Teaser
Mord in Pacot

Meutre à Pacot
Spielfilm von Raoul Peck
Frankreich, Haiti, Norwegen 2015, 130 Minuten, OmU

Inhalt

Handlungsort ist eine ruinöse Villa in Port-au-Princes vornehmem Stadtteil Pacot. Ein hohes Eisentor schließt das von Bäumen bestandene Grundstück gegen die Straße ab. Das Wohnhaus liegt halb zerstört in Trümmern. Die Besitzer, ein Ehepaar mittleren Alters, mussten sich im Garagenbau provisorisch einrichten. Man kocht, isst und wartet ab im Freien, wenn nicht gerade ein tropischer Gewitterguss niedergeht. Einmal rütteln drei Frauen einer Erweckungssekte am Tor und rufen, die Evangelien zitierend, zur religiösen Umkehr auf.
Trotz ihrer Verstörung versuchen die Überlebenden, einen Anschein von Normalität herzustellen. Doch unter diesen Bedingungen fällt der Frau die Hausarbeit schwer. Sie muss das Wasser vom Swimmingpool holen, Wochen nach dem Erdbeben bleibt immer wieder der Strom weg. Vor allem hofft sie, dass Joseph, ihr Bediensteter, zurückkehrt und hilft. Von Zeit zu Zeit verlässt der Mann das Anwesen, um aus der Stadt mit niederdrückenden Nachrichten zurückzukehren. Es ist alles zerstört, auch das Geschäft.
Die Baubehörde prüft die Statik der stehen gebliebenen Teile der Villa und gibt zögernd die obere Etage des Seitenflügels mit der Auflage frei, die wichtigsten Reparaturen selbst durchzuführen. Der Beamte warnt vor Nachbeben und konstatiert den Verwesungsgeruch, der aus den Trümmern dringt. Irgendwo unter den Steinen, es wird nie offen ausgesprochen, muss der Leichnam des Jungen liegen, den das Erdbeben im Freien überraschte. Ein Spielgerät erinnert an seine Existenz. Es war nicht das eigene Kind des Paares. Es war manchmal wild, aber es gehörte zu ihm.
Der Mann kann die oberen Räume an einen gut zahlenden Mitarbeiter einer NGO vermieten. Schnell werden einige Ritzen mit dem Gips verschmiert, den der Mann aus der Stadt besorgt hat. Alex, ein Franzose, fährt mit dem Dienstauto vor. Man trägt Koffer und viele Kartons mit Lebensmitteln und Getränken nach oben. Dann erscheint auch Andrémise, die lebenslustige haitische Geliebte von Alex, die sich, wie sie der Frau gesteht, fortan Jennifer nennen will. Heftige Lustschreie dringen am helllichten Tag aus dem Schlafzimmer der Gäste und verstören das Paar, das nur noch Gewohnheit und Not zusammen hält. Auch die Gäste nehmen den Leichengeruch war, aber der, weiß der NGO-Mann, liegt schließlich über der gesamten Insel. Später werden Hunde, die vor Menschen keine Angst mehr haben, seitdem sie gelernt haben Leichen zu fressen, in der Dunkelheit auf das Gelände vordringen.
Mit bloßen Händen sucht die Frau trotz des Verbots ihres Mannes in den Trümmern nach Sachen des Jungen. Sie findet einen roten Pulli von ihm und ist noch mehr verzweifelt. Zu ihrer Freude kommt Joseph, aber nur, um sich zu verabschieden. Nach einer Weile kehrt er jedoch zurück und beginnt, trotz seines verbundenen Armes und obwohl es der Mann verboten hat, unter Lebensgefahr in den Hohlräumen unter den Trümmern nach dem toten Jungen zu suchen.
Derweil eskalieren die Spannungen in der oberen Etage. Andrémise/Jennifer ahnt, dass Alex gar nicht daran denkt, sie mit nach Europa zu nehmen. Aber noch ist sie stolz auf ihn. Sie zeigt der Frau Fotos, die den Helfer inmitten lachender, dankbarer haitischer Kinder zeigen. Seine Abwesenheit nutzt sie für eine ausgelassene Party mit lauter Musik und starken Getränken aus dem Vorrat der NGO. Die Frau gibt dem Drängen nach und gesellt sich dazu. Einer der jungen Männer macht ihr Avancen, er darf sie in die Garage begleiten, doch dabei bleibt es. Weitaus stärker scheint die Anziehungskraft, die Andrémise auf die Frau aus der Oberschicht ausübt.
Joseph stellt die Suche nach dem Leichnam ein und nimmt Abschied von seinen früheren Brotherren. Zwischen Alex und seiner Freundin kommt es wieder zu einer heftigen Szene. Ein Freund von Andrémise taucht auf und sagt Alex ins Gesicht, dass er mit der jungen Frau weggehen werde. Aber auch der stets ernste Hausherr hat ein leidenschaftliches Interesse an Andrémise, die sich heftig widersetzt, als er sie zu vergewaltigen versucht, und in den Wald flieht, bis sie ein Steinwurf von ihm tödlich am Kopf trifft.
Der Mann der Baukommission erscheint ein zweites Mal und will jetzt das Seitengebäude zum Abriss freigeben. Ein Verzweiflungsausbruch des Hausherrn nötigt ihm einen kurzen Aufschub ab. Doch am neunten Tag dieser Geschichte ist es soweit. Aus sicherer Entfernung sehen der Mann, die Frau und ihr NGO-Gast Alex  zu, wie die Baufahrzeuge anrollen und der Bagger die einstige Villa Stück für Stück niederreißt.

