Spielfilm von Frieder Schlaich
Deutschland 1999, 85 Minuten
Kurzinhalt
Am Morgen des 8. August 1989 wird der westafrikanische Asylbewerber Frederic Otomo bei einer Fahrausweisüberprüfung in einer Stuttgarter Straßenbahn festgehalten. Er gerät in Panik, reißt sich gewaltsam los und flieht. Als Otomo wenige Stunden später auf einer Brücke gestellt wird, ersticht er zwei Polizisten, verletzt drei weitere und wird von einem der Beamten erschossen.
Aus der Perspektive Otomos und aus der zweier junger Polizeibeamter erzählt der weitgehend fiktive Film, was sich in den Stunden vor der Bluttat ereignet haben könnte. Regisseur Frieder Schlaich zeigt die Tristesse und die Perspektivlosigkeit im Leben Otomos, die ihn zu seiner Wahnsinnstat treiben, ohne den Täter in die Rolle eines Opfers zu zwingen. Zugleich zeigt er den Alltag der beiden jungen Polizisten, deren tragischer und sinnloser Tod am Ende des Films steht. Die Titelrolle spielt Isaach de Bankolé (Night on Earth) als Otomo. Eva Mattes spielt eine Frau, die Otomo zur Flucht verhelfen will.
Ausführlichere Inhaltsangabe
Es ist 4 Uhr morgens. Ein schwarzer Mann hat in einem schlecht möblierten Zimmer ein paar Kerzen brennen. Der Mann macht Liegestützen. Er packt einen Koffer, legt auf die Kleidung ein paar abgegriffene Bücher. Er nimmt Ansichtskarten von der Wand. Er zerteilt eine Tomate, wischt das große Messer ab. Er wickelt es in eine Zeitung, steckt sie in die Innentasche seines Mantels. Dann schaut der Mann in den Spiegel. Er betrachtet lange sein ernstes Gesicht. Er verlässt das Zimmer. Er geht durch die Flure des Wohnheims. An der Pforte gibt er dem schläfrigen Pförtner seinen Koffer zur Aufbewahrung und ein Geschenk, das dieser erst annimmt, als der Schwarze ihm sagt, er habe heute Geburtstag. Es ist der Morgen des 8. August 1989 in Stuttgart. Der Afrikaner heißt Albert Ament, im Film Frederic Otomo.
Es ist 5 Uhr morgens. Im Bett liegen schlafend ein Mann und eine Frau. Der Wecker klingelt laut. Die Frau schaltet den Wecker ab. Die Frau versucht den Mann, der aufstehen will, noch im Bett zu halten. Die beiden lieben sich. Der Mann zieht seine Polizeiuniform an. Er schaut in den Spiegel, bindet sich seine Krawatte. Seine Frau sagt: „Kaum hast du das an, bist du im Dienst.“ Der Mann ist der Polizeibeamte Heinz.
Otomo macht sich auf den Weg zu einer Zeitarbeitsvermittlung. Dort warten vor verschlossenem Tor viele Männer. Der Polizist Heinz fährt mit seinem Kollegen und Freund Rolf Streife. Sie fahren an der „Jobbörse“ vorbei. Rolf trägt Heinz seinen neu gedichteten Rapsong vor. Als Heinz, der am Steuer des Streifenwagens sitzt, Otomo in der Schlange der wartenden Arbeitssuchenden sieht, schaut er so hin, dass Rolf ihn fragt: „Was ist mit dem?“ Heinz antwortet: „Nichts, schwarz ist er halt.“
Otomo bekommt keine Arbeit, weil er keine Arbeitsgenehmigung hat. Seine Papiere, die er dem Arbeitsvermittler vorlegt, sagen, dass er als Asylbewerber nur eine „Duldung“ habe. Als Asylbewerber kann er keine Arbeit kriegen. Es kann keine Ausnahme gemacht werden: Draußen stehen noch zwanzig andere, die eine Arbeit wollen“, sagt der Arbeitsvermittler und weist ihm die Tür.
Die Polizisten Heinz und Rolf werden über Polizeifunk zu einer „Ruhestörung“ in die Landhausstraße gerufen.
