Teaser
Taxi - Eine Nacht in Buenos Aires

Taxi – un encuentro
Spielfilm von Gabriela David
Argentinien 2001, 93 Minuten, OmU


Inhalt

Eine Straßenecke irgendwo in Buenos Aires an einem ganz normalen Tag; es wird Mittag, Kinder laufen lachend nach Hause, es wird Abend und schließlich Nacht. Eine junge Frau kommt aus der Seitenstraße und hält ein Taxi an. So beginnt die Geschichte des Films, die Straßenecke wird zum Treffpunkt der zwei Hauptfiguren; von Laura, die schwerverletzt in das Auto taumelt und Esteban, der sie retten wird. Aber das wird sich den ZuschauerInnen erst im Lauf der Geschichte mittels eines kunstvollen filmischen Geflechts erschließen. Esteban beginnt, einem unbekannten Gegenüber die Ereignisse dieser Nacht zu erzählen, holt weit aus und wird immer wieder in der Zeit springen, so wie der Film zwischen dem Erzähler und seinen erzählten Bildern. Im nächtlichen Buenos Aires, das von kalten Neonleuchten erhellt wird, hält Esteban, wohl nicht zum ersten Mal, ein Taxi an und setzt dem Fahrer die Pistole an den Hals. Der Eigentümer versucht noch, sein Mitleid zu erregen, aber Esteban kümmert das nicht: „Ich weiß, drei Kinder, einen Hund und eine kranke Großmutter. Wir haben alle das gleiche Problem“ – und wirft ihn aus dem Auto. Später wird er eine Entschuldigung für sein Handeln versuchen: „Man muss lernen zu überleben, sich ans Leben anzupassen“. Auch wenn es riskant ist, nimmt er die Gelegenheit wahr, ein paar Stunden den Taxifahrer zu spielen, bis er das Auto zu den Hehlern bringt, um so ein paar Pesos zu verdienen. Während seiner Taxifahrten kann er für kurze Zeit der Einsamkeit und Trostlosigkeit entfliehen und sich mit den Fahrgästen unterhalten; auch wenn diese eher abweisend reagieren und mit ihren eigenen Dingen beschäftigt sind: „Es gefällt mir, mir vorzustellen, was andere Leute tun und erwarten.“ Hier ist Esteban in seinem Element und kann vorübergehend auch für sich schönere Wirklichkeiten, eine neue Identität ausdenken.

Im Morgengrauen bringt er das Auto schließlich zu einer Werkstatt, die von drei Brüdern, seinen Cousins, betrieben wird. Es kommt zu einer Streiterei, in deren Verlauf Esteban einem der Hehler ins Bein schießt und abhaut: „So kam es, dass ich die Sache mit den Taxis aufgab.“ Aber hier greift der Erzähler schon vor und führt dann sein Gegenüber wieder in die Nacht der Ereignisse zurück. Im Taxi hört Esteban drei Schüsse und an einer der nächsten Straßenecken steigt die junge Frau, die verstört scheint und weint, in das Taxi ein. Als sie ohnmächtig wird, sieht Esteban, dass sie blutet. Ausgehend von seiner eigenen Wirklichkeit folgert er daraus, dass sie bei einem Einbruch vom Hausbesitzer überrascht und angeschossen wurde. In Panik beschließt er, das Auto stehen und damit das Mädchen seinem Schicksal zu überlassen. Doch dann siegt sein Impuls zu helfen, vielleicht auch sein schlechtes Gewissen, über den Wunsch, sich nicht noch zusätzliche Scherereien aufzuladen, und er bringt Laura zu sich nach Hause. Mit seinem alkoholkranken Vater, der im Rollstuhl sitzt und sich trotz all der Misere einen sarkastischen Humor bewahrt hat, wohnt er an der Stadtgrenze von Buenos Aires in einer ärmlichen Gegend zwischen zwei Schnellstraßen des Panamerican Highway. Weil er die vermeintliche Diebin nicht der Polizei ausliefern will, operiert er selbst die Kugel aus Lauras Schulter. Als sie jedoch immer schwächer wird, legt er sie auf einen einsamen Bürgersteig und ruft einen Notarzt. „Das ist alles, was in jener Nacht passiert ist“ schließt er seinen Bericht für sein Gegenüber. Es ist Laura, die wir erst jetzt als seinen Gesprächspartner erkennen. Es war eine Begegnung, die Esteban nicht vergessen kann; nachts erträumt er sich eine glückliche Familie mit seinem Vater und Laura. Er sucht sie im Krankenhaus, kommt aber zu spät. Aus der Zeitung erfährt er von der Familientragödie, bei der Lauras Vater ihre Mutter getötet, die Tochter verletzt und sich schließlich selbst umgebracht hat. Hier wechselt die Erzählperspektive des Films von Esteban zu Laura. Ihre Großmutter holt sie aus dem Krankenhaus und bringt sie zu sich nach Hause irgendwo auf dem Land. Liebevoll versucht sie, Laura über die Verzweiflung hinwegzuhelfen und sie wieder ins Leben zurückzubegleiten. Laura jedoch möchte wissen, was in jener Nacht passiert ist und ihren Lebensretter ausfindig machen. Ihr einziger Anhaltspunkt bei der Suche ist die Erinnerung an den Blick aus dem Fenster seines Hauses auf den Panamerican Highway. Schließlich findet sie Esteban und nach anfänglichem Zögern kommen sie in ein Gespräch, das für beide eine große Erleichterung von einer schweren seelischen Last zu sein scheint. Beichte, Geständnis und Entschuldigung gleichzeitig: „Wenn ich kein Dieb wäre, hätte ich dir besser helfen können; wir hätten Freunde werden können“, meint Esteban und Laura erzählt die traumatische Vorgeschichte ihrer Begegnung: Bittere Streitereien der Eltern, in deren Mittelpunkt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten standen, trieben den verzweifelten Vater zu seiner Tat. Als sich die beiden beim Einsteigen in den Bus, der Laura zur Großmutter zurückbringt, verabschieden, bemerken sie plötzlich, dass sie ihre Vornamen noch gar nicht kennen. Laura schreibt Esteban ihre Adresse auf einen Zettel; vielleicht werden sie sich irgendwann wiedersehen.

