Kurzspielfilm von Kaizad Gustad
Indien 1995, 24 Minuten, OmU
Kurzbeschreibung
Der indische Kurzspielfilm schildert, wie ein indischer Schuhputzerjunge aus einer armen Familie eine Brieftasche mit viel Geld findet. Unverzüglich will er seinen wertvollen Fund abliefern und macht sich auf die Suche nach dem Eigentümer. Aber das erweist sich als schwierig. Der Junge stößt auf Misstrauen und Ablehnung. Er gerät sogar in Gefahr und muss vor Verfolgern fliehen. Schließlich resigniert er und behält die Brieftasche.
Zum Inhalt
Vor der Kulisse der indischen Großstadt Bombay sitzen am Straßenrand vier Jungen im Alter von etwa zehn Jahren. Sie sind Schuhputzer und warten auf Kundschaft. Ein großes neues Auto fährt vor, die Tür öffnet sich, und der Fahrer lässt sich seine weißen Schuhe putzen, ohne auszusteigen. Munna, einer der vier Jungen, erledigt das mit viel Geschick und verdient damit fünf Rupien. Als der Fahrer wieder abfährt, bemerkt Munna, dass der Mann seine Brieftasche verloren hat, direkt vor den Füßen des Jungen. Munna springt auf und will sie dem Mann wiedergeben, aber der braust mit seinem Auto davon. Munna inspiziert den Inhalt der Brieftasche: Kreditkarten, Führerschein - und Geld, viel Geld. Mit seinem Freund Shankar bespricht sich Munna, was er tun soll. Aber der sagt nur lakonisch: "Wer was findet, dem gehört's".
Munna macht sich dennoch auf den Weg, um den Besitzer der Brieftasche zu finden und ihm sein Eigentum zurückzubringen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Von der Haushälterin des Mannes wird er misstrauisch abgewiesen. Auf der Polizeiwache wird er des Diebstahls verdächtigt und flieht. Ein Mann auf der Straße bedroht ihn mit einem Messer und will die Hälfte der Beute. Wieder rennt Munna davon und "leiht" sich ein Fahrrad, um schneller zu entwischen. Im offenen Kofferraum eines Autos versteckt er sich. Aber darin liegt bereits eine Leiche, die zwei Männer beseitigen wollen. Wieder flieht Munna, diesmal nach Hause. Dort warten Vater und Mutter schon auf ihn und wollen wissen, wieviel er mit Schuhputzen verdient hat. Der Vater wird böse, als Munna nur die fünf Rupien vorweisen kann. Von der Brieftasche sagt er nichts.
Am nächsten Tag ist Munna wieder an seinem "Arbeitsplatz" bei seinen Freunden. Da kommt derselbe Mann mit den weißen Schuhen angefahren und lässt sich wieder bedienen. Er hat eine neue Brieftasche bei sich. Auf seine Frage, ob Munna seine verlorene Brieftasche gefunden habe, antwortet Munna: "Nein, tut mir leid".
Lernziele
Den Alltag arbeitender Kinder in Indien kennenlernen; die Folgen der Armut am Beispiel einer indischen Familie erkennen und beurteilen; den Begriff "Ehrlichkeit" unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutieren.
Zur Gestaltung
Der sozialkritische indische Kurzfilm ist eine Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm. Seine fiktive Handlung besteht aus den Erlebnissen und Begegnungen des Schuhputzerjungen Munna, der eine Brieftasche findet und sie trotz allen guten Willens nicht zurückgeben kann. Dank des jungen Hauptdarstellers erlebt der Zuschauer den Gewissenskonflikt des Jungen hautnah mit, läuft mit ihm durch die belebten Straßen, zittert mit ihm in bedrohlichen Situationen und durchlebt mit ihm einige Wechselbäder der Gefühle.
Der dokumentarische Charakter des Films ergibt sich aus der Realitätsnähe der Schauplätze und kleinen Randszenen, die ein authentisches Bild des quirligen Lebens in der indischen Großstadt Bombay entstehen lässt. In den Straßen und Gassen herrscht hektische Betriebsamkeit. Das Verkehrsgewühl aus Menschen, Autos und Motorrädern ist beängstigend und fast körperlich spürbar. Aber mit großer Sicherheit schlängelt sich der Schuhputzerjunge Munna überall durch. Er kennt sich aus in seinem Viertel, und selbst Mauern und Hausdächer sind für ihn keine Hindernisse. Unterwegs begegnet er tanzenden Frauen, Gläubigen beim Mittagsgebet, einem Leichenzug und einem dicken Mann, der sich auf offener Straße massieren lässt. Dies sind Alltagsszenen, die einen lebendigen Eindruck vom Leben in einer indischen Stadt und in südlicher Wärme vermitteln.
Zum sozialen Hintergrund
Indien ist ein Land mit großen Gegensätzen zwischen Armut und Reichtum. Ganz eindeutig gehört Munnas Familie aus Vater, Mutter und fünf Kindern zur ärmsten Bevölkerungsschicht des Landes. Sie ist darauf angewiesen, dass der älteste Sohn ein paar Rupien (in westlicher Währung Pfennigbeträge) hinzuverdient, damit die Familie leben kann. Aber es ist nicht nur der Geldmangel, der dem Jungen und seinen Eltern zu schaffen macht. Ihre Armut ist wie ein ihnen anhaftendes Stigma, das sie zu Rechtlosen und Außenseitern der Gesellschaft abstempelt. So kommt es, dass niemand dem Jungen seine Geschichte von der gefundenen Brieftasche und von seiner ehrlichen Absicht, sie zurückzugeben, glaubt. Jeder, selbst ein Polizist, ist nur auf den eigenen Vorteil bedacht und sucht Mittel und Wege, den Jungen mit Gewalt oder Verschlagenheit zu überlisten.