Otomo verlässt frustriert die "Jobbörse". Er fährt mit der Straßenbahn in die Stadt. Bei einer Fahrausweisüberprüfung kommt es zu einer Auseinandersetzung mit einem der beiden Staßenbahnkontrolleure über die Gültigkeit seines Fahrscheins. Der Prüfer hält den vermeintlichen Schwarzfahrer fest. Otomo, der um die Gültigkeit seines Fahrscheines weiß, reißt sich an der nächsten Haltestelle gewaltsam los und flieht aus der Straßenbahn. Dabei verliert er seine Tasche.
Die Straßenbahnkontrolleure erstatten Anzeige wegen Körperverletzung. Eine Fahndung nach dem Flüchtenden wird eingeleitet. Auf der Polizeiwache wird die Tasche Otomos untersucht. Man findet ein Säckchen Erde, einen Lebenslauf, einen Brief an den Bundespräsidenten, aus dem hervorgeht, dass er aus Liberia kommt und flüchten musste, dass er möglicherweise ein Deutscher ist, weil sein Vater in Kamerun in der deutschen Armee kämpfte. Man findet unter den Papieren ein Bewerbungsschreiben an Daimler Benz. Als daraufhin die Polizisten auf der Wache dumme Bemerkungen über Schwarze machen, verbittet sich Heinz, der Streifenführer, das.
In einem Großeinsatz sucht die Polizei Otomo. Auch Heinz und Rolf nehmen im Rahmen ihrer Streife die Suche nach dem Afrikaner auf.
Otomo versteckt sich in den Schrebergärten des Stuttgarter Ostens. Als er das Gefühl hat, die Suche nach ihm sei eingestellt, bewegt er sich freier, geht in eine Kirche, wo er kniend betet, besucht ein Restaurant, in dem er ein Frühstück bekommt, versucht auf einem Parkplatz, auf dem Fernlaster aus ganz Europa stehen, in einen Laster aus Holland zu steigen. Der Fahrer erwischt ihn dabei, bietet ihm aber an, ihn für 400 DM mitzunehmen. In zwei Stunden werde er nach Amsterdam fahren. Otomo aber hat nicht genügend Fluchtgeld. Er setzt sich an den Neckar, zerreißt seine Papiere und wirft sie ins Wasser. Plötzlich steht ein kleines Mädchen neben ihm und drückt ihm eine Blume in die Hand. Otomo will sie nicht. Dem Kind gelingt es, Otomo aus seiner Starrheit zu lösen. Es kommt die Großmutter des Mädchens hinzu. Otomo packt sie am Arm und fordert Geld von ihr. “Ich brauche Geld!“ Die Frau sagt: „Geld, Geld, Geld. Ich habe selber kein Geld. Woher soll ich das Geld nehmen?“ Otomo sagt: “Aus dem Automaten. Hast du keine Karte?“ Die Frau: „Ich habe keine Karte, ich habe kein Handy und auch keinen Führerschein.“ Die Großmutter des Kindes, Gisela, lässt sich von Otomo nicht einschüchtern. Sie fragt ihn nach seinem Namen, lädt ihn ein in die Wohnung ihrer Tochter, wo sie gerade auf Besuch ist, und führt ihm dort im Wohnzimmer afrikanische Tänze vor. Schließlich hebt sie Geld von einem Sparbuch ab, das sie aus einer Schublade der ärmlichen Wohnung holt.
Heinz und Rolf fahren ihre Streife und suchen Otomo. Heinz sagt, er sei sicher, den Schwarzen heute zu kriegen. Die Wege kreuzen sich. Der Streifenwagen der Polizisten steht vor dem Haus, in dem Otomo mit Gisela und deren Enkelkind ist.
Als Otomo mit dem Geld für seine Flucht auf den Parkplatz rennt, um den Laster nach Holland zu besteigen, sieht er diesen gerade abfahren. Die beiden Polizisten, die Otomo rennen sehen, verfolgen ihn. Auf der Gaisburger Brücke halten sie ihn fest.