Raoul Pecks Parabel

Neutralität war nie die Sache des haitischen Regisseurs. Gleich zweimal, im dokumentarischen Genre und mit einem Spielfilm, stellte er, 1991 und 2000, das tragische Schicksal des ermordeten ersten kongolesischen Präsidenten Patrice Lumumba vor Augen, dessen Figur vom Schachbrett des Neokolonialismus verschwinden musste, weil sie dem Zugriff der Konzerne im Weg stand. Der Kongo war Pecks zweite Heimat, die erste aber blieb, auch wenn der Regisseur seit langem in Europa lebt, Haiti, jene geschundene Insel, die sich bereits im Jahr 1791 von der französischen Herrschaft befreite und dafür bitter büßen musste. Heute ist es einer der ärmsten Länder der Welt und Opfer vieler Mächte. Als ob es nicht genug wäre, dass hier immer wieder Diktatoren und schwache Politiker einander ablösen, zerstörte 2010 ein schweres Erdbeben die Hauptstadt Port-au-Prince und weite Teile des Landes. Dutzende Hilfsorganisationen entsandten Hunderte Helfer, doch nun traten das Chaos und die Unfähigkeit der haitischen Verwaltung, die Einsätze zu koordinieren, voll zutage.
Raoul Peck hat sich an diese jüngste, von der Natur verursachte, aber von den politischen Verhältnissen noch gesteigerte Katastrophe zuerst mit einem Dokumentarfilm herangearbeitet. „Tödliche Hilfe“ (Assistence mortelle) – deutlicher hätte er den Irrsinn der sich selbst im Wege stehenden internationalen Hilfsaktionen und den Schaucharakter einer sich philanthropisch gebenden Politik kaum benennen können. Doch um ein Charakterbild dieser nicht enden wollenden düsteren Periode zu schaffen, nur eine von vielen dieses „gescheiterten Staates“ (Hans Christoph Buch), bedurfte es eines dramatischen Zugriffs, genauer gesagt einer Parabel, die nicht im Nacherzählen der Ereignisse stecken bleibt, sondern die aus diesem Stoff eine Fabel schöpft, aus der wir, die Zuschauer im doppelten Sinn, sagen wir es ruhig so direkt, „etwas lernen“ können.
Was für einen spannenden Effekt es erzeugen kann, die Handlung auf wenige Tage zu komprimieren, hatte Peck bereits in seinem vorausgegangenen Spielfilm „Moloch Tropical“ erfolgreich gezeigt. Es wurde das Meisterwerk eines politischen Films, die Vision der Agonie einer zur Diktatur entarteten, wenngleich ursprünglich demokratisch legitimierten Herrschaft, deren Umstände auf die unglückliche Präsidentschaft des Armenpriesters Jean-Baptiste Aristides in den Jahren 1991/92 und 2001 bis 2004 verweisen, aber darin ein Exempel für jegliche außer Kontrolle geratene, unter hoffnungsvollem Vorzeichen angetretene und dann entarteten politischen Führung zeichnet.
