutter weint, weil sie sich nicht um sie kümmert, aber sie will niemanden sehen, weil sie sich schämt, weil sie nicht einmal schreiben kann. Sie beklagt die Zeit, die sie mit dem Krieg vergeudet hat und sagt, sie würde „es nie wieder tun“ – „wie automatisch zielen, Menschen verletzen und töten. Für keinen Krieg würde ich mehr in meinem Land bleiben. Ich brauche Hilfe.“
Da ist Glasgow, 24 Jahre alt, der erzählt, dass er noch ganz klein war, als er mit der Familie flüchtete. Sie töteten seinen Vater vor seinen Augen, weil sie ihn verdächtigten, zu einer anderen Gruppe zu gehören, und er versteckte sich aus Angst. Aber er wurde gefangen-genommen. Wenn die Kämpfe abends losgingen, erzählt er, seien alle bereit gewesen zu fliehen. Aber man habe ihnen Drogen gegeben – gegen die Kälte, aber auch, damit sie besser töten könnten, wahllos, oder manchmal gezielt, indem Wetten abgeschlossen wurden. Sogar Schwangere hätten sie getötet. Heute erscheint ihm oft sein Vater im Traum. Er träumt, wie sie flüchten, wie sie ihn töten, und dann wacht er schreiend auf. Einmal ist im Traum sein Vater erschienen, um ihm zu sagen, er solle sich keine Sorgen machen, er wisse, dass aus ihm noch etwas werde. Aber Glasgow sagt: „Früher war meine Zukunft voller Licht, aber heute ist sie das nicht mehr. Ich warte nur auf jemanden, der mir da heraushilft.“
Da ist Josephine, 22 Jahre alt. Heute sitzt sie den ganzen Tag irgendwo und hofft, dass Leute ihr etwas geben, während sie weiß, dass ihre Kinder zu Hause nichts zu essen haben. Sie hat keine Ausbildung, keine Arbeit, und klammert sich dennoch an die Hoffnung, dass es in ihrer Zukunft etwas Gutes geben wird. Als Josephine acht Jahre alt war, verließ sie ihre Schwestern und ein Onkel brachte sie in die Schule. Aber als der Krieg begann, lief der Onkel davon und ließ sie allein. Sie versuchte allein hinter die Frontlinie zu gelangen; sie wurde gefangen-genommen und gequält. Der Chef der Rebellen vergewaltigte sie und sagte ihr, dass er sie so sehr liebe, dass er sie nicht gehen lassen könne. Er drohte, sie zu erschießen, wenn sie schreie und sie wünschte sich nur, dass er sie töte. Sie sah schließlich keinen anderen Weg, als sich den Rebellen anzuschließen. Josephine erzählt, dass sie mit einer sehr kurzen Waffe tötete, manchmal auch mit einer Beretta. Sie kann seit ihrer Vergewaltigung nicht mehr schlafen und betet, dass die Schmerzen endlich verschwinden, unter denen sie seither leidet.
Und da ist Roberta, 21 Jahre alt, die nichts erzählt, nur still vor sich hin weint und verzweifelt die Hände ringt.
Am Ende des Films schwenkt die Kamera noch einmal durch die im Krieg zerstörte Stadt Monrovia, in der zaghaft der Alltag wieder begonnen hat. Aber die Wunden des Krieges sind überall sichtbar und spürbar, und der Moderator von „Radio Talking Drums“ sagt noch einmal beschwörend: „Die Zeit arbeitet gegen uns. Aber denken Sie daran, Anarchie ist keine Lösung...!“
Zum Film
Alice Schmid hat mit diesem Film über ehemalige Kindersoldaten in Liberia ein beeindruckendes Dokument geschaffen. Die Greuel des Krieges werden nicht wirklich gezeigt, sondern in den Schwarz-Weiß-Sequenzen nur angedeutet, bewegte Kopfbilder von Gewalt, Angst, Verzweiflung. Die Jugendlichen, die zugleich Täter und Opfer dieses Krieges waren, sind für ihr Leben gezeichnet und werden diese Bilder nicht mehr los. Das Grauen vermittelt sich über ihre Erzählungen, über die Anzeichen ihrer Trauer und Verzweiflung. Alice Schmid kommentiert nicht, was sie sieht und hört, sondern lässt die Bilder und Dialoge für sich sprechen. Es gelingt ihr, einen tiefen Eindruck von der Wirklichkeit eines Krieges zu vermitteln, in den diese Jugendlichen hineingeraten und in dem sie schuldig geworden sind. Die ZuschauerInnen können erahnen, wie Menschen in diesen Kriegen zu Tätern (gemacht) werden und gleichzeitig Opfer sind, welche Traumata die eigenen Erfahrungen bei ihnen ausgelöst haben.
