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Süßhunger

Dokumentarfilm von Christoph Corves
Deutschland 2002, 45 Minuten

Inhalt

Haitianische Wanderarbeiter auf einer Zuckerrohrplantage in der Dominikanischen Republik, Rübenbauern in Dithmarschen, das Spiel der Broker an der Warenterminbörse in New York, ein Affenforscher in Paris, Gen-Ingenieure in Texas, ein Familienbetrieb in Mexiko, ein Abfüller für Coca Cola – miteinander verbunden, wenn auch unsichtbar, sind all diese Menschen und Situationen durch den Zucker-Weltmarkt.

Derzeit wird der Weltmarkt für Süßungsmittel auf 70 Milliarden Dollar im Jahr geschätzt. Rund 20 Millionen Menschen auf der Welt verdienen mit Zucker ihren Lebensunterhalt, manche mehr recht als schlecht. Seit Jahrhunderten ist Zucker der Ursprung von globalisierter Landwirtschaft, die Wiege des Sklaven- und Kolonialhandels, der extremen Ausbeutung und des Entstehens von internationalen Konzernen, Plantagen und Großgrundbesitz. Gleichzeitig zu dem Zuckerrohranbau in den Tropen wurde aber auch die wesentlich ertragsärmere Zuckerrübe in Europa und Nordamerika entwickelt. Mit der napoleonischen Kontinentalsperre nahm die Geschichte der hochgepäppelten und geschützten Zuckerwirtschaft Europas ihren Lauf. Die Konkurrenz zwischen Zuckerrübe und Zuckerrohr beherrscht die entwicklungspolitische Debatte seit den 60er Jahren. Kontrolliert wird der Handel vom großen Geld.

Schon immer war Süßes ein besonderes Gut. Es machte die Konsumenten und die Volks-wirtschaften abhängig. Heute kämpfen die Bauern des Nordens um ihre Privilegien, die Zuckerrohrarbeiter des Südens um ihr Überleben, die internationalen Konzerne weltweit um ihre Profite, die Ernährungs- und Gesundheitsbewussten um ein Zurückdrängen der süßen Sucht. Die Frontlinien dieses Kampfes verlaufen global, und neue kommen hinzu: die Gentechnik. Das Gen eines supersüßen Eiweißes aus dem Herzen Afrikas bedroht die Beschäftigten in Nord und Süd, und auch die traditionellen Zuckerkonzerne. Eine amerikanische Firma hat das Patent und steht damit kurz vor der Marktreife. Dann wird die Süße genetisch in jede Pflanze eingebaut werden können, die uns als Nahrungsmittel dient. Aus mit dem weißen Stoff.

In Deutschland, der Dominikanischen Republik, Mexiko und den USA verfolgt und analysiert die Reportage „Süßhunger“ die Spuren des Zuckeranbaus und der Vermarktung, sowie der Zuckerersatzstoffe, und lässt Sieger und Verlierer des Zuckergeschäftes zu Wort kommen. Er stellt die sozialen Strukturen und Arbeitsverhältnisse dar und zeigt die Folgen der Monokultur auf. Die Entwicklung von Ersatzprodukten und der Trend zu Überschüssen lässt die Weltmarktpreise für Zucker kontinuierlich sinken. Während der Verfall der Weltmarktpreise in den Entwicklungsländern zu einer fortwährenden sozialen Verschlechterung der Lage führt, sehr eindrücklich dargestellt an den haitianischen Wanderarbeitern auf der Dominikanischen Republik und einer Kleinbauernfamilie in Mexiko, deren Sohn wegen des Zuckerpreisverfalls illegal in die USA abwandert, erfreuen sich die deutschen  Bauern eines einmaligen Schutzes durch die EU-Zuckermarktordnung, die sie von den Unbilden auf den Weltmärkten abschirmt.