Doch Pecks vorerst jüngster Film zielt nicht nach oben, sondern blickt auf die bourgeoise Mittelklasse Haitis, die das Erdbeben aus aller Sicherheit riss. Das namenlose Ehepaar, das sich neben seiner weitgehend zerstörten Villa in Pacot, einem vornehmen Stadtteil von Port-au-Prince, notdürftig in der Garage eingerichtet hat, fungiert gleichsam stellvertretend für eine ganze Klasse, die ratlos in die Zukunft schaut, aber deshalb nicht völlig hoffnungslos sein muss. Mit Alex, Mitarbeiter einer französischen Nichtregierungsorganisation (NGO), kommt wieder frisches Geld ins Haus, Geld aus jenem Land, dem Haiti auch nach der Selbstbefreiung durch knechtende Entschädigungszahlungen noch bis 1947 verpflichtet blieb. Der Spott Pecks über den Helfer, der im weißen Auto vorfährt und dessen Vorrat an importierten Lebensmitteln einschließlich Spirituosen nicht ausgeht, ist kaum zu übersehen. Der tänzelnde Gang, das hochmütige, vielleicht nur gleichgültige, dabei nicht unfreundliche Gesicht sprechen eine deutliche Sprache. Den i-Punkt setzen die Fotos, die Alex’ Geliebte Andrémise, von ihr wird gleich zu sprechen sein, der Frau  auf dem Bett, dass sie mit dem Franzosen teilt, stolz präsentiert. Die Aufnahmen zeigen genau den Topos, den man von den Werbeprospekten diverser Hilfsorganisationen kennt: in der Mitte der Helfer, umringt von beglückten, lachenden Kindern. Andrémise wird die bittere Erfahrung auf den Punkt bringen, wenn sie später einmal meint, dass nur Brosamen bei den Hilfsbedürftigen ankommen, die bei diesem Spiel so tun müssten, als würden sie für die Hilfe dankbar sein.
Es fällt kein gutes Licht auf die „grenzenlose Hilfe weltweit“, deren gut gemeinte Vorhaben allein schon wegen mangelnder Koordination vor Ort, wie letztens nach der Erdbebenkatastrophe in Nepal berichtet wurde, oft auf dem Papier bleiben. Allerdings passt Alex, dargestellt von dem französischen Film- und  Theaterschauspieler Thibault Vinçon, bestens in Pecks Ensemble gebrochener Charaktere. Man könnte ihn fast einen Hasardeur nennen, der den knapp angedeuteten unguten privaten Verhältnissen daheim durch einen Sprung in die weite Welt zu entkommen sucht und dem die Pose des Glücksbringers  wie auf den Leib geschnitten scheint.
Gegenüber dem Mann und der Frau, deren Namenlosigkeit noch einmal unterstreicht, dass beide Personen hier eine Stellvertreterposition innehaben, agiert Alex freilich eher am Rande. Auf den ersten Blick trifft dies auch auf Andrémise zu, die wie ein bunter Vogel ins marode Haus flattert und dann erfährt, dass sie als sexuelles Objekt erst begehrt und am Ende weggeworfen wird, weil sie zu viel weiß. Vor allem weiß sie bald über die mentale, nicht allein erotische Notlage der drei Personen, die sie besitzen wollen, allzu gut Bescheid: Alex, der sie von Anfang an nur benutzt, die Frau, die sich vom Frust in der Ehe und von der Verzweiflung darüber, dass ihr Junge, ein angenommenes Kind, unter den Trümmern liegt, Trost sucht , sowie der Mann, der Andrémise lange genug angestarrt hat, bis ihn sein Begehren derart umtreibt, dass er sie tötet – eine Figurenbeziehung, die in Claudios Mord an Ana in Carlos Sauras Meisterwerk Film „Anna und die Wölfe“ aus dem Jahr 1972, eine frühe Abrechnung mit dem Franco-Regime, wie vorgeformt erscheint. Lovely Kermonde Fifi gibt, mal mit  schnippischem Stolz, mal mit großer Natürlichkeit, erst um ihre Zukunft und dann um ihr Leben kämpfend, eine junge Frau, die sich ihrer vitalen Anziehungskraft und bald auch ihres Ausgeliefertseins bewusst ist. Ihre Illusionen verfliegen schnell. Das Spiel „Jennifer“ ist aus, kaum dass es richtig begann.