Im Verlauf der Personenüberprüfung treffen vier weitere Polizisten ein. Otomo widersetzt sich dem Versuch der Beamten, ihn abzuführen. Mit dem Rücken zum Geländer stehend, greift er in die Innentasche seiner Jacke, zückt sein Bajonettmesser und sticht auf die Beamten ein. Er tötet Heinz und Rolf und verletzt drei weitere Polizisten, bevor er selbst von einer Kugel aus der Waffe eines der verletzten Beamten tödlich getroffen wird.
Mit Archivaufnahmen von der Trauerfeier für die getöteten Polizisten und mit stummen Bildern von der Beerdigung Otomos endet der Film.
Zur Entstehungsgeschichte des Films
Der Regisseur, Frieder Schlaich, schreibt: „Mein Ausgangspunkt für den Film waren Fragen wie: Was treibt einen Menschen zu solch einer Tat? Warum geht er bewaffnet auf die Straße? Wie kommt es dazu? Diese Fragen stellten sich mir unabhängig von der Tat, die natürlich in keiner Weise zu entschuldigen ist. Es ist mir schon aufgestoßen, dass in der gesamten Berichterstattung außer Spekulationen nichts über den Afrikaner zu erfahren war. So versuchte ich schon unmittelbar nach den Ereignissen, mehr über die Person des Täters herauszufinden. Was ich erfahren konnte war, dass es einen fast 20 Jahre währenden Fluchtweg Otomos gab und dass er sich schon viele Jahre „in Orbit“ befunden hatte. Mit diesem Ausdruck bezeichnen die Flüchtlingsorganisatoren die Situation von Flüchtlingen, die zwischen den behördlichen Zuständigkeiten verschiedener Länder hin und her geschoben werden. Einen Menschen, von dem man nicht weiß, wo er herkommt, kann man nirgendwo abschieben. Die Flüchtlinge wissen das natürlich und werfen im Flugzeug ihre Papiere weg oder gehen sogar so weit, ihre Papiere aufzuessen.
Die Polizei ist allen möglichen Fragen nachgegangen: Wo ist er gewesen? War er wirklich in der Armee? Aus den Antworten, die sie bekommen konnte, hat die Polizei dann seinen Lebenslauf rekonstruiert. Bei meinen Recherchen direkt nach der Tat bin ich bei zuständigen Stellen auf so viel Ablehnung gestoßen, dass ich das Projekt erst einmal auf die Seite gelegt habe. Mitte 1997 bin ich das Thema wieder angegangen, was dann auch wesentlich leichter war. Das spekulative Element war draußen und es war jetzt möglich zu recherchieren. So bin ich nach und nach mit meiner Recherche weitergekommen, wenn auch keine Partei ein wirkliches Interesse daran hatte, dass die Ereignisse wieder aufgewärmt wurden. Das Projekt machte eine Entwicklung durch vom Dokumentarfilm über einen essayistischen Film hin zum Spielfilm. An diesem Punkt wandte ich mich an Klaus Pohl. Unser Ansatz war es, zu erreichen, dass man um beide Seiten weint, dass der Zuschauer sich fragt: Warum musste es dazu kommen? Ziel war nicht, jemandem die Schuld für diese Situation zu geben, sondern den Weg hin zur Katastrophe aufzuzeigen. Über das Leben eines Asylsuchenden weiß man ja gar nichts und man bemüht sich auch nicht, darüber mehr zu erfahren...