Doch der Schutz hat auch seine Nachteile: Coca Cola, sowie die gesamte europäische Süßwarenindustrie muss den teureren Zucker verarbeiten, worüber sie gar nicht glücklich sind. Bauer August Schirmäker aber bestreitet, dass die Verbraucher von billigerem Weltmarktzucker profitieren würden. Außerdem hat der attraktive Zuckerpreis in Europa zu hohen Überschüssen geführt, die subventioniert exportiert werden. Die nicht wettbewerbsfähige europäische Zuckerrübe wurde künstlich zum Exportschlager hochsubventioniert: die EU ist zum zweitgrößten Zuckerexporteur der Welt geworden und macht die Zuckerrohrproduzenten in den armen Ländern kaputt. Die norddeutschen Zuckerbauern wettern auf ihren Versammlungen gegen die Welthandelsorganisation, die die EU dazu zwingen will, die Märkte frei zu geben. Dann sei es aus mit der Zuckerproduktion in Europa, so die interviewten Bauern, denn zum Weltmarktpreis könne hier keiner mithalten. Das hohe Schutzniveau wird damit gerechtfertigt, dass ja auch die gesetzlichen sozialen und ökologischen Standards in unserer Landwirtschaft so hoch sind. Der Film endet mit der Aussage von Bauer Schirmäker: Er könne nur hoffen, dass die Zuckermarktordnung der EU so erhalten bleibe.

Zur Machart des Film

Der Film „Süßhunger“ zeichnet ein recht anschauliches, wenig kommentiertes Bild von den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Zuckerproduzenten in Norddeutschland, in der Dominikanischen Republik und Mexiko.  Gleichzeitig werden immer wieder auch Personen interviewt, die an der Zuckerwirtschaft beteiligt sind: Händler, Weiterverarbeiter, Produktentwickler, Börsenspekulanten, Gewerkschaftler, Funktionäre. Der Film lässt einfache, überzeugen-de Menschen zu Worte kommen: Jeder spielt seine spezifische Rolle, sieht (nur) seinen Ausschnitt der Zusammenhänge, macht zwar interessensgeleitete Aussagen, aber keiner verfällt in plumpe Rechtfertigungen oder Angriffe. Durch die Gegenüberstellung der Aussagen der Beteiligten werden auch gewisse Bedürfnisse des Zuschauers nach Interpretation gestillt. Selbst verzichtet der Film auf eine klare Botschaft, auf eine geschlossene Gesamt-aussage. Es sind Bild- und Situationskollagen, in 10 Szenen aneinandergereiht. So hat man das beruhigende Gefühl, hier nicht belehrt zu werden. Aber der Film wirft auch viele Fragen auf, die er selbst nicht beantwortet. Doch der Film ist schon so dicht gepackt mit Informationen, dass ihm dies nicht vorzuwerfen ist.

Bestimmte Themen spricht der Film so gut wie nicht an: Z.B. die ökologischen Folgen des Zuckeranbaus, die Sinnhaftigkeit von Zuckerkonsum und seine Gesundheitsgefahren, die Anbaustrukturen in anderen Entwicklungsländern oder die speziellen Handelspräferenzen für Rohrzucker aus den ehemaligen englischen, französischen und portugiesischen Kolonien.

Kritik und Würdigung zur Bearbeitung des Themas

Die Stärke des Films ist auch gleichzeitig seine Schwäche: Es fehlt ihm an einer eindeutigen Mitteilung, außer vielleicht der, dass es vielschichtige Probleme mit der Globalisierung gibt, wie sehr die Menschen in ein Räderwerk geraten sind, das sie nicht zu durchschauen vermögen und das über sie bestimmt. Indirekt macht der Film dann doch Aussagen, die durch die Art der Darstellung vermittelt werden: Dadurch, dass der Film z.B. den bodenständigen Rübenbauer August Schiermäker so sehr zu Worte kommen lässt, wird der Eindruck erweckt, dass die Zuckermarktordnung der EU den bäuerlichen Familien zugutekommt, damit sozial gerechtfertigt ist, während auf der Dominikanischen Republik unhaltbare soziale Situationen gezeigt werden. Damit könnte der Eindruck entstehen, dass es darum ginge, vor allen Dingen unseren Rübenanbau zu erhalten. Der Liberalisierung des weltweiten Zuckermarkts wird ziemlich deutlich eine Abfuhr erteilt, und damit all den Entwicklungspolitikern widersprochen, die in dem Abbau des europäischen Agrarprotektionismus eine Schlüsselrolle für die Armutsbekämpfung zu erkennen glauben. Die Szene auf der karibischen Plantage endet mit der Aussage: „Welthandel kann nicht die Armutssituation dieser Menschen verbessern, sondern mehr Handel führt nur zu mehr Ausbeutung“. Die Funktionäre des europäischen Zuckermonopols werden sich über diese Aussage freuen. Ungelöst bleibt aber der Widerspruch des Films, dass die Zuckerplantagen der Dominikanischen Republik ausschließlich vom US-amerikanischen Markt abhängen; dennoch wird die US-Zuckerpolitik nicht weiter beschrieben, sondern nur auf die EU-Zuckerpolitik Bezug genommen.