In diesem Punkt liegt auch ein wesentlicher Unterschied zwischen der Fabel von Pier Paolo Pasolinis vieldiskutiertem Film „Teorema“ aus dem Jahr 1968 und Raoul Pecks dramatischen Konstruktion. Bei Pasolini ist es ein junger Mann, der unversehens in einer Mailänder Fabrikantenfamilie auftaucht, ein Jemand ohne erkennbares Motiv, ein Engel vielleicht, worauf auch sein Name Angelino verweist. Andrémise dagegen, eine junge Frau aus der haitischen Unterschicht, hat viel handfestere Interessen, als die Gefühlslage anderer Menschen uneigennützig zu erleichtern. Sie lacht viel, sie lebt ihren Spaß lustvoll aus, wenn sich dafür die Gelegenheit ergibt, ist weder gewissenlos noch reines Herzens, durchaus auf ihren Vorteil bedacht und doch auch voller Mitgefühl, als sie in der Frau des Hauses einen verzweifelten Menschen erkennt, der Zuwendung braucht.
Noch weniger würde die Person des einstigen Bediensteten, auf dessen Rückkehr die Frau gehofft hat, in das Figurenensemble von „Teorema“, mit dem Pecks Film  wenig überzeugend verglichen worden ist, passen. Joseph (Albert Moleon) braucht keine Zuwendung, und anders als Andrémise erhofft er sich auch nichts, sondern hilft und tut, was in dieser Situation das Naheliegendste sein müsste: Er gräbt nach dem Leichnam des Jungen. Aber er ist überfordert und es ist nicht seine ureigenste Aufgabe, hierfür das Leben zu riskieren. Er geht und  weiß in dem Moment den Mann und die Frau trotz ihrer vorerst schwierigen Situation in Zukunft wieder auf der sicheren Seite der Begüterten.
Weshalb passiert nun dieser Mord, mit dem der Mann sein Begehren abstraft und seiner unausgesprochenen Verachtung freien Lauf lässt? Andrémises Tod ist der Moment, auf den die Dramaturgie des Films zuläuft, der fatale Höhepunkt der zwischen Tragödie und Burleske changierenden Fabel. Indem der Mann die junge Frau tötet, sei es auch nur im Affekt, tötet er auch die gern geglaubte Illusion, in einer Naturkatastrophe solchen Ausmaßes seien doch alle gleich. Für Wochen, Monate oder länger aus ihren Villen geworfen, brauchen er und seine Frau nur auf die Bagger zu warten und die Pläne für einen Neuaufbau zu erstellen. Für alle wird die Katastrophe eines Tages Erinnerung sein, für die einen in ihren Villen, für die anderen, meist wenig schnell, in ihren Hütten am Rande der Großstadt, und für Alex beim nächsten Einsatz als Helfer irgendwo in der Welt.