Einige der Geschichten, die von den Polizisten erzählt werden, habe ich selbst miterlebt, während ich auf Streife bei der Polizei mitgefahren bin. Es sind einfach viele Banalitäten, mit denen die Beamten zu tun haben, und dann, auf einen Schlag, passiert eine halbe Stunde später etwas ganz Brutales. Durch die Recherchen habe ich vor der Arbeit der Polizei viel Respekt bekommen. Bei Nachbarschafts- und Familienangelegenheiten wird sofort die Polizei gerufen. Im normalen Streifendienst leisten Polizisten Sozialarbeiterdienste; auch das ist ein Aspekt der Polizeiarbeit. Für mich war die Aggression Otomos ein Produkt der ständigen Ungewissheit, ausgewiesen zu werden, und der Angst davor, die Duldung zu verlieren, die immer nur für wenige Monate erteilt wird und dann wieder neu beantragt werden muss. Die Leute werden zermürbt. Sie wissen nicht mehr, wo sie hin sollen, wie ihre Zukunft aussehen wird.“
Zur Struktur des Films
Schon in der ersten Szene schreibt der Film seiner Hauptfigur ein Schicksal ein: Otomo steht vor dem Spiegel, schaut in sein ernstes Gesicht, nimmt Abschied. Drei Stunden später wird er auf der Gaisburger Brücke umstellt sein, wird das Messer ziehen, zwei Polizisten erstechen, drei Polizisten verletzen und dann selber erschossen werden. Frieder Schlaich, der Stuttgarter Regisseur, hat das Geschehen des 8. August 1989, so gut es ging, recherchiert. Er hat alle Fakten zusammengetragen. Er suchte alles über den westafrikanischen Asylbewerber Albert Ament herauszufinden, um festzustellen, dass nicht viel über den Afrikaner auffindbar war. Er hat dann die Fakten wieder zur Seite geschoben und zusammen mit dem Dramatiker Klaus Pohl eine Fiktion über die letzten Stunden im Leben dieses Mannes entworfen. Ob das, was der Film zeigt, den Fakten entspricht oder nicht, das lässt sich so nicht sagen. Vielleicht war es so, vielleicht aber auch nicht, so hätte es sein können...
Otomo driftet durch die triste Stadt Stuttgart im Herbst und bleibt draußen. Er ist da und irgendwo doch nicht richtig vorhanden. Er ist isoliert. Wenn der Film diesen Mann beobachtet, legt sich eine zerstörende Distanz zwischen ihn und den Zuschauer, eine Fremdheit, die kaum erklärlich, aber umso mehr spürbar ist. Der grossartig von Isaach de Bankolé‚ gespielte Otomo geht der Tragödie entgegen. Die Katastrophe ist von Anfang an unausweichlich. Ein anderes Ende ist nicht möglich.
Auch der Polizist Heinz, gespielt von Hanno Friedrich, der die Suche nach Otomo zu seiner persönlichen Sache macht, fährt mit seinem Kollegen Rolf, gespielt von Barnaby Metschurat, zielstrebig auf die Katastrophe zu. Die Bewegungen der Polizisten wie die Bewegungen
Otomos werden im Film parallel erzählt. Das Ende der Geschichte ist programmiert. Schicksalhaft, unausweichlich werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt. Die Schauplätze des Geschehens sind von einer kaum zu überbietenden Tristheit, das Kolping-Wohnheim, die Arbeitsvermittlungsstelle im Stuttgarter Osten, die Schrebergärten, der Neckar bei Cannstatt, die Wohnung von Gisela. Dazu das miese Herbstwetter.
Die Enge, die Hektik, das Umstelltsein zeigt Schlaich in beklemmend intensiven Szenen. Nach der Tat hält der Film den Atem an, die Kamera schaut von ganz oben herab. Kein Ton ist mehr zu hören.
Isaach de Bankolé über die Person des Otomo
Ein Spielfilm steht und fällt mit seinen Hauptdarstellern. Isaach de Bankolé, der den Otomo spielt, sagt:
„Jeder trägt Gewalt in sich. Wir versuchen, sie unter Kontrolle zu halten. Darin besteht der Unterschied zu den Tieren. Aber wenn die Wut zu stark ist, sind wir nicht mehr unsere eigenen Herren. Wenn man diesen Punkt überschreitet, ist das ein Schritt ohne Wiederkehr.
Otomo ist die Geschichte eines Mannes, der jahrelang in einer Stadt lebte. Er hatte keine Freunde und war weit entfernt von der Welt, in der er aufwuchs. Er hatte keine Papiere. In dem Stress hat er den Verstand verloren. Auf der Brücke will er sein Leben nur noch gegen das der Polizisten aufrechnen. Wenn er einen tötet, bevor sie ihn töten, sind sie gleich. Wenn er zwei oder drei tötet, ist er in seinem Tod ein Sieger.