Gleichzeitig gehen die mexikanischen Kleinbauern vor der amerikanischen subventionierten Konkurrenz in die Knie, seitdem die US-Softdrinkhersteller von Zucker auf Isoglukose umgestellt haben und die Zuckerpreise verfallen sind. Würde das Schicksal des kleinen mexikanischen Bauern dem des kleinen deutschen Bauern gegenübergestellt werden, wäre die Frage nicht mehr so eindeutig zu  beantworten, ob der europäische Zuckerprotektionismus so er-haltenswürdig ist, wenn beide am gleichen Markt konkurrieren, der eine subventioniert, der andere dem Weltmarkt schutzlos ausgeliefert. Zu ganz anderen Ergebnissen wäre man auch gekommen, wenn man statt in der Karibik die Zuckererzeugung in Mosambik oder Kenia geschildert hätte. Noch wieder anders würde die Aussage ausfallen, würde man die Zuckerproduzenten eines Landes interviewen, die auf Grund alter kolonialer Beziehungen präferierten Zugang zu dem EU-Zuckermarkt erhalten und ihren Zucker zu dem gleichen hohen Preis in Europa absetzen können, wie die europäischen Bauern, wenn auch nur für begrenzte Mengen. Ihre Privilegien würden auch mit der Liberalisierung des EU-Zuckermarktes unter-gehen. So stehen sich die Befürworter und Gegner der Weltmarktliberalisierung gegenüber.

Doch der Streit um die Handelsliberalisierung erscheint überholt, angesichts der Bedrohung aller Zuckerproduzenten durch die Gentechnik:  Kommt das neue Produkt Brazzein auf den Markt, sind die konventionellen Erzeuger sowohl in Europa als auch in den Entwicklungsländern gleichermaßen bedroht. 20 Millionen wirtschaftliche Existenzen in der weltweiten Zuckerindustrie können ausgelöscht werden. Von dieser globalen technologischen Entwicklung ahnt noch keiner der Betroffenen etwas. Natürlich entstehen auch neue Märkte und Beschäftigungsmöglichkeiten mit Brazzein, doch in keinem Verhältnis zu den Beschäftigungsverlusten. Außerdem lässt die Erfindung nicht hoffen, dass diesmal auch die kleinen Leute wie Bauer Schirmäker in Deutschland oder Bauer Sabrino Figueroa aus Mexiko profitieren werden. Es ist ein unbestreitbarer Verdienst dieses Films, diese entwicklungs-politische Gefahr der Bio- und Gentechnik für die Entwicklungsländer herauszustellen, die sog. „Erosion der Weltrohstoffmärkte“, denn sonst wird nur zu oft zu einseitig auf die Chancen der Gentechnik für die Hungerbekämpfung abgestellt.

Zum Einsatz des Filmes

Der Film eignet sich gut für einen Einstieg in den Projektunterricht, der außerschulischen Bildung wie z.B. für eine Diskussion in einer Abendveranstaltung der Jugend- oder Erwachsenenbildung, wenn es um die Globalisierung geht. Zu diesem Thema vermittelt der Film einen guten Eindruck der Komplexität und Verflechtung. Doch es ist kein ausgesprochener Lehrfilm zum Thema Zucker oder Agrarpolitik.