Anstelle eines Mitleidsdramas, statt aber auch eines spannenden Thrillers, den der Stoff hergegeben hätte, schuf Raoul Peck eine Parodie, auch wenn dabei keine Heiterkeit aufkommen kann. Selten liegt auf den Gesichtern der Darsteller ein Lächeln, entspannen sich einmal die eingefrorenen Mienen. Alex Descas, ein gestandener Film- und Theaterschauspieler, dessen Eltern von den Antillen stammen, zeigt, dass der Mann alle Empfindungen unter Verschluss hält. Die große Brille in seinem Gesicht scheint wie geschaffen, den Blick der Augen zu verschleiern. Doch in der Miene arbeitet es heftig, ein Vulkan, der unterirdisch grollt, bis sich die aufgestaute Energie in der versuchten Vergewaltigung und dann im Mord Luft verschafft.
Ein Schuldgefühl lastet auf diesem Paar, auch wenn es der Mann von sich wegschiebt: das Gefühl, das Kind beim Erdbeben unzureichend geschützt zu haben. Allein die Frau scheint darunter wirklich zu leiden. Ayo, wie sich die 1980 in Deutschland geborene Soul-Folk-Sängerin, Tochter eines Nigerianers und einer rumänischen Roma, seit Beginn ihrer Karriere nennt, steht in diesem Film zum ersten Mal vor einer Kamera. Oft nur mit stummen Blicken und hastigen Gesten macht sie die Verzweiflung der Frau deutlich, am stärksten in jener Szene, wo sie den von ihr aus den Trümmern gezerrten Pulli an ihre Brust drückt - als wäre es das Kind selbst. Die Einladung zu Andrémises Party hingegen bedeutet für sie einen Moment Entspannung. Fast übergangslos überzieht ein Lächeln ihr Gesicht, Auf die Weise rettet Ayo (eigentlich Joy Olasunmibo Ogunmahin) der Figur jene Sympathie, die dem Mann versagt bleiben muss.
Zu der nachgerade Brechtschen Distanz, die den Regiestil prägt, gehört auch, dass die beiden Hauptpersonen keine Namen haben. Wir erfahren nichts über ihr Leben zuvor, nichts auch darüber, wie sie, außer abzuwarten, aus dieser extremen Notlage herauskommen wollen. „Mord in Pacot“ verwehrt Einfühlung und Mitleid in die von der Katastrophe betroffenen Personen, eine Haltung, die nach den vorangegangenen Filmen Pecks nicht überrascht. Das Auftreten der Darsteller, die Führung der Kamera, die Musik – immer ist Pecks Regie auf eine analytische Haltung des Zuschauers gerichtet. Aber gemeint ist mehr als die neuerliche Tragödie Haitis, aus der „Mord in Pacot“ seinen Stoff nimmt. Trotz fester Bodenhaftung zielt der Film auf Abstraktion, auf einen verborgenen Appell an die Zuschauer, der für sich selbst, über die implizite Erweiterung seiner Landeskunde hinaus, sein eigenes Fazit ziehen muss. Was in diesem Film passiert - muss es gesagt werden? - hat etwas mit den Weltverhältnissen zu tun, unter denen wir leben.
Die Musik von Alexei Aigui ist wie geschaffen, in diesem Nach- und Mitdenken Akzente zu setzen. Die Kamera von Pecks bewährtem Mitarbeiter Eric Guichard dagegen kommt den Gesichtern nahe und findet berührende Ausblicke in die unermüdlich wachsende Natur. Dazu scheint das Bibelzitat aus dem Ersten Buch Moses zu passen, das Raoul Peck an das Ende gesetzt hat: „Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag.“ Im Angesicht einer natur- und menschengemachten Katastrophe wirkt die Erinnerung an die Schöpfungslegende wie ein unerwarteter Trost.