Die Geschichte zeigt die Einsamkeit der Leute in einer Großstadt. Bevor wir den Film drehten, ging ich in einige Asylunterkünfte. Vor allem in solche, in denen viele Leute aus Nigeria, Ghana und Kamerun untergebracht waren. Weiße Flüchtlinge aus Osteuropa wurden besser behandelt als schwarze Flüchtlinge. Die Flüchtlinge können legal in dem Land leben, aber sie können nicht arbeiten. Das ist lächerlich, denn wenn Sie mir erlauben, in Ihrem Haus zu wohnen und nicht wollen, dass ich arbeite, müssen Sie mich füttern.
Frieder Schlaich erinnert mich ein wenig an Jim Jarmusch. Beide proben intensiv vor den Aufnahmen. Als ich das Skript bekam, fühlte ich mich mit dem Charakter vertraut. Ich dachte, das sei für mich geschrieben.“
Die Chronologie der Ereignisse (erstellt nach dem Polizeiprotokoll)
8. August 1989 in Stuttgart:
06:14 Uhr: Bei der Funkleitzentrale der Polizei geht die Meldung über den Zwischenfall in der Straßenbahn ein. Ein Streifenwagen fährt zum Tatort, ohne jedoch einen Tatverdächtigen festzustellen.
06:50 Uhr: Die Fahndung im Bereich Großmarkt/Schlachthof wird eingestellt.
09:07 Uhr: Die Polizeibeamten Harald Poppe und Peter Quast sehen auf der Ulmer Straße einen Schwarzafrikaner in Richtung Gaisburger Brücke laufen und fragen bei der Funkleitzentrale an, ob die Fahndung noch bestehe.
09:12 Uhr: Die Beamten erklären Otomo in englischer Sprache, weshalb er angehalten wird, und fordern ihn auf, mit zur Wache zu kommen. Ein weiterer Streifenwagen und ein VW-Bus der Polizei treffen ein.
09:17:40 Uhr: Funkspruch aus dem VW-Bus, dass Otomo Widerstand leiste. Er sticht mit einem Bajonettmesser auf die ihn umringenden Beamten ein, wird von mehreren Pistolenschüssen verletzt und versucht, in Richtung Schleyer-Halle zu entkommen.
09:17:56 Uhr: Notruf an die Funkleitzentrale aus dem VW-Bus: „Dringend Notarzt zur Gaisburger Brücke, mehrere Kollegen durch Bauch... zwei Notärzte, der Neger ist wahrscheinlich tot.... erschossen.“
Otomo wird von zwei Schüssen des schwer verletzten Harald Popper von vorn und von drei Schüssen eines anderen lebensgefährlich verletzten Polizisten tödlich getroffen. Poppe und Quast sterben wenig später an den Folgen der erlittenen Messerstiche.
Pressestimmen von 1989
Stuttgarter Zeitung am 9. August 1989: „Das blutige Ende einer Straßenbahnschwarzfahrt. Eine sinnlose Tat fordert drei Menschenleben“
Bildzeitung am 9. August 1989: „Der Schlächter wollte morden“
Die Stuttgarter Zeitung überschreibt am 9. August 1989 ihren Kommentar: „Schreckensstarr“
Stuttgarter Zeitung am 10. August 1989: „War der Täter ein ausgebildeter US-Einzelkämpfer? Die Tragödie auf der Gaisburger Brücke gibt weitere Fragen auf“
Stuttgarter Zeitung am 10. August 1989: „Afrikaner bitten für die Morde um Verzeihung“. Brief eines Dunkelhäutigen an die Polizei. „Wir teilen Trauer und Schmerz der Angehörigen“
Bildzeitung am 11. August 1989: „Der Schlächter. Angst bei Behördenmitarbeitern. Wer ist der Nächste?“
Stuttgarter Zeitung am 12. August 1989: „Rommel: ‘Der Täter hätte auch Schwabe sein können‘. 10000 Menschen erweisen am Freitag den ermordeten Polizeibeamten Peter Quast und Harald Poppe die letzte Ehre. Eine Stadt und ihre Bürger leisten Trauerarbeit. Während vor der Kirche die Kränze auf einen Wagen geladen werden, entladen sich daneben die Emotionen. Jetzt räumt das Volk auf.