Hintergründe
Der Bürgerkrieg in Liberia wurde manchmal der „Krieg der Kinder“ genannt: Zwischen 1989 und 1996 rekrutierten die beiden größten Bürgerkriegsparteien „Nationale Patriotische Front“ (NPLF) und „Vereinigte Befreiungsbewegung für Demokratie in Liberia“ (ULIMO) zusammen mehr als 6.000 Sieben- bis Siebzehnjährige als Soldaten. Die Zivilbevölkerung litt besonders unter dem Terror der Kindersoldaten.
Der Krieg hat mindestens 150.000 Tote gefordert. Sieben Kriegsparteien – meist ethnisch definiert, standen sich am Schluss gegenüber. Politische Motive waren kaum zu erkennen, tatsächlich ging es vor allem um Macht und Geld. Ethnische Konflikte wurden angeheizt, um Hass zu schüren.
1995 wurde in Abuja in Nigeria ein Friedensabkommen geschlossen und ca. 20.000 der geschätzten 33.000 „Kämpfer“ der verschiedenen Fraktionen gaben ihre Waffen an die Überwachungsgruppe für den Waffenstillstand der ECOMOG (Economic Community of West African States) ab. Aber der Waffenstillstand war nicht dauerhaft; immer wieder kam es im Verlauf des Jahres 1996 zu Kämpfen zwischen Rebellen und Regierungstruppen. Nach einem 2. Waffenstillstand wurden am 19. Juli 1997 unter internationaler Beobachtung Präsidentschafts- und Parlamentswahlen durchgeführt, in denen die Warlords in die Regierung gewählt wurden. Damit war der Krieg offiziell beigelegt, aber die Konflikte nicht beseitigt, und mit vielen Waffen im Umlauf und nach wie vor existierenden Warlord-Strukturen ein Wiederaufleben der Kämpfe jederzeit zu befürchten. Im Verlaufe des Bürgerkriegs waren die wirtschaftlichen Aktivitäten des Landes fast völlig zum Erliegen gekommen. Erneute bewaffnete Zusammenstöße im Herbst 1998 und die anhaltende unsichere Lage im Land haben Aktivitäten des wirtschaftlichen Wiederaufbaus bisher nur sehr langsam vorankommen lassen. Mehr als 80% der Bevölkerung des Landes (mit einer Gesamtbevölkerung von etwa 2,9 Mio. auf ca. 111.000 km2) leben nach wie vor unter der Armutsgrenze.
Die Situation der früheren Kindersoldaten in Liberia ist nach wie vor schwierig; sie scheinen bei den jetzt getroffenen Abmachungen nur ein Störfaktor. Für die früheren Kindersoldaten gibt es wenig Betreuungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten. Viele von ihnen werden mit ihren traumatischen Erfahrungen allein gelassen. Es ist eine verlorene Generation, nur wenige haben eine Schulbildung oder Chancen auf eine Ausbildung. Für die Eltern und weitere Familienangehörige ist es oft schwierig, sich mit den Erfahrungen ihrer Kinder auseinander-zusetzen, weil sie sich häufig selber schuldig fühlen, indem sie nicht in der Lage waren, die Kinder zu schützen. Für die traumatisierten Kinder ist es schwierig, sich wieder in familiäre Strukturen einzufühlen, weil sie sich von der Familie während des Krieges allein gelassen fühlten.