Hintergrundinformationen

Einige Daten aus Haitis Geschichte

1492 Entdeckung durch Christoph Kolumbus, der die Insel „Hispañola“ (Kleinspanien) nennt. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist die indianische Bevölkerung ausgerottet und wird durch Sklaven aus Afrika ersetzt.
1697 Der Westteil der Insel gerät unter französische Herrschaft und prosperiert durch Zucker- und Kaffeeexport nach Europa.
1791 Beginn des Aufstands unter Francois-Dominique Toussaint Louverture, der 1802 wegen der Befreiung der Sklaven nach Frankreich deportiert wird und 1803 im Fort de Joux stirbt.
1804 Jean-Jacques Dessalines proklamiert die Unabhängigkeit von „Haiti“ („bergiges Land“) und ernennt sich selbst zum Kaiser.
1806 Dessalines wird ermordet, Beginn der Kämpfe zwischen der Minderheit der Mulatten und den mehrheitlichen Schwarzen.
1811 Im Norden entsteht eine schwarze Monarchie (Bau der Zitadelle „La Ferrière“), im Süden eine Mulattenrepublik.
1820 Beide Länder vereinigen sich.
1825 Frankreich verlangt von Haiti über 150 Millionen Goldfranc als Entschädigung für die Enteignung der französischen Plantagenbesitzer. (Die letzte Ratenzahlung erfolgt 1947.)
1842 Ein großes Erdbeben verwüstet weite Teile der Insel.
1849 Kaiser Faustin Soulonque proklamiert das Kaiserreich Haiti und führt einen grausamen Krieg gegen den abgespaltenen Osten.
1859 Das Land wird wieder Republik. Häufig wechselnde Präsidentschaften.
1915 Besetzung durch amerikanische Truppen, die bis 1934 im Land bleiben. Zwangsarbeit für große Teile der schwarzen Bevölkerung.
1957 Wahl von Francois Duvalier („Papa Doc“) zum Präsidenten, der die mulattischen Eliten zurückdrängt.
1971 Übergabe der Macht an den Sohn Jean-Claude Duvalier („Baby Doc“).
1984 Verhängung des Kriegsrechts. Duvalier geht ins französische Exil.
1990 Jean-Baptiste Aristide gewinnt die Präsidentenwahl als Kandidat des Volkes.
1991 Ein Armeeputsch treibt Aristide ins Exil. Handelsembargo durch die OAS.  Massenflucht ins Ausland.
1994 Nach einer Intervention der USA kehrt Aristide in sein Amt zurück.
1996 Wahl René Prevals zum Präsidenten.
2001 Wiederwahl Aristides.
2002 Beginn bürgerkriegsähnlicher Zustände im Land.
2004 Die USA erzwingen am 29.02. Aristides Ausreise.
2006 René Preval wird Präsident.
2010 Ein verheerendes Erdbeben zerstört Port-au-Prince und andere Landesteile. Die internationale Aufbauhilfe erweist sich als weitgehend ineffizient.
2011 Jean-Claude Duvalier und Jean-Baptiste Aristide kehren ins Land zurück.
Michel Martelly wird Präsident
2014 Im Juni Empfehlung des Auswärtigen Amtes: „Von nicht erforderlichen Reisen nach Haiti wird abgeraten.“
2015 Die nach der Neuwahl (Beteiligung: 18 Prozent) erforderliche Stichwahl wird auf unbestimmte Zeit vertagt. Michel Martelly regiert das Land per Dekret.
2016 Das Auswärtige Amt warnt noch immer bei Reisen nach Haiti: „Die gesamte Infrastruktur des Landes funktioniert nur ungenügend.“

Der Regisseur Raoul Peck:

Raoul Peck wird 1953 in Port-au-Prince, Haiti, geboren. Weil sein Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo annimmt, zieht die Familie für einige Jahre nach Kinshasa (damals Léopoldville). Als Kind erlebt Raoul Peck die damaligen politischen Ereignisse um die Unabhängigkeit. Er verlässt Zaire als Jugendlicher. Ausbildung und Studium in den USA, Frankreich und in Deutschland; in Berlin studiert er Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB). Er ist zudem ausgebildeter Wirtschaftsingenieur, Journalist und Fotograf.
1994/95 lehrt er an der Tisch School of the Arts an der Universität New York.
1996/97 ist er Kulturminister in Haiti. Seit 2010 steht er dem Leitungsgremium der Filmschule La Fémis in Paris vor.