Zum Film

Der Spielfilm, weder Krimi, noch Liebesgeschichte oder Sozialdrama, lässt sich keinem Genre zuordnen. Die Regisseurin zeichnet vielmehr das einfühlsame Portrait zweier Menschen und ihrer Begegnung vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die sich in einer tiefgehenden wirtschaftlichen und sozialen Krise befindet. Die neoliberale Politik der argentinischen Regierungen in den 90er Jahren, der Ausverkauf nationaler Ressourcen, dazu Korruption und fatale Einflussnahme internationaler Finanzorganisationen haben Argentinien in den Zusammenbruch getrieben. In dem vor Jahrzehnten noch sechstreichsten Staat der Erde gilt inzwischen mehr als die Hälfte der Bevölkerung als arm. Die Folgen der Globalisierung haben auch die ehemals breite Mittelschicht in diesen rasanten ökonomischen Abstieg, den die meisten lange gar nicht für möglich gehalten hätten, mit hineingezogen. So ist zum Beispiel Taxifahren, wie in anderen Ländern Lateinamerikas, auch für viele Leute mit höherer Ausbildung die einzige Überlebenschance geworden. Eine weitere Folge ist das Ansteigen der Kriminalität. Aus dem klassischen Einwanderungsland Argentinien wollen viele Menschen inzwischen nur noch weg. Die Perspektivlosigkeit für breite Bevölkerungskreise fördert ein Klima sozialer Kälte, das in alle Bereiche der Gesellschaft dringt. Gabriela David lässt diese strukturellen Gewaltverhältnisse in einer Familientragödie eskalieren. Sie hatte von einem ähnlichen Fall, der allerdings noch schlechter endete als in der Fiktion, in einer kurzen Zeitungsnotiz gelesen. Eine Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit drängte sich einfach auf, wie sie in einem Interview über die Entstehungsgeschichte des Film sagt. Dabei konzipierte und drehte sie den Film noch vor dem Dezember 2001, als die Parität zwischen Dollar und Peso aufgehoben wurde, die Menschen einen großen Teil ihrer Ersparnisse über Nacht verloren. Die Regierung, die auf die Massenproteste und Plünderungen nur mit Repression reagiert hatte, der zahlreiche Menschen zum Opfer fielen, musste zurücktreten. Seitdem prägt die „Piquetero – Erwerbslosenbewegung“ mit Straßensperren, Demonstrationen und besetzten Betrieben, aber auch mit neuen Formen von Stadtteilorganisation und Überlebensstrategien die Straßen und das öffentliche Bewusstsein in Argentinien. Den Politikern werden kaum noch Lösungen zugetraut.

„Die Atmosphäre im nächtlichen Buenos Aires ist feindselig und latent gewalttätig. Der Film handelt von der ungewöhnlichen Beziehung zweier Menschen am Rande der Gesellschaft, wo man hin- und hergerissen wird von dem Instinkt zu überleben, sich aus allem rauszuhalten, und dem inneren Wunsch zu helfen. Es ist auch eine Art Allegorie auf die Unterschiede zwischen den Argentiniern und die Indifferenz, mit der sie einander begegnen.“ (Gabriela David).