Der Film erzeugt einen hohen Betroffenheitsgrad. Einige Szenen auf der Plantage sind so krass, dass kein Zuschauer unberührt bleiben wird. Mit der wiederkehrenden Symbolik von Coca Cola spricht er auch besonders Jugendliche an, die sich mit diesem Getränk identifizieren können. Stellenweise verfällt er aber auch in Längen, z.B. in der Szene über die Börse. Wichtig ist aber auf jeden Fall, dass nach dem Film Raum ist, um über ihn zu reden. Sonst verpufft der Eindruck schnell auf Grund des vielleicht zunächst diffus erscheinenden Gesamtbildes des Films.

Der Film ist gleichermaßen geeignet für ein Fachpublikum wie für Menschen, die in der Thematik noch nicht drinstecken, denn er ist ein Gesprächsanreißer. Der Film lässt den unbedarften Zuschauer etwas ratlos zurück über die detaillierten Zusammenhänge, wie z.B.: Wie funktioniert die EU-Zuckermarktordnung? Wer profitiert wirklich von ihr? Wie funktioniert die Weltmarktbörse? Was hat es mit der Liberalisierung und der WTO auf sich? Wie sehen die Verhältnisse in anderen zuckerproduzierenden Ländern aus? Sind die Verhältnisse in allen Entwicklungsländern so korrupt und hoffnungslos? Wie geht man als Betreuer mit solchen Informationsbedürfnissen nach dem Film um? Dazu sollte man sich Gedanken machen. Keiner sollte sich durch ein oberflächlich angelesenes Wissen zu einigen dieser Fragen dazu verleiten lassen, sich dann plötzlich in die Rolle des Fachmanns zu bringen, der man nicht ist. Es ist auch gefährlich, wenn sich ein Teilnehmer zum Fachmann aufschwingt, denn dann kann die Diskussion leicht zu einem reinen Frage-Antwort-Diskurs abrutschen, was schade wäre, weil dadurch die Betroffenheit verloren geht. Besser ist es, die Spannung der vielen unbeantworteten Fragen eine Weile durchzuhalten, etwa indem man die Sachfragen einfach notiert, damit sie nicht vergessen werden, aber ansonsten von der Debatte über die Grundsatzfragen von den globalisierten Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht abschweift. Vielleicht kann man am Schluss dann darüber entscheiden, wie man mit der Beantwortung der Sachfragen weiter verfahren will.

Will man mit dem Film eine Diskussion bestehen, bei der auch deutsche Rübenbauer oder Vertreter der Zuckerindustrie anwesend sind, wird man es schwer haben, nachdenkliche Töne über die Angebrachtheit des Zuckerrübenanbaus und der EU-Zuckermarktordnung anzuschlagen. Der Film sanktioniert indirekt eine höchst umstrittene Zuckerpolitik hier in Europa.  Er beraubt den Kritikern sowohl der agrarpolitischen als auch der entwicklungspolitischen Argumente gegen die EU-Zuckerpolitik, denn er liefert z.B. keine kritischen Stimmen gegen die Konzentrationsprozesse bei den EU-Zuckerquoten, keine ökologische Beurteilung über die Zuckerrübe, keine Kritik an der Ungleichgewichtigkeit der Förderung des Zuckers im Vergleich zu anderen Kulturen, keine Relativierung des Ausmaßes des europäischen Protektionismus, kein Vergleich zu der Zuckerpolitik anderer Industriestaaten. Da die Zuckerinteressen sehr gut organisiert sind und offensiv auftreten, kann damit gerechnet werden, dass Leute von ihnen zu öffentlich angekündigten Veranstaltungen auftauchen.

Materialien

  • CMA Centrale Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft www.cma.de
  • Wirtschaftliche Vereinigung Zucker/Verein der Zuckerindustrie, www.zuckerverbaende.de
  • Südzucker AG,  www.südzucker.de
  • Internationale Vereinigung Europäischer Rübenbauer, www.cibe-europe.eu

Autor: Dr. Rudolf Buntzel-Cano
Juli 2003

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