Filmographie (Auswahl):

1982 De Cuba traigo un cantar
1984 Merry Christmas Deutschland
1988 Haitian Corner
1991 Lumumba - Tod des Propheten
1993 Der Mann auf dem Quai (L'Homme sur les Quais)
1994 Haiti, Warten auf die Rückkehr
1997 Chère Catherine
2000 Lumumba
2001 Profit, nichts als Profit! (Le Profit et rien d'autre)
2005 Sometimes in April
2006 L’Affaire Villemin
2009 Moloch Tropical
2013 Tödliche Hilfe (Assistance mortelle)
2015 Mord in Pacot (Meurtre à Pacot)

Vorschläge für das Filmgespräch und zur Nacharbeit mit dem Film

  • Der Film versammelt wenige, sehr unterschiedliche Figuren. Welche davon sind Ihnen sympathisch und warum, welche weniger?
  • Ist „Mord in Pacot“ ein spannender Film geworden? Mit welchen Momenten überrascht Sie die Handlung ganz besonders?
  • Wie verstehen Sie die Schlussszene, wo der Mann, die Frau und Alex aus der Entfernung den Abriss der Villa verfolgen? Kann es ein Zeichen eines hoffnungsvollen Neubeginns sein?
  • Wurde nach Ihrer Meinung die Figur des NGO-Mannes Alex überzeichnet oder ist sie eher gut getroffen? Recherchieren Sie welche Hilfsorganisationen in Haiti aktive sind. Welche kennen sie durch ihre Spendenaufrufe? Welchen davon schenken Sie Vertrauen?
  • Was ist Ihnen an „Mord in Pacot“, aus der Distanz betrachtet, wichtiger: die Stilisierung zur Parabel oder die vom Stoff ausgehende Erinnerung an die Erdbebenkatastrophe?
  • Aus welchen Motiven haben Sie zu dieser DVD gegriffen, beziehungsweise sich den Film angeschaut? Kennen Sie andere Arbeiten von Raoul Peck oder sind Sie darauf neugierig geworden? (s. Filmhinweise)
  • Was macht  Ihrer Vermutung den besonderen Standort dieses Regisseurs im Kontext des zeitgenössischen politischen Films aus? Und warum haben es seine Arbeiten hierzulande offenbar schwer, sich längere Zeit auf den Kinospielplänen zu halten?

Literaturhinweise

  • Walther L. Bernecker, Kleine Geschichte Haitis. Frankfurt a. M. 1996
  • Werner Pieper, Haiti besser verstehen – Vergangenheit, Gegenwart und Ausblicke nach dem Beben. Löhrbach 2010
  • Hans Christoph Buch, Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat. Berlin 2010
  • Philippe Soupault, Der Neger. (1927)  Heidelberg 1982
  • Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt. Frankfurt a. M. 1964
  • Jacques Roumain, Herr über den Tau. Hamburg 1950
  • Jacques Stéphen Alexis, Die Mulattin. Hamburg 1985
  • René Depestre, Hadriana in all meinen Träumen. Düsseldorf 1990

Filmhinweise:

Raoul Pecks Haiti-Filme sind bei EZEF als DVD erschienen:

  • Der Mann auf dem Quai (L'Homme sur les Quais)
    Raoul Peck, Haiti, F, CD, D 1993, Spielfilm, 105 Min.,OmU
  • Haitian Corner
    Raoul Peck, USA, D 1988, Spielfilm, 98 Min., OmU
  • Profit, nichts als Profit! (Le Profit et rien d'autre)
    Raoul Peck, Haiti, F, 2009, Dokumentarfilm, 57 Min., OmU
  • Tödliche Hilfe (Assistance Mortelle)
    Raoul Peck, Haiti, F, D, 2001, Dokumentarfilm, 100 Min., OmU
  • Mord in Pacot (Meurtre à Pacot)
    Raoul Peck, Haiti, F, N, 2014, Spielfilm, 130 Min., OmU

Autor: Hans-Jörg Rother
Redaktion: Bernd Wolpert
01/2016

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