Der Film ist keine plakative oder moralische Anklage. Die gesellschaftliche Misere ist nur angedeutet und beeinflusst doch das Verhalten der Personen. Wie genau der Film die Stimmung im heutigen Argentinien spiegelt, wird am Erfolg von Filmvorstellungen in Armenvierteln von Buenos Aires deutlich, bei denen Gabriela David mit über 5.000 Zuschauern diskutierte. „Taxi – un encuentro“ erzählt filmsprachlich kunstvoll und poetisch über Verzweiflung, Sehnsüchte und Träume von einem anderen Leben. Die einfache Geschichte ist nicht linear erzählt, sondern im Rhythmus von Erinnerungsstücken mit Auslassungen, Rückblenden und der Verschachtelung von Erzählsträngen aus mehreren Perspektiven. Da ist einmal die neutrale und anonyme Beobachtung der Eingangssequenz, die darauf verweist, dass das Ereignis überall und an einem beliebigen Tag passieren könnte. Dann erzählt der Film aus der Sicht von Esteban, dem falschen Taxifahrer, schließlich übernimmt Laura (die Diebin, für die Esteban sie hält) die Initiative des Blicks und es ist ihre Weise des Erlebens, die im Mittelpunkt steht. Die Perspektive der „Wahrheit“ der Begegnung wird erst gegen Schluss durch das Zusammenspiel der Erzählungen deutlich, aber nicht mehr visualisiert. Durch überraschende Wendungen erschließen sich erst im Verlauf des Films Beziehungen, Motive, Gedanken und Gefühle der Protagonisten. Esteban ist in all seiner Widersprüchlichkeit gezeichnet; er erscheint nicht nur als skrupelloser Ganove, die Situation macht ihn hart und verletzlich zugleich. So zittern seine Finger nach dem Überfall auf den Taxifahrer, dem er seine Lebensgrundlage genommen hat. Er kümmert sich liebevoll um seinen Vater, als dieser wieder einmal über der Schnapsflasche zusammengesunken ist. Schließlich wächst er über sich und sein bisheriges Verhalten hinaus, als er sich um Laura kümmert.

Der neue unabhängige Film in Argentinien

„Taxi – un encuentro“ ist der erste lange Spielfilm der 1960 geborenen Regisseurin, die seit vielen Jahren unter anderem als Animationszeichnerin im Filmbereich arbeitet und unterrichtet. Ihr Film ist ein besonders gelungenes Beispiel für die Bewegung des neuen unabhängigen Films in Argentinien, der seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre einen beeindruckenden Aufschwung erlebt. Einige Jahre zuvor war die staatliche Filmförderung abgeschafft worden, was zum fast völligen Erliegen der argentinischen Filmproduktion geführt hatte. Eine junge Generation von FilmemacherInnen, die meist an den zahlreichen neugegründeten Filmschulen studiert hatten, debütierten etwa seit 1997/1998 mit Filmen, die aus der finanziellen Misere heraus nach ästhetischen Lösungen und neuen Erzählformen suchten. Mit einfachsten Mitteln, häufig auf 16mm, drehen sie bilderstarke Filme an Originalschauplätzen und mit weitgehend unbekannten Schauspielern. Sie erzählen lebendige, glaubwürdige Geschichten, die von der gesellschaftlichen Gegenwart geprägt sind. Die soziale, wirtschaftliche und politische Krise des Landes wurde für die FilmemacherInnen eher zu einer Herausforderung als zu einer Einschränkung. Sie inspirierte sie, die sozialen Spannungen und Konflikte, Apathie und kleine Hoffnungen authentisch und häufig in einer semidokumentarischen Form zu erzählen. Alltagsprobleme und Perspektivlosigkeit junger Leute zeigt Sandra Gugliotta in „Un dia de suerte – Ein Glückstag“ und Lucrecia Martel setzt den inneren Verfall der bürgerlichen Mittelschicht in „La ciénaga – Der Sumpf“ filmisch um. Ein neues Filmförderungsgesetz, das immer vom finanziellen Einbruch bedroht ist, ermöglichte die Verbreitung der Filme im In- und Ausland. So gelang es, das argentinische Publikum wieder für das eigene Kino zu begeistern. Die Filme feiern große Erfolge auf internationalen Festivals und einige von ihnen kamen auch in Deutschland in die Kinos, so wie „Un dia de suerte – Ein Glückstag“, „La Cie-naga – Der Sumpf“ und auch „Tan de repente – Aus heiterem Himmel“ von Diego Lermann, ein roadmovie, in dem eine Wäscheverkäuferin aus ihrem trostlosen Alltag gerissen wird.