Kampagne zur Beendigung des Einsatzes von Kindersoldaten
Nach Schätzungen von UNICEF gibt es weltweit zur Zeit etwa 300.000 Kindersoldaten. Schon zehnjährige Jungen und Mädchen werden rekrutiert und ausgebildet. Viele werden als Spione, Boten oder Minendetektoren eingesetzt. Sie werden gezwungen zu töten und zu foltern. Mädchen sind auch in diesem Krieg oft als Sexsklavinnen missbraucht worden. Unter Führung der UNICEF hat sich eine "Koalition zur Beendigung des Einsatzes von Kindersoldaten gebildet, die von einem breiten Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen aus dem Bereich der Menschenrechte und aus dem kirchlichen Bereich getragen wird. Ziele dieser Koalition sind:
- Die Respektierung des Prinzips der Nichtrekrutierung und Nichtteilnahme von Kindern unter 18 Jahren zu fördern
- Die Anerkennung und Stärkung dieses Standards durch alle Armeen und bewaffneten Gruppen zu fördern, sowohl auf der Regierungs- wie auf der Nichtregierungsseite
- Sich einzusetzen für die Annahme und Umsetzung von neuen internationalen Gesetzen, die die militärische Rekrutierung und den Einsatz von Kindern als Soldaten verbieten.
Am 21. Januar 2000 wurde von der ständigen Arbeitsgruppe der UN für Menschenrechte ein Zusatzprotokoll zu der "Konvention über die Rechte der Kinder" einstimmig angenommen. In der Präambel zu diesem Zusatzprotokoll geht es nicht nur um die Rekrutierung von Kindern, sondern auch um ihren generellen Schutz in bewaffneten internationalen und nationalen Auseinandersetzungen, sowie um die physische und psycho-soziale Rehabilitierung von Kindern, die Opfer bewaffneter Konflikte geworden sind. UNICEF und andere beteiligte Organisationen fordern darüber hinaus, dass die Betroffenen selber, also Familien und ehemalige Kindersoldaten, als Ressource-Personen einbezogen werden, wenn es um die Verbreitung dieses Zusatzprotokolls geht.
Das Europäische Parlament, die Internationale Arbeitsorganisation der UNO, Rotes Kreuz und Roter Halbmond und viele andere Organisationen haben sich für die Annahme des Protokolls durch die UN-Vollversammlung bereits ausgesprochen. Es ist zu hoffen, dass diese Kampagne auch in Deutschland breit unterstützt wird.
Zum Einsatz des Films
Der Film zeigt das Elend von Kindersoldaten exemplarisch am Beispiel Liberia. Es ist jedoch klar, dass diese Situationen sich in vielen Kriegen wiederholen (Mosambik, Angola, Sierra Leone, El Salvador, Nicaragua, Golf, Kambodscha u.a.).
Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und die Unterstützung für die "Kampagne zur Beendigung des Einsatzes von Kindersoldaten" ist deshalb sicherlich eine wichtige Möglichkeit, nicht bei dem Schrecken stehen zu bleiben, den dieser Film auslöst, sondern selber aktiv zu werden.
Um die Reaktionen und die Haltung der in dem Film vorkommenden Jugendlichen verständlich zu machen, sollte in jedem Fall auch hingewiesen werden auf die Wirkung von Traumata und deren Symptome. Traumata können wie folgt klassifiziert werden:
- man-made desasters, menschlich verursachte Traumata, wie z.B. sexuelle und körperliche Misshandlungen in der Kindheit, kriminelle und familiäre Gewalt, Vergewaltigung, Kriegserlebnisse, zivile Gewalterlebnisse, Folter, politische Inhaftierung oder Massenvernichtung.
- natural desasters, Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumata wie z.B. Natur- und technische Katastrophen, Arbeits- und Verkehrsunfälle u.a.
Wie sieht dieses Leiden genauer aus, was erleben Traumatisierte?
Die offizielle diagnostische Klassifikation der sog. 'Posttraumatischen Belastungsstörung'
spricht vor allem von den folgenden Hauptsymptomen:
- Physiologische Übererregung wie z.B. Ein- und Durchschlafstörungen, Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, übermäßige Wachsamkeit und übertriebe-ne Schreckreaktionen.
- Sogenannte intrusive Erinnerungen wie z.B. wiederkehrende und eindringlich belastende Erinnerungen an das Ereignis, Alpträume, Flashbacks (Handeln und Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt.
- Vermeidungsverhalten und Gefühlsabstumpfung wie z.B. das bewusste Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen sowie Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen wachrufen.
(aus: Contacts, Nr. 2, Juni 99, Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft f. Entwicklungshilfe e.V., Ripuarenstr. 8, 50679 Köln, Tel: 0221/8896-0)
Autorin: Inge Remmert-Fontes
März 2000