Jetzt rufen die Eiferer nach Vergeltung. Dieser eine Schuldige, der Mörder, der Schwarze, der Asylant reicht nicht aus. Jetzt werden viele zu Schuldigen erklärt, Ausländer und Asylanten. Der ‘Heuchler‘ Rommel und andere Politiker, selbst die Polizei wird beschimpft, weil sie ‘viel zu human und schlafmützig‘ ist.“
10 Jahre nach der Tat oder: Gewalt hat einen langen Schatten
Jürgen Hähnlein ist einer der Polizisten, die am 8. August 1989 auf der Gaisburger Brücke dabei waren. Hähnlein war damals 25 Jahre alt. Er hat das Blutbad schwer verletzt überlebt. In einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 6. August 1999 äußert er sich zu den damaligen Ereignissen:
F: Haben Sie noch irgend etwas gegen den Mann (Otomo) unternehmen können?
Hähnlein: Wissen Sie, ich möchte weder als Buhmann noch als Held dastehen.
F: Aber Sie waren doch derjenige, der letztlich dafür gesorgt hat, dass die Sache zu Ende ging und nicht noch weitere Polizisten sterben mussten.
Hähnlein: Das ist schon richtig. Aber ich weiß nicht, wie die Bevölkerung auf das Ganze reagiert. Für mich war das ein trauriger Job. Ein Job, der sehr ungünstig gelaufen ist und den ich niemandem wünsche.
F: Und die Schüsse?
Hähnlein: Für manche ist das vielleicht nicht zu verstehen, aber mir hat es über vieles hinweggeholfen. Über die Tage danach, als mir das Ganze bewusst wurde. Und bevor Sie fragen: Mit Selbstjustiz hatte das nichts zu tun. Es hat gut getan, dass ich derjenige war, der das Ding beendet hat, ohne dass noch mehr passiert ist. Dazu stehe ich.
F: Gehen Sie heute mit dunkelhäutigen Menschen anders um? Vorsichtiger, härter?
Hähnlein: Nein, überhaupt nicht. Ich mache niemandem einen Vorwurf, nur weil er ein Schwarzer ist. Das hätte auch jeder andere sein können. Ich stigmatisiere niemanden. Wenn ich kontrolliere, dann vorurteilsfrei.
F: Glauben Sie, dass Sie die Geschichte irgendwann loswerden und wollen Sie das?
Hähnlein: Nein. So wie ich das verarbeitet habe, ist das okay. Es gibt immer wieder Momente, wo man das Ganze erneut aufrollt. Sei es bei einem Fall, wo Kollegen verletzt werden, sei es bei einem Messereinsatz, wo man Parallelen zieht. Es ist aber nicht so, dass ich in Trübsal verfalle. Natürlich wird man mal traurig, aber ich denke, ich habe einen guten Mittelweg gefunden.
F: War das Ereignis auf der Brücke das Prägende in Ihrem Leben?
Hähnlein: Das wird es immer bleiben. Ich wünsche niemandem, dass er so etwas mitmachen muss. Ich habe zwei Kollegen sterben sehen. Das ist das Schlimmste, was ich erlebt habe. Ich glaube nicht, dass noch einmal etwas Vergleichbares kommt. Und ich habe gemerkt, wie verdammt kurz das Leben sein kann. Ich habe gedacht, hoppla, du hast noch einmal Glück gehabt. Aber wie ist es das nächste Mal? Man muss das Leben schlichtweg genießen, denn du weißt nicht, wie schnell es aus sein kann. Das ist das, was mich geprägt hat. Und es ist schlimm genug gewesen.
Didaktische Hinweise
Da der Film auf einer realen Situation beruht, diese aber nicht dokumentiert, sondern in fiktiven Szenen auflöst, wird die Diskussion sowohl darum kreisen, was am 8. August 1989 in Stuttgart geschehen ist, wie auch darum, ob die fiktiven Szenen eine Annäherung an das Geschehen schaffen. Also nicht: So war es, so war es nicht. Sondern: Vielleicht war es so. So hätte es sein können.