Didaktische Hinweise

„Taxi – eine Nacht in Buenos Aires“ eignet sich gut für den Einsatz in der Erwachsenenbildung, aber auch für höhere Jahrgangstufen im Schulbereich bei Filmabenden oder Projekten. Insbesondere wenn der Film nicht in Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Argentinien oder Lateinamerika gezeigt wird, sollte die Diskussionsleitung Hintergrundinformationen zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Argentinien für das nachfolgende Gespräch zur Hand haben. Der Film eröffnet einen vielfältigen Zugang zu einem lateinamerikanischen Land und eignet sich besonders gut zum Gespräch über „universelle“ Fragen, die auch den eigenen Lebensbereich berühren. Wie reagieren Menschen auf einen einschneidenden Verlust, wie gehen sie mit der Trauer und der Verzweiflung um, welches soziale und private Netz ist nötig, um diese Erfahrungen zu verarbeiten? Die unkonventionelle Erzählweise regt auch zum Nachdenken über eigene Sehgewohnheiten an. Wie gestaltet zum Beispiel Gabriela David die Annäherung zwischen Laura und Esteban jenseits konventioneller Liebesgeschichten? Wie erzählt sie von der Sehnsucht nach Nähe und Liebe, muss es immer ein klassisches Happy End geben?

Drei Themenkreise bieten sich besonders zum Gespräch an

  • Auswirkungen der Globalisierung und Verschuldung auf persönliche Lebensgeschichten.

Wie erzählt Gabriela David von der Prägung der subjektiven Wahrnehmung und der individuellen Verhaltensweisen durch die soziale Wirklichkeit? Wozu führt das Wegfallen sozialer Netze? Wie wirken sich Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Misere auf die Familienzusammenhänge aus? Won welchem kleinen Glück träumt Esteban, während er die Fahrgäste durch das nächtliche Buenos Aires kutschiert? Während das persönliche Umfeld von Esteban durch den Vater und dessen Sarkasmus und Flucht in den Alkohol gekennzeichnet ist, erfahren wir wenig über den familiären Hintergrund von Laura. Sie skizziert, wie die Eltern sich gestritten haben und dass sie sich gefragt habe, ob sie keine Last für die Eltern sei und ob sie nicht besser arbeiten solle, als zu studieren. Diese „Leerstelle“ im Film, in dem vieles angedeutet, aber nicht ausgeführt oder erklärt wird, lassen sich in einem Gespräch gedanklich füllen. Hier bietet sich an, in der Gruppe Szenarien zu entwickeln, welche (sozialen und wirtschaftlichen) Gründe zu dem fatalen Ausgang der familiären Konfliktsituation geführt haben könnten.

  • Überleben in der Anonymität und Einsamkeit in einer Großstadt.

Sind die Erfahrungen in Ländern des Südens mit denen in Deutschland vergleichbar? Inwiefern gleichen sich Lebensformen und Problemstellungen an? Besonders die Figur des Esteban eignet sich für eine nähere Beschäftigung. Die Diskussion seiner möglichen Motive, Gedanken und Gefühle spricht das persönliche Empfinden der Zuschauer an und dient als Grundlage zur Diskussion sozialer Fragestellungen, die den eigenen Lebenskontext mit einbeziehen.

  • Wie verhalten sich Menschen in einer Grenzsituation?

Was hätten Sie an Stelle von Esteban gemacht? Wegschauen oder eingreifen? Welchen Platz kann oder sollte Mitmenschlichkeit haben? Was heißt, Verantwortung zu übernehmen? An welche Situationen erinnern Sie sich, in denen Zivilcourage gefragt war?

Literaturhinweise

  • Maria Mies, Globalisierung von unten. Der Kampf gegen die wirtschaftliche Ungleichheit, Rotbuch-Verlag, Hamburg 2001
  • Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung (Neuaufl.), zu Klampen Verlag, Lüneburg 2001
  • Atlas der Globalisierung, Hrsg.: Le Monde diplomatique/taz Verlag, Berlin 2003
  • Zerfurchtes Land. Neue Erzählungen aus Argentinien. Burkhard Pohl, Patricio Pron (Hrsg.), Göttingen 2002

Internet-/Adressen

  • Informationsstelle Lateinamerika e.V.www.ila-web.de
  • Lateinamerika Nachrichten, www.fdcl.org/

Medien

  • INSEL DER BLUMEN (Ilha das flores)
    Jorge Furtado. Brasilien 1989, 12 Min., experimenteller Dokumentarfilm OmU
    Katalog EZEF
  • MAROA
    Solveig Hoogesteijn. Venezuela 2005, 93 Min. Spielfilm OmU

Autorin: Gudula Meinzolt
Juni 2003

Teaser