Der Protagonist der Gegenseite ist der Mann mit den weißen Schuhen, der im Auto vorfährt und sich im Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Macht bedenkenlos der Tätigkeit des Jungen bedient. Er gehört offensichtlich zur wohlhabenden Oberschicht, was auch durch den kurzen Blick des Jungen in die luxuriöse Wohnung des Mannes deutlich wird. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, sich bedienen zu lassen und sich dabei weder um die menschliche noch um die soziale Situation des Dienstleistenden zu kümmern. Er bezahlt, und damit ist für ihn die Angelegenheit erledigt. Er handelt nach dem Recht des Stärkeren über den Schwachen. Den Verlust seiner Brieftasche kann er leicht verschmerzen. Er hat wohl auch die Erfahrung gemacht, dass es sinnlos ist, nach ihrem Verbleib zu fahnden.
Der Junge und der Mann im Film machen deutlich, wie krass die sozialen Unterschiede in einem asiatischen Land wie Indien auch heute noch sind. Darauf will der indische Film hinweisen und versuchen, im eigenen Land eine Aufklärungsarbeit zu leisten, die eine Veränderung der bereits lange bestehenden sozialen Gegensätze einleiten könnte.
Selbstverständlich sind die im Film geschilderten Verhältnisse nicht unmittelbar auf ein westliches Land wie Deutschland übertragbar, in dem es eine gesetzlich geschützte Absicherung für Menschen gibt, die unverschuldet in Armut geraten sind, und in dem Kinder nicht arbeiten müssen, um zum Überleben ihrer Familie beizutragen. Der Film kann aber gerade mit diesem Vergleich bei Kindern ein Bewusstsein und ein Verständnis dafür wecken, wie ungleich Armut und Wohlstand an der Schwelle zum dritten Jahrtausend global immer noch verteilt sind und welche Folgen dieses Ungleichgewicht mit sich bringen kann.
Zur Verwendung
Der Film evoziert mit seiner Handlung die Frage, ob der Schuhputzerjunge Munna "richtig" gehandelt hat, indem er dem Mann seinen Fund bewusst verschwieg. Diese Frage kann ein Gespräch mit den zuschauenden Kindern (etwa ab acht Jahren) einleiten. Dabei wird es sich schnell herausstellen, dass es wohl zunächst auf den Standpunkt ankommt, von dem aus die Antwort gegeben wird. Der Junge Munna wollte aus eigenem Antrieb und gegen den Rat seines Freundes Shankar die Brieftasche zurückgeben. Er hat aber die Erfahrung machen müssen, dass ihm das aufgrund seiner sozialen Situation nicht möglich war, ja, dass er sich damit sogar in Gefahr gebracht hat. Munna hat außerdem erkannt, dass es dem Mann offenbar leicht gefallen ist, den Verlust zu ersetzen, dass es also keinen Armen getroffen hatte. Und drittens hat Munna sicherlich die Überlegung angestellt, wie sehr der Geldbetrag seiner Familie helfen würde. Munna kommt daher unter dem Zwang der Verhältnisse zu der problematischen Erkenntnis: "Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus". Von seinem Standpunkt aus und aus Mitleid mit ihm könnten daher die zuschauenden Kinder Verständnis für sein Handeln aufbringen. Aber dann taucht sicher sofort auch die Frage auf, ob es moralisch zu rechtfertigen ist, fremdes Eigentum zum eigenen Vorteil zu behalten, auch wenn, wie bei Munna, wichtige Gründe dafür sprechen.
Dazu könnte ein Vergleich angestellt werden: Wie würde sich ein deutsches Kind in seinem Land verhalten, wenn es eine gut gefüllte Brieftasche finden würde? Mit diesem Vergleich tut sich ein Dilemma auf, das auch Kinder erkennen und zu dem sie sich eine Meinung bilden können:
Die Schwierigkeit der Beurteilung eines Problems (hier des Wertbegriffs "Ehrlichkeit") beim Vorhandensein unterschiedlicher, scheinbar gleichrangiger Standpunkte. Kann es eine unterschiedliche Beurteilung eines Delikts geben, etwa wie beim Tatbestand des Mundraubs?
Welche Entscheidung ist im vorliegenden Fall also die richtige? Auch wenn es beim Gespräch über den Film schwierig ist, auf diese Frage eine eindeutige Antwort zu finden, so ist bereits die Erkenntnis des Problems an sich für Kinder ein wichtiges Lernergebnis.
Doch der dramatische Konflikt des indischen Schuhputzerjungen Munna weist über den geschilderten Einzelfall hinaus nachdrücklich auf die prekäre Situation der Armen in vielen Ländern der Erde hin. Auch diese Erkenntnis können Kinder aus dem Filmerlebnis gewinnen: Die Bekämpfung der weltweiten Armut bleibt eine vorrangige Aufgabe der in relativem Wohlstand lebenden Nationen.
Autor: Bernt Lindner