Es hat sich gezeigt, dass nach der Vorführung des Films eine tiefe Stille im Vorführraum herrscht. Es dauert schon einige Zeit, bis es zu ersten Äußerungen kommt. Der Film versetzt manche Zuschauer geradezu in einen Schockzustand. Man muss sich Zeit lassen. Das, was einzelne Zuschauer betroffen gemacht hat, muss seinen Platz finden.
Fragen, die an Hand des Filmes diskutiert werden können:
- Was erfährt man von Otomo?
- Warum läuft ein Schwarzer, wenn er sich auf die Suche nach Arbeit macht, mit einem 35 Zentimeter langen Messer herum?
- Wie kann es zu einer solchen Tat kommen? Was muss alles passieren, dass es zu einer solchen Tat kommt?
- Welche Elemente führten zur Tragödie? Wäre die Katastrophe vermeidbar gewesen? Wenn ja, an welchem Punkt?
- Ist schuldhaftes Verhalten nachweislich? Wenn ja, wo? Bei wem? - Kann man hier die Schuldfrage stellen? Wer ist der Täter? Wer ist das Opfer?
- Wieviel Gewalt, wieviel Aggression ist in den einzelnen Gestalten, in den Szenen?
- Regt der Film zu Gewalttaten an oder schreckt er im Gegenteil davon ab?
- Ein authentischer Fall wird fiktional behandelt. Was bedeutet das? Welche Absicht verfolgt der Regisseur? Gelingt die Mischung aus realen Ereignissen und fiktiven Szenen als Spielfilm?
- Kann man an der Gestalt des Otomo die Frage stellen: Wie leben Ausländer unter uns, insbesondere Asylsuchende? Was bedeutet es, wenn ein Asylsuchender „geduldet“ wird? Was bedeutet es für einen „Geduldeten“, wenn er keine Arbeit aufnehmen kann?
- Der Oberbürgermeister von Stuttgart, Dr. Manfred Rommel, sagte bei der Trauerfeier für die getöteten Polizisten: „Es hätte auch ein Schwabe sein können“. Darauf ging ein Aufschrei durch die geschockte Bevölkerung.
- Was bedeutet der Satz Rommels in der aufgeheizten Situation? Stimmt der Satz? Der Polizist Jürgen Hähnlein sagt in einem Interview 10 Jahre nach der Tat: „Das hätte auch jeder andere sein können.“ Ist das der gleiche Satz wie der von Rommel?
- Wie verarbeitet der Polizist Hähnlein das Geschehen?
- Frieder Schlaich, der Regisseur, wollte einen Film machen über Einsamkeit, Vorurteile und Freundschaft. Einen Film, der die Ausweglosigkeit eines Mannes zeigt, der eigentlich nicht habe töten wollen, der aber zum Täter wird. Gelingt das?
- Ist es möglich, um beide Seiten zu weinen (Frieder Schlaich), um die getöteten und die verletzten Polizisten, wie um den tötenden und getöteten Otomo?
Literaturhinweise
Hubert Heinhold, Recht für Flüchtlinge - Ein Leitfaden durch das Asyl- und Ausländerrecht für die Praxis, Januar 1996. Erhältlich über Pro Asyl
Pro Asyl, Postfach 160624, 60069 Frankfurt, Tel. 069/23 06 50 Dort sind auch die Adressen der landesweiten Flüchtlingsräte erhältlich.
Robin Schneider: Zum Beispiel Flüchtlinge, Lamuv Verlag, Göttingen 1993
Medienhinweise
18 MINUTEN ZIVILCOURAGE
R. Shirmahd, BRD 1991, ., Dokumentarfilm, 20 Min.
Verleih: EZEF
BLINDER PASSAGIER (De Verstekeling)
Ben van Lieshout, Niederlande 1957, Spielfilm, 90 Min., f.
Verleih: EZEF
DER BLINDE PASSAGIER
José Laplaine, Zaire 1996, Spielfilm, 15 Min, s/w, OmU
Verleih: EZEF
Autor: Georg Friedrich Pfäfflin
Februar 2000