Notre Etrangère
Spielfilm von Sarah Bouyain
Burkina Faso, Frankreich 2009, 82 Minuten, OmU
1. Inhalt kurz:
Unsere Fremde erzählt die Geschichte zweier Frauen zwischen zwei Kulturen, zwei Ländern, Frankreich und der Stadt Bobo Dioulasso in Burkina Faso. Aber es geht auch um Probleme, die in Mischehen entstehen, um Adoption und die Bedeutung von willkürlich zerrissenen Familienbanden. Mutter und Tochter, die in diesem Fall getrennt worden sind, versuchen, sich und die „Andere“ wieder zu finden.
Durch parallele Schnitt-Montage erfahren wir bald, wer wen und aus welchem Grund sucht.
2. Inhalt lang:
Paris, am frühen Morgen. Wir sehen die Silhouette einer Frau schon von weitem auf uns zukommen. Sie überquert eine kleine Brücke. Sie nimmt sich Zeit, sie geht langsam, setzt jeden Fuß vor den anderen.
Jeder Schritt wird gegangen. Der Fuß rutscht nicht in einem Schuh herum, sondern hält den festen Kontakt mit der Erde. Mariam ist geerdet. Sogar auf diese Entfernung sieht sie aber traurig aus, in ihren Gedanken verloren. Sie arbeitet als Putzfrau in einem dieser Gebäude, sammelt dies und das auf. Sie geht von einem Büro zum andern, richtet die Dinge, räumt auf und bemüht sich, tadellos zu arbeiten.
Viele Schnitte führen in diese Welt hinein, wenige aus ihr heraus. Sie wäscht sich mit Genuss nach der Arbeit, steckt ihre Haare tadellos zusammen, hilft ihrer Zimmerkollegin bei denselben täglichen Handreichungen. Sie klemmt sich ein Buch unter den Arm und klingelt an einem kleinen, hübsch hergerichteten Haus. Eine junge blonde Frau macht ihr auf und versucht, sie in einer afrikanischen Sprache zu begrüßen, was Gelächter auf beiden Seiten produziert.
Der Film richtet sich ziemlich schnell in diesem Hin und Her ein, denn die parallele Montage erlaubt uns, ganz leicht von einem Pariser Vorort und seinen anonymen Glas-und-Metallbauten, Mariams Arbeitsplatz, zu Amys Ort in Burkina Faso und in den Hof der Tante zu versetzen.
Amy, die Tochter, ist im Aufbruch: nach vielen Jahren in ihrer neuen Familie, der Vater lebte mit einer zweiten, weißen Frau zusammen, will sie ihre biologische Mutter wiederfinden. Keiner sagt ihr, warum sie ihre Mutter zurückgelassen hat. Keiner kennt ihre Adresse. Es wäre, als würde man ihr suggerieren, diese Frau zu vergessen, da sie anscheinend problemlos ihrer Tochter dieses Vergessen hat antun können. Aber genau so entschieden wie Mariam, ihre Mutter, allen Versuchen widersteht, sich in die ehemalige Gruppe aus Burkina Faso einzuordnen – („es ist schwer allein zu leben … „ sagen die Anderen, die es so gut mit ihr meinen) – genauso verhält sich die Tochter, wenn die meisten ihr raten, ihr neues Leben, Frankreich, ein Studium, ein Heim, eine Zukunft ausschließlich als Geschenk wahrzunehmen; die Liebe dieser neuen Familie, besonders die Zuneigung ihrer Stiefmutter zu akzeptieren und den schmerzlichen Rest, Afrika, eine Schwarze als Mutter, ein staubiger Hof und eine Lehmhütte einfach nur zu vergessen. Aber Amy hat sich entschieden. Sie fährt nach Afrika, das steht fest. Sie will zumindest herausfinden, warum ihre Mutter sie im Stich ließ, herausfinden, was sie jetzt macht und wovon sie lebt. Aber außer einem einzigen Satz : „Deine Mutter ist die Schande unserer Familie!“ erfährt sie nichts und will schon ihre Recherchen abbrechen, da sie auch auf der Polizeistation oder auf dem Einwohnermeldeamt nichts herausbekommt. Alle raten ihr davon ab, weiterzusuchen. Sie soll sich amüsieren. Freunde der Familie schenken ihr ein afrikanisches Kleid (Boubou). Als sie es anzieht und damit in eine Bar geht, behandelt man sie wie eine verkleidete Weiße. Zum ersten Mal entdeckt sie, was auch an ihrer Situation schmerzlich ist und sie total verletzlich macht. Sie ist ein Mischling. Die Familie hatte versucht, Amy vor all diesen Erfahrungen des ‘Fremdseins’ wenigstens ein bisschen zu beschützen. Sie sollte am Flughafen abgeholt werden, dann gleich zu ihrer Tante Acita fahren – und vor allen Dingen nicht allein den Wirren und den Versuchungen einer afrikanischen Metropole ausgesetzt werden. Amy bringt ihr Pflichtpensum hinter sich, ruft ihre Stiefmutter an und erzählt, was sie erlebt. Aber alles ist sehr schwierig: die Tante betrinkt sich dauernd. Bei ihr lebt eine junge Frau, die den Haushalt führt. Diese übersetzt auch für die beiden, denn Amy hat die Sprache ihrer Kindheit vergessen. Nur dadurch, dass Amy insistiert und ihre Mutter instinktiv verteidigt, erfährt sie nach und nach, dass ihre Mutter damals Arbeit gesucht hatte, sogar im Nachbarland, um ihre Tochter allein großziehen zu können. Als ihr Vater sie dann mit acht Jahren einfach abholen ließ – mit welchem Recht? fragt Amy nun – und Acita antwortet jetzt nur noch bruchstückhaft, was danach alles passierte: ihre Mutter sei „wie verrückt“ geworden, sie sei nicht mehr bei Verstand gewesen. Und Acita, selbst kinderlos, wollte das Kind auch behalten und hat gegen ihre Mutter intrigiert. Da Acita nun den Kummer und den Zorn Amys bemerkt, versucht sie dann doch noch, bei anderen Erkundigungen nach Mariam einzuholen. Aber diese afrikanischen ‘halbseidenen’ Frauen reagieren sehr heftig auf Acitas Fragen und Wünsche. Alles ist ja 20 Jahre her. Amy ist schon dabei aufzugeben. Doch dann erfährt sie etwas, was sie schon immer vermutet hat und seit Jahren wissen wollte: ihre Mutter lebt, sie ist in Paris; und ihr cleverer Stiefbruder hat sogar ihre Anschrift herausgefunden.
3. Würdigung und Kritik:
Das ist eine der Stärken des Films: für uns, die Zuschauer, so viele Möglichkeiten offen zu lassen, uns ausdenken zu lassen, was nun geschieht. Aber das Wichtige ist der Weg, den die beiden Frauen durchlaufen haben. Der Film baut sich ja auf den lange geheim gehaltenen Angaben auf und hält die Spannung bis zum Ende durch. So könnten wir fast diejenigen sein, die dabei helfen, die zerrissenen Familienbande wieder zu verknüpfen. Wir könnten uns beinahe daran beteiligen, wie das Auseinandergefallene wieder zusammenkommt. Auf jeden Fall können wir mit ihnen lachen, uns freuen und auf den glücklichen Ausgang der Geschichte hoffen.
Das Stilmittel der parallelen Montage für diese zwei Frauenschicksale, wo jede ihre ursprüngliche Identität verloren hat und nun verzweifelt nach einem neuen Platz sucht, der ihren Wünschen entspricht und ihre Ansprüche auf den Punkt bringt, ist natürlich ideal. Identitätssuche für Amy, Verlorensein für Mariam, aber es geht nicht nur um ein Hin und Her der beiden Figuren. Der Film zeigt die Vielschichtigkeit dieser Verschiebungen, die unsichtbar aber für immer, die beiden Frauen einander körperlich und geistig wieder näherbringen. Das Festhalten an Werten, an der Bedeutung der Mutter für diese Tochter, an den Bindungen, die nicht auseinanderdividiert werden können.
Dass diese systematische Montage, die parallel ihre Suche, ihre Verzweiflung, ihre Erfahrungen zeigt, aber auch das Festhalten an Ideen, an denen nicht gerüttelt werden darf, den vielen angesprochenen Themen nicht immer ganz gerecht wird, ist nicht weiter schlimm. Nein, ein afrikanisches Baby kann man nicht so einfach adoptieren, selbst wenn man zwei oder drei Worte der Sprache des Kindes beherrscht…
So ist es wohl eine der stärksten Szenen des Films, als Mariam, der man ihr Kind weggenommen hat, so unerwartet wie ein Vulkan ausbricht und dadurch Esther total verstört. Diese ahnt noch nicht einmal von diesem Drama.
Es fehlt im Film vielleicht an mehr Szenen, die davon berichten, wie die störrische alte Tante, die zu viel trinkt, Amy wieder beschützt, so wie sie sie schon einst beschützt hatte; womit für kurze Augenblicke eine alte, aber neu und wieder entstehende Vertrautheit erscheint. So gelingt es der Tante, dem Taxichauffeur das Geld wieder zu entlocken, das dieser Amy schon abgeknöpft hat.
Diese Komplizenschaft entsteht auch nach und nach zwischen den beiden Frauen, der Afrikanerin Mariam und der blonden weißen Esther, die Nathalie Richard wunderbar verhalten spielt. Selbst wenn sie sich schließlich in einer afrikanischen Sprache begrüßen, spazieren gehen und ihre Vertrautheit so weit geht, dass Esther Mariam dabei begleitet, wenn sie spontan zu tanzen beginnt. Schon bei diesen wenigen improvisiert getanzten Schritten entfaltet sich Mariams natürlicher Rhythmus, der das Graziöse ihrer Erscheinung und Bewegungen noch verstärkt. Es ist wunderbar, sie so gelöst zu sehen, sie in ihrer Anmut und Körpersprache zu entdecken.
Der Film ist zwar konstruiert, erscheint manchmal etwas ungeschickt und etwas zu insistierend, aber wir sollten die Entschiedenheit nicht vergessen, mit der er diese willkürlich auseinandergerissen Menschen wieder zueinander finden lässt; diese absolute Entschlossenheit, mit der die beiden zumindest versuchen, sich nicht aus den Augen zu verlieren und einander wiederzufinden.
Der Film hat dieses extrem seltene Feingefühl, ihnen dabei zur Seite zu stehen und ihre Probleme mit Abstand und Einfühlungsvermögen zu begleiten.
4. Zur Regisseurin (Biofilmographie):
Sarah Bouyain: Studium der Mathematik und Absolventin der Ecole Louis Lumière. 1997 übernimmt sie die Co-Régie des Making Off „Niararaye“ von „Kini et Adams“ von Idrissa Ouédraogo. Drei Jahre später dreht sie „Les Enfants du Blanc“, einen Dokumentarfilm zum ‘métissage colonial’. Ihre Novellensammlung „Métisse façon“ erscheint 2003.
„Notre Etrangère“ ist ihr erster langer Spielfilm.
5. Didaktische Hinweise mit Fragen zur Diskussion:
Der Film eignet sich für die schulische Bildungsarbeit (Sek. II), wie für die Erwachsenenbildung (insbesondere für Interkulturelle Fragestellungen, aber auch für Fragestellungen, bei denen Identitätsfragen eine Rolle spielen).
Der ganze Film kreist um existentielle Fragen. Es geht um Identität, Zugehörigkeit und Fremdheit; Probleme und Fragen, denen sich die Protagonistinnen in unterschiedlicher Form gegenübergestellt sehen, teils freiwillig, teils unfreiwillig: Woher komme ich? Wer bin ich? Zu welcher Familie gehöre ich – und warum? Zu welcher Kultur gehöre ich – und warum?
Folgende Fragestellungen können deshalb in einem an den Film anschließenden Gespräch helfen, diese verschiedenen Themen zu sortieren, zu gewichten, sie den verschiedenen Frauen zuzuordnen und damit auch die einzelnen Motivstränge der filmischen Erzählung genauer herauszuarbeiten:
- Amy geht es doch in Frankreich gut. Warum bricht sie dennoch nach Afrika auf, um mehr über ihre Herkunft zu erfahren?
- Wie beschreibt sie ihre ersten Erfahrungen in Bobo Dioulasso in dem Telefonat mit ihrer Familie in Frankreich?
- Was macht sie in Burkina Faso zu einer ‚Fremden‘? Was gibt ihr ein Gefühl für Zugehörigkeit?
- Was wusste sie vorher über ihre Mutter? Was erfährt sie nun von ihrer Tante? Wie verändert sie sich dadurch?
Wichtige Entscheidungen im Leben von Mariam wie auch von Amy sind bestimmten familiären, aber eben auch ökonomischen Konstellationen geschuldet:
- Warum musste Mariam ihre Tochter Amy bei deren Tante lassen? Was bedeutet dies für Mariam, was für die kinderlose Tante Acita?
- Wieso konnte der französische Vater Amy einfach mit nach Frankreich nehmen?
- Was bedeutet Kinderlosigkeit in Frankreich/Europa, was in Afrika, bzw. Burkina Faso?
- Was macht eine Familie sozial, was biologisch aus?
Mariam wird im Film durchgängig als Einzelgängerin gezeigt.
- Warum wehrt sie sich so vehement auch gegen die afrikanische Gemeinschaft in Paris?
- In welchen Situationen geht es Mariam gut?
- Warum reagiert sie derart schockiert, als die Französin Esther ihr von ihrem Plan erzählt, ein afrikanisches Kind zu adoptieren?
Charakterisieren Sie die unterschiedlichen Dimensionen in der Beziehung Mariams zu ihrer Arbeitgeberin/Sprachschülerin Esther.
- Welche Rolle spielt die Hautfarbe, bzw. kulturelle Zugehörigkeit/Zuschreibung?
- Wie reagieren die Burkina Bé auf Amy?
- Welche Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, dass Amy ein Mischling ist?
- Spielt die Frage der Hautfarbe eine Rolle bei der Adoption, die Esther, Mariams französische Sprachschülerin, plant? Was für andere Fragen spielen oder könnten hierbei eine Rolle spielen?
- Ist es angemessen, dass die ‚neue Familie‘, d.h. Amys Halbbruder Eliott und ihre Stiefmutter (Dominique Rémond) alles tun, damit Amy ihre biologische Mutter endlich kennenlernen kann?
- Warum endet der Film wohl ohne eine Begegnung von Mariam und Amy?
- Was kennzeichnet die Einsamkeit Mariams in Paris, was die der Tante in Bobo Dioulasso ?
6. Sarah Bouyain über ihren Film:
„Mariam ist einsam wegen all der ungelösten Probleme, die sie innerlich mit sich herumträgt. Der Film berührt auch die Fähigkeit eines jeden Menschen zur Integration oder Nicht-Integration. (…) Mariam hat sich entschieden in einem Niemandsland zu bleiben, vielleicht auch, um sich so zu bestrafen. Vielleicht fühlt sie sich schuldig wegen all dem, was mit ihrer Tochter geschehen ist. Dies alles macht es ihr unmöglich, in der Gegenwart zu leben, zu sein wo sie ist, in Frankreich. Sie weigert sich, etwas aus ihrem Leben zu machen, und die Schauspielerin, die sie verkörpert, bringt diese Dimension in die Rolle mit ein. (…)
Die Beziehung mit Esther sieht Mariam als eine Art des Entkommens, etwas anderes zu erleben. Es gibt ihr auch eine Möglichkeit zur Identifikation: plötzlich hat sie eine Beziehung mit einer weißen Person in Frankreich, jemand der anders ist als diejenigen, die sie sonst kennt. Esther hilft ihr zu verstehen, dass sie etwas besitzt: sie kann jemandem eine fremde Sprache beibringen. Und das öffnet eine Türe für sie, von der Mariam nie gedacht hätte, sie jemals zu öffnen. Aber dies bringt sie auch zurück zu der Frage nach ihrer Tochter.
(…) Wenn man Assita Ouedraogo sieht wie sie Mariam spielt, ist es zuerst ihre Einsamkeit, die man wahrnimmt, erst dann, dass es eine Afrikanerin ist. Vielleicht denkst du auch, ihre Einsamkeit rührt nicht daher, dass sie weit von zuhause weg ist, dass sei keine Papiere hat und als Putzfrau Büros reinigt. Vielleicht verstehst du, dass ihre Einsamkeit das Resultat einer schmerzhaften Familienerfahrung ist.“
Aus einem Interview, das Michel Amarger mit der Regisseurin Sarah Bouyain im April 2010 führte.
7. Literaturhinweise und Links:
www.sarahbouyain.fr (Homepage der Regisseurin)
Marie N’Diaye, Drei starke Frauen;
Der Roman wurde mit dem Internationalen Literaturpreis - Haus der Kulturen der Welt 2010 ausgezeichnet, Suhrkamp Verlag 2010
8. Filmhinweise:
Bintou
Ein Film von Fanta Régina Nacro, Burkina Faso 2001
27 Min., Kurzspielfilm, OmU
Bezug: EZEF
Ich und mein Weißer ("Moi et mon Blanc")
Ein Film von S. Pierre Yaméogo; Burkina Faso, Frankreich, Schweiz 2003
90 Min., Spielfilm, OmU
Bezug: EZEF
Yaaba
Ein Film von Idrissa Ouedraogo, Burkina Faso 1989
90 Min., Spielfilm, OmU
Bezug: EZEF
Autorin: Heike Hurst
Redaktion: Bernd Wolpert